Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 404/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_404/2007

Urteil vom 11. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Roger Lippuner, St.
Gallerstrasse 46, 9470 Buchs.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 24. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
A.________ (geboren 1947) war von April 1981 bis 31. Dezember 2001 als
Bauarbeiter bei der Firma X.________ AG, Bauunternehmung, in Y.________ tätig.
Am 21. Januar 2002 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 21. Oktober 2002 verneinte die IV-Stelle
des Kantons St. Gallen nach Ermittlung eines Invaliditätsgrades von 8.91 % den
Anspruch auf eine Invalidenrente. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 29. April 2003
teilweise gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zur
Abklärung der Arbeitsfähigkeit in einer leidensadaptierten Tätigkeit und zur
Neuverfügung an die IV-Stelle zurück. Nach Einholen eines orthopädischen
Gutachtens vom 5. November 2003 sprach die IV-Stelle mit Verfügung vom 4. Juni
2004 dem Versicherten bei einem Invaliditätsgrad von 41 % ab 1. Dezember 2001
unter Annahme eines Härtefalles eine halbe Invalidenrente zu. Nachdem der
Versicherte hiegegen Einsprache erhoben hatte, widerrief die IV-Stelle die
Rentenverfügung und veranlasste eine weitere medizinische und eine
psychiatrische Abklärung des Versicherten. Gestützt auf die neuen Gutachten vom
12. und 31. Oktober 2005 hielt sie mit Verfügung vom 6. Dezember 2005 bei einem
Invaliditätsgrad von 42 % an der bisherigen Invalidenrente fest und wies das
Gesuch um deren Erhöhung ab. Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom
11. Mai 2006, wobei sie bei der Invaliditätsbemessung einen Abzug von 10 %
vornahm.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 24. Mai 2007 teilweise gut und sprach dem Versicherten
ab 1. Dezember 2001 eine halbe Invalidenrente zu. Im Unterschied zur IV-Stelle
erhöhte es den Leidensabzug auf 25 %, was zu einem Invaliditätsgrad von
gerundet 51 % führte.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides
seien ihre Verfügung vom 6. Dezember 2005 und ihr Einspracheentscheid vom 11.
Mai 2006 zu bestätigen.
A.________ lässt die Abweisung der Beschwerde und die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 130 III 136
E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (Seiler/von
Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007 N 24 zu Art.
97).

1.3 Die Festlegung der Höhe des Abzugs vom Tabellenlohn beschlägt eine typische
Ermessensfrage und ist im Lichte der Kognitionsbefugnis (Art. 95 und Art. 105
Abs. 2 BGG) letztinstanzlicher Korrektur nur dort zugänglich, wo das kantonale
Gericht das Rechtsermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung (BGE 132 V 393 E.
2.2 und 3.3 S. 396 und 399). Ermessensmissbrauch im Besonderen ist gegeben,
wenn die Behörde zwar im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt, sich
aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden
Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot von
Willkür und von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und Glauben
sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 130 III 611 E. 1.2
S. 615 und 123 V 150 E. 2 S. 152, je mit Hinweisen).

2.
2.1 Streitig ist die Höhe des Invaliditätsgrades ab 1. Dezember 2001. Der
Beschwerdegegner erzielte 2000 einen Jahresverdienst von Fr. 53'365.-. Weil
dieser Lohn tiefer als der Tabellenlohn gemäss der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung 2000 des Bundesamtes für Statistik (LSE; vgl. BGE 129 V
472 E. 4.2.1 S. 475 ff.) und damit "leicht unterdurchschnittlich" war, stellte
die IV-Stelle für das Valideneinkommen auf die Durchschnittslöhne der LSE ab
und setzte es für eine 41.8 Stundenwoche auf Fr. 55'640.- fest. Dieses Vorgehen
erachtete das kantonale Gericht als richtig, da damit die nicht
invaliditätsbedingte Differenz zwischen Tabellenlohn und tatsächlich verdientem
Lohn ausgeglichen werde. Für das Invalideneinkommen stellte die IV-Stelle -
ausgehend von einer Leistungsfähigkeit von 65 % - ebenfalls auf den
Tabellenlohn ab und billigte dem Versicherten davon einen Abzug von 10 % zu.
Das kantonale Gericht korrigierte diesen Abzug auf die höchst zulässige Höhe
von 25 % (BGE 126 V 75).

