Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 422/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_422/2007

Urteil vom 4. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
Pensionskasse Basel-Stadt, 4005 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

V.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Advokatin Natalie Matiaska, Anton von
Blarerweg 2, 4147 Aesch BL.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom
9. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1946 geborene V.________ bezieht seit März 1989 von der Pensionskasse
Basel-Stadt Erwerbsersatzleistungen bei Invalidität. Die Invalidenversicherung
und die obligatorische Unfallversicherung richten ebenfalls Invalidenrenten
aus. Mit Schreiben vom 23. Mai 2005 setzte die Pensionskasse V.________ davon
in Kenntnis, dass bis Ende April 2005 infolge einer mit Wirkung ab April 1998
fälschlicherweise unterlassenen Anpassung der Überversicherungsberechnung ein
Betrag von insgesamt Fr. 26'401.15 zuviel ausbezahlt worden sei. Die
Vorsorgeeinrichtung verband diese Mitteilung mit einer Rückforderung in
entsprechender Höhe und wies darauf hin, gegen Entscheide der Kassenverwaltung
sei die Einsprache an die Verwaltungskommission oder die Klage beim kantonalen
Versicherungsgericht möglich. V.________ erhob Einsprache, wobei er beantragte,
die Rückerstattung sei ihm "infolge Vorliegens eines grossen Härtefalls" zu
erlassen; ausserdem liess er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung im
Einspracheverfahren ersuchen. Der Verwaltungsrat der Pensionskasse Basel-Stadt
stellte am 24. August 2006 fest, eine Neuberechnung der Überentschädigung führe
zu einer reduzierten Rückforderung von nunmehr Fr. 17'424.30. Dieser Betrag
werde dem an sich ungerechtfertigt Bereicherten vollständig erlassen, weil die
Überentschädigung ausschliesslich wegen Nachlässigkeit der Pensionskasse
entstanden sei; zudem erweise sich die Einkommenssituation des - beim Bezug der
zu hohen Rentenbetreffnisse gutgläubigen - Einsprechers als "nicht
komfortabel". Hingegen lehnte das Verwaltungsorgan der Vorsorgeeinrichtung das
Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ab. Da es sich beim kasseninternen
Einspracheverfahren weder um ein Verwaltungs- noch um ein gerichtliches
Verfahren handle, bestehe keine Rechtsgrundlage, um eine Parteientschädigung
bzw. die unentgeltliche Verbeiständung zuzuerkennen. Selbst bei sinngemässer
Anwendung der entsprechenden Regelungen sei das Gesuch mangels Notwendigkeit
einer Rechtsverbeiständung abzulehnen.

B.
V.________ liess beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt gegen
die Pensionskasse Basel-Stadt Klage erheben mit dem Rechtsbegehren, diese sei
zu verpflichten, ihm für das Einspracheverfahren die unentgeltliche
Verbeiständung zu gewähren und seiner Rechtsvertreterin eine Entschädigung im
Betrag von Fr. 1531.80 zu bezahlen. Das kantonale Gericht hiess die Klage im
Grundsatz gut und wies die Beklagte an zu prüfen, ob die Voraussetzung der
Mittellosigkeit im Einspracheverfahren erfüllt war, und gegebenenfalls die Höhe
der Parteientschädigung für dasselbe festzusetzen (Entscheid vom 9. Mai 2007).

C.
Die Pensionskasse Basel-Stadt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Eventuell
sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.

V.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Der Versicherte beantragt überdies die unentgeltliche Rechtspflege. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss § 61 Abs. 1 des Gesetzes vom 20. März 1980 betreffend die
Pensionskasse Basel-Stadt (Pensionskassengesetz; PKG) kann jede Person, die ein
eigenes schützenswertes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines
Entscheides der Direktion hat, innert 30 Tagen seit Eröffnung beim
Verwaltungsrat begründet Einsprache erheben. Die Erhebung einer Einsprache oder
das Vorliegen eines Verwaltungsratsentscheides ist nicht Voraussetzung für die
Zulässigkeit einer Klageerhebung beim kantonalen Gericht im Sinne von Art. 73
BVG (vgl. § 61 Abs. 2 Satz 2). Der Beschwerdegegner machte von dieser
Einsprachemöglichkeit Gebrauch. Gestützt auf eine Überprüfung der Sach- und
Rechtslage verzichtete die Vorsorgeeinrichtung mit Blick auf das Zustandekommen
der Überentschädigung und auf die finanziellen Verhältnisse des Versicherten
auf die Rückforderung.