2.2 Die Beschwerde führende IV-Stelle beanstandet das Vorgehen des kantonalen
Gerichts mit dem Argument, wenn auf der Validenseite nicht auf den effektiv
erzielten Lohn abgestellt werde und damit bestimmte Faktoren (Nachteile
kultureller und bildungsmässiger Natur, fortgeschrittenes Alter) bereits
kompensiert worden seien, so dürften sie nicht zusätzlich zu einem weiteren
Abzug vom Invalideneinkommen führen. Sie macht damit eine
Bundesrechtsverletzung bei der Ermittlung der beiden Vergleichseinkommen
geltend.

2.3 Das Valideneinkommen ist grundsätzlich anhand des zuletzt verdienten Lohnes
zu bestimmen (RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 f. E. 3b; Ulrich Meyer-Blaser,
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, Zürich 1997 S. 205). Da der
tatsächlich erzielte Verdienst von Fr. 53'365.- nicht deutlich unter dem
Tabellenlohn von Fr. 55'640.- liegt, besteht nach der Rechtsprechung kein
Anlass, vom Grundsatz abzuweichen und zu einer Korrektur zu schreiten (Urteile
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, R. vom 30. September 2002, I 186/01,
H. vom 7. Mai 2001, I 314/00, und K. vom 16. März 1998, I 179/97). Indem
Beschwerdeführerin und kantonales Gericht nicht auf den tatsächlich verdienten
Lohn abgestellt haben, haben sie das Valideneinkommen in bundesrechtswidriger
Weise ermittelt. Für den Einkommensvergleich ist daher von einem Einkommen ohne
Invalidität von Fr. 53'365.- auszugehen.

2.4 Ausgehend vom einem sowohl für das Validen- wie auch für das
Invalideneinkommen herangezogenen identischen Tabellenlohn, d.h. von Fr.
55'640.-, hat das kantonale Gericht angesichts der verbindlich und nicht
offensichtlich unrichtig festgestellten Restarbeitsfähigkeit von 65 % sowie
unter Gewährung eines auf 25 % erhöhten Abzugs vom Tabellenlohn einen
Invaliditätsgrad von gerundet 51 % (35 % + [65 % x 25 %] = 51.25 %) ermittelt.
Das Invalideneinkommen beläuft sich damit nach der Berechnung des kantonalen
Gerichts auf Fr. 27'124.- (55'640 x 65 % x 75 %). Wird jedoch beim
Valideneinkommen richtigerweise (E. 2.3) auf das effektive Einkommen von Fr.
53'365.- abgestellt, so resultiert ein Invaliditätsgrad von 49 % (zur
Rundungsregel vgl. BGE 130 V 121). Selbst wenn der Abzug vom Tabellenlohn auf
das höchst zulässige Mass von 25 % erhöht wird, ergibt sich demnach ein unter
50 % liegender Invaliditätsgrad. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob
das kantonale Gericht mit der Erhöhung des Abzugs vom Tabellenlohn von 10 % auf
25 % ermessensmissbräuchlich gehandelt hat oder nicht (vgl. E. 1.3).

2.5 Sowohl die Rentenverfügung vom 6. Dezember 2005 wie auch der
Einspracheentscheid vom 11. Mai 2006, mit welchen die IV-Stelle über die Höhe
des Rentenanspruchs ab 1. Dezember 2001 befunden hat, enthalten in dispositiv-
und begründungsmässiger Hinsicht keinerlei Ausführungen über die Frage der
Härtefallrente und insbesondere zur Frage, ob für die Zeit ab 1. Januar 2004
die Voraussetzungen für die Weiterausrichtung der Härtefallrente im Sinne von
lit. d Abs. 2 der Schlussbestimmungen zur Änderung des IVG vom 21. März 2003
(4. IVG-Revision, gültig seit dem 1. Januar 2004) erfüllt sind. Es kann auf die
zutreffenden Ausführungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden. Es wird
daher zunächst Sache der Beschwerdeführerin sein, die entsprechenden
Abklärungen zu treffen und über die Frage des Anspruchs auf eine Härtefallrente
zu verfügen.

3.
Der Beschwerdegegner hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese sind indessen, weil der Beschwerdegegner die
Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege (im Sinne
unentgeltlicher Prozessführung und Verbeiständung) erfüllt (Art. 64 Abs. 1 und
2 BGG; vgl. BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit Hinweisen),
einstweilen auf die Gerichtskasse zu nehmen. Es wird jedoch ausdrücklich auf
Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage
ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 24. Mai 2007 aufgehoben.

2.
Die Akten werden an die Beschwerdeführerin überwiesen, damit diese im Sinne von
E. 2.5 verfahre.

3.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

4.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

5.
Rechtsanwalt Roger Lippuner, Buchs, wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand des
Beschwerdegegners bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes, Zürich,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Nussbaumer