Streitig ist, ob für die vorangegangene pensionskasseninterne
Auseinandersetzung über den Rückerstattungsanspruch des Vorsorgeträgers und
über den Erlass der Rückforderung (Art. 35a Abs. 1 BVG; § 27 Abs. 2 PKG; vgl.
SZS 2007 S. 155 [B 4/04]) ein Anspruch auf Parteientschädigung besteht.

1.2 Das kantonale Gericht hielt zunächst fest, die Frage, ob im kasseninternen
Einspracheverfahren Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung bestehe, sei im
Pensionskassengesetz ungeregelt geblieben. Es finde indes, wie in jedem
staatlichen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, der Grundsatz des Art. 29 Abs.
3 BV Anwendung, wonach jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel
verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, wenn ihr Rechtsbegehren
nicht aussichtslos erscheint. Nach der gleichen Bestimmung bestehe Anspruch auf
unentgeltlichen Rechtsbeistand, soweit es zur Wahrung der Rechte notwendig sei.
Dieser Anspruch gelte nach der bundesgerichtlichen Praxis (BGE 125 V 32) für
jedes Verfahren vor staatlichen Organen, in das die betroffene Person
einbezogen werde oder dessen sie zur Wahrung ihrer Rechte bedürfe, und hänge
namentlich nicht davon ab, ob das Verfahren streitige Elemente umfasse. Da es
sich beim Einspracheverfahren der Pensionskasse Basel-Stadt zweifellos um ein
Verfahren vor einem staatlichen Organ im Sinne von Art. 29 BV handle, sei
dessen Abs. 3 als verfassungsrechtliche Minimalgarantie direkt anwendbar. Da
der Kläger im kasseninternen Einspracheverfahren mit seinem Begehren
durchgedrungen sei, frage sich, ob Anspruch auf Parteientschädigung bestehe.
Dies sei - in sinngemässer Übertragung der Rechtsprechung zu Art. 52 Abs. 3
ATSG (BGE 130 V 570) - von Bundesrechts wegen ausnahmsweise auch in einem
Verfahren zu bejahen, für welches das einschlägige Verfahrensrecht keinen
derartigen Anspruch vorsehe, sofern der Einsprecher im Falle des Unterliegens
die unentgeltliche Verbeiständung beanspruchen könnte. Ein Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung bestünde im hypothetischen Fall des Unterliegens,
wenn die Voraussetzungen der Mittellosigkeit, der fehlenden Aussichtslosigkeit
der Einsprache und der Erforderlichkeit einer anwaltlichen Vertretung erfüllt
seien. Die beiden letzten Erfordernisse seien gegeben. Ob der Kläger
parteientschädigungsberechtigt sei, bleibe somit davon abhängig, ob auch die
Voraussetzung der Mittellosigkeit im Einspracheverfahren erfüllt sei. Dies habe
die Pensionskasse noch abzuklären und anschliessend gegebenenfalls eine solche
Entschädigung zuzusprechen.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin macht zu Recht geltend, dass Vorsorgeeinrichtungen
keine hoheitliche Gewalt zukommt. Sie haben daher nicht die Befugnis, über die
Rechte und Pflichten von Versicherten Verfügungen zu erlassen, die formell
rechtskräftig werden könnten. Ihre Entscheide im Einzelfall sind lediglich
"Stellungnahmen". Decken sich die Rechtsauffassungen der Vorsorgebeteiligten
nicht, muss die interessierte Partei, hier die Vorsorgeeinrichtung zur
Durchsetzung ihres Rückforderungsanspruchs, beim kantonalen Vorsorgegericht
Klage im Sinne von Art. 73 Abs. 1 BVG einreichen. Das gilt für privatrechtliche
und öffentlichrechtliche Vorsorgeeinrichtungen gleichermassen (vgl. BGE 115 V
224; Jürg Brühwiler, Obligatorische berufliche Vorsorge, in: Meyer [Hrsg.],
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band XIV, Soziale Sicherheit, 2. Aufl.,
Basel/Genf/München 2007, S. 2027 Rz. 68 und S. 2071 f. Rz. 190).

2.2 Die mit Schreiben der Pensionskasse angemeldete Rückforderung entspricht
somit nicht einem der Rechtskraft zugänglichen und danach vollstreckbaren
Titel. Gemäss dem diesbezüglich abschliessenden Bundesrecht (Art. 73 BVG)
beginnt ein verpflichtendes, rechtsdurchsetzendes Verfahren erst mit der Klage.
Mangels verfügungsmässiger Grundlage ist ein Einspracheentscheid im Sinne von §
61 PKG nicht rechtsgestaltend, sondern lediglich eine - wenn auch formalisierte
und partizipativ angelegte - Form der internen Willensbildung der
Vorsorgeeinrichtung. Hätte die Pensionskasse auf ihrer Forderung gegenüber dem
Beschwerdegegner beharren wollen, so wäre dieses Ansinnen nur auf dem Weg der
Klage durchsetzbar gewesen.

Die Rechtsprechung, wonach Art. 29 Abs. 3 BV (früher: Art. 4 aBV) auch für das
nichtstreitige Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen (Bedürftigkeit,
fehlende Aussichtslosigkeit, gebotene Rechtsverbeiständung) einen Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung begründet (BGE 125 V 32), der gegebenenfalls auf
die Ausrichtung einer Parteientschädigung ausgedehnt wird (BGE 130 V 570),
bezieht sich auf Verfahren, mit denen hoheitliche, rechtsgestaltende
Verwaltungsakte vorbereitet werden. Nicht zum Tragen kommt diese Praxis dagegen
mit Bezug auf das hier zur Diskussion stehende Verfahren nach § 61 PKG, das
kein Einspracheverfahren im Rechtssinne ist und dessen Ergebnis, wie erwähnt,
allein die interne Willensbildung und -festlegung der Vorsorgeeinrichtung
bestimmt. Da jenes also keine verbindliche Aussenwirkung zeitigt, wird es vom
Geltungsbereich des Art. 29 Abs. 3 BV nicht erfasst. Eine andere - etwa
kantonalrechtliche - Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung der
Beschwerdeführerin zur Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung steht nicht
zur Verfügung und wird auch nicht geltend gemacht. Der strittige Anspruch des
Beschwerdegegners scheitert somit bereits im Grundsatz, so dass es auf die
einzelnen Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung respektive
Parteientschädigung nicht ankommt.

2.3 Für die Beantwortung der hier zu beurteilenden Rechtsfrage ist schliesslich
nicht erheblich, ob die Beschwerdeführerin und deren internes Verfahren als
"staatlich" zu gelten haben. Die Anwendbarkeit der Garantien gemäss Art. 29
Abs. 3 BV scheitert, wie dargelegt, an der bundesrechtlichen Ausgestaltung der
Verfolgung und Durchsetzung von Rechtspositionen im Bereich der beruflichen
Vorsorge als Klageverfahren im Sinne der ursprünglichen
Verwaltungsgerichtsbarkeit (BGE 128 V 41 E. 3a S. 48). Dies gilt auch für die
Versicherten der Pensionskasse Basel-Stadt - eine selbständige
öffentlich-rechtliche Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 1 Abs. 1 PKG)
-, da sie gleich behandelt werden müssen wie diejenigen, welche einer
privatrechtlichen Vorsorgeeinrichtung angeschlossen sind (vgl. BGE 9C_654/2007
vom 28. Januar 2008, E. 1.2 mit Hinweis).

3.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66
Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen, die
Aussichtslosigkeit in dieser Verfahrenslage nicht zu prüfen ist und die
anwaltliche Vertretung geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E.
4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG
aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 9. Mai 2007 aufgehoben. Die Klage
des Beschwerdegegners wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokatin Matiaska,
Aesch, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Die Akten werden dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt
zugestellt, damit es über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das
kantonale Verfahren entscheide.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub