Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 386/2007
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


9C_386/2007

Urteil vom 29. August 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

P. ________,Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Nicolai Fullin,
Spalenberg 20, 4001 Basel,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom
7. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Entscheid vom 19. August 2003 sprach das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der 1953 geborenen P.________
in Aufhebung der leistungsabweisenden Verfügung der IV-Stelle Bern vom 3.
April 2002 mit Wirkung ab 1. Januar 2000 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung zu. In teilweiser Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der IV-Stelle hob das Eidgenössische
Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts) dieses Erkenntnis auf und wies die Sache an die
Vorinstanz zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen ein Obergutachten
einhole und anschliessend über die Anspruchsberechtigung auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu entscheide (Urteil vom 6. Mai 2004 [I 655/03]).

B.
P.________ wurde am 28. September, 5. und 19. Oktober 2005 im Spital
X.________ von Prof. Dr. med. K.________, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie
und Psychosomatik, und am 14. Dezember 2005 von Frau Dr. med. E.________,
Leitende Ärztin der Klinik für Rheumatologie und Rehabilitation, untersucht
und begutachtet. Ihr Rechtsvertreter formulierte zu den Expertisen vom 17.
März und 16. Februar 2006 Ergänzungs- und Zusatzfragen. Die Gutachter nahmen
hiezu Stellung (Berichte vom 29. August und 17. November 2006).

Mit Entscheid vom 7. Mai 2007 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, die Beschwerde ab.

C.
P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid vom 7. Mai 2007 sei aufzuheben und die
IV-Stelle sei zu verpflichten, eine Invalidenrente nach den gesetzlichen
Bestimmungen auszurichten.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde.

D.
Nach Abschluss des Schriftenwechsels hat P.________ zwei ärztliche Berichte
einreichen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde
ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 IVG). Die Invalidität kann Folge von Geburtsgebrechen,
Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 Abs. 1 IVG). Krankheit ist jede
Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die
nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder
Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Art. 3 Abs.
1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG).

Ist ein Versicherter zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf
eine nach dem Grad der Invalidität abgestufte Rente (Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.2 Grundlage für die Bemessung der Invalidität bildet die trotz
gesundheitlicher Beeinträchtigung noch bestehende Arbeitsfähigkeit im
versicherten Tätigkeitsbereich. Die Annahme eines psychischen
Gesundheitsschadens im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und
Art. 6 ATSG im Besonderen setzt grundsätzlich eine lege artis auf die
Vorgaben eines anerkannten Klassifikationssystems abgestützte psychiatrische
Diagnose voraus (vgl. BGE 130 V 396). Eine solche Diagnose ist eine rechtlich
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für einen invalidisierenden
Gesundheitsschaden (BGE 132 V 65 E. 3.4 S. 69). Entscheidend ist, ob und
inwiefern, allenfalls bei geeigneter therapeutischer Behandlung, von der
versicherten Person trotz des Leidens willensmässig erwartet werden kann zu
arbeiten (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Diese Frage beurteilt sich nach einem
weitgehend objektivierten Massstab unter Ausschluss von Einschränkungen der
Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind
(BGE 130 V 352 E. 2.2.3 und 2.2.4 S. 353 ff.; BGE 127 V 294 E. 4b/cc S. 297
f. in fine). Umstände, welche die Verwertung der verbleibenden Arbeitskraft
auf dem Arbeitsmarkt als unzumutbar erscheinen lassen, sind die erhebliche
Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer des psychischen Leidens, chronische
körperliche Begleiterkrankungen mit mehrjährigem Krankheitsverlauf bei
unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission,
sozialer Rückzug, ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer
innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber
entlastenden Konfliktbewältigung, unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz
konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer
Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und
gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und
Eigenanstrengung der versicherten Person (vgl. BGE 132 V 65 E. 4.2.2 S. 71,
130 V 352 E 2.2.3 S. 353 ff.).

3.
Das kantonale Gericht hat festgestellt, gemäss dem Gutachten des Prof. Dr.
med. K.________ vom 17. März 2006 bestehe eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), begleitet von multiplen funktionellen
Beschwerden (somatoforme autonome Funktionsstörungen [ICD-10 F45.3]) von
Seiten des Verdauungsapparates, aber auch Kopfschmerzen sowie Konzentrations-
und Schlafstörungen. Es läge keine Unzumutbarkeit der willentlichen
Schmerzüberwindung und des Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess vor. Der
psychiatrische Gutachter begründe widerspruchsfrei, unter welchen Umständen
die Versicherte ihr Leiden überwinden könne und weshalb es ihr zumutbar sei,
wieder eine Erwerbstätigkeit, vorerst während vier Stunden pro Tag, später
vollzeitlich, aufzunehmen. Das Leiden sei behandelbar und mit der nötigen
Willensanstrengung zu überwinden. In Betracht fielen aufgrund des Gutachtens
der Frau Dr. med. E.________ vom 16. Februar 2006 aus rein rheumatologischer
Sicht leichte körperliche Tätigkeiten mit der Möglichkeit zur
Wechselbelastung. Aus psychiatrischer Sicht sei ein invalidisierender
Gesundheitsschaden zu verneinen.

4.
Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde sind die vorinstanzlichen
Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit weder
offensichtlich unrichtig noch das Ergebnis willkürlicher Beweiswürdigung.

4.1 Es trifft zwar zu, dass Prof. K.________ eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung im Sinne von ICD-10 F45.4 diagnostizierte, gleichzeitig aber
eine für dieses Beschwerdebild typische psychosoziale Belastungssituation
(vgl. BGE 130 V 396 E. 6.1 S. 400) als nicht klar ersichtlich bezeichnete.
Der Gutachter hat indessen festgehalten, dass es für die Symptome keine
ausreichende somatische Erklärung gebe und das Leiden zu den somatoformen
Störungen zu zählen sei. Dies ist unbestritten. Abgesehen davon ändert der
Einwand nichts an der entscheidenden Fragestellung nach der Zumutbarkeit der
Willensanstrengung zur Schmerzüberwindung und Ausübung einer Erwerbstätigkeit
(BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff. in fine).

4.2 Im Weitern wird insoweit richtig ausgeführt, dass eine psychische
Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer von Bedeutung ist
für den invalidisierenden Charakter einer somatoformen Schmerzstörung. Das
kantonale Gericht hat dieses Merkmal als nicht gegeben erachtet. Diese
Feststellung ist nicht offensichtlich unrichtig. Prof. Dr. med. K.________
verneinte eine bedeutende Komorbidität. Auf Grund der Gutachten des Dr. med.
A.________ vom 31. Oktober 2000 und 21. Oktober 2002 sowie des Dr. med.
H.________ vom 27. November 2001 ist ein von der Schmerzstörung losgelöstes,
eigenständiges depressives Zustandsbild von Krankheitswert nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben (vgl. E. 4 bis 6 des Urteils
I 655/03 vom 6. Mai 2004). Die weiteren von der Vorinstanz ebenfalls
verneinten Kriterien für die Beurteilung des invalidisierenden Charakters der
Schmerzstörung sind nicht von einer derartigen Ausprägung und Intensität,
dass sie bei Fehlen einer psychischen Komorbidität den rechtlichen Schluss
auf ein psychisches Leiden von Krankheitswert erlaubten. In diesem
Zusammenhang trifft nicht zu, dass die Prüfung der Voraussetzungen anhand der
obgenannten Kriterien eine "rein juristische Angelegenheit" und somit nicht
Sache des Gutachters ist. Dabei handelt es sich ebenso wie bei der letztlich
entscheidenden Frage der zumutbaren Willensanstrengung zur Überwindung der
Schmerzen und Ausübung einer Erwerbstätigkeit um eine Tatfrage (BGE 132 V 393
E. 3.2 S. 398). Unter diesen Umständen kann offen bleiben, inwiefern die von
Prof. Dr. med. K.________ bejahte Aggravationstendenz tatsächlich besteht. Es
änderte am Ergebnis nichts. Im Übrigen wird die vom psychiatrischen Gutachter
erwähnte grosse Diskrepanz zwischen Beschwerdeschilderung und Verhalten in
der Untersuchungssituation, was gegen den invalidisierenden Charakter des
Leidens spricht (BGE 131 V 49 S. 51 E. 1.2), nicht bestritten.

4.3 Sodann kann aus der Tatsache allein, dass bereits psychotherapeutische
Versuche unternommen wurden, aber scheiterten, nicht gefolgert werden, solche
Massnahmen seien aus von der Beschwerdeführerin nicht zu verantwortenden
Gründen nicht erfolgversprechend. Abgesehen davon geht es hier um eine
prognostische Beurteilung. Bleibt eine zur Verbesserung oder zur Verhinderung
einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes notwendige, lege artis
durchgeführte psychotherapeutische Behandlung bei vorhandener Motivation und
Eigenanstrengung der versicherten Person erfolglos, kann dies allenfalls
Anlass für eine Neuüberprüfung der Anspruchsberechtigung sein.

4.4 Schliesslich ändern die in diesem Verfahren eingereichten ärztlichen
Berichte nichts am Ergebnis einer zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 100% für
leichte körperliche Tätigkeiten mit der Möglichkeit zur Wechselbelastung.
Entweder handelt es sich um ein unzulässiges neues Vorbringen (Art. 99 Abs. 1
BGG; vgl. BGE 121 II 97 E. 1c S. 99; BGE 120 V 481 E. 1d S. 485), oder es
betrifft nicht den massgeblichen Prüfungszeitraum bis zum Erlass der
Verfügung vom 3. April 2002 (BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4).

5.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG,
in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002, und BGE 128 V 29 E. 1 S. 30) einen
Invaliditätsgrad von 7% ([[Fr. 44'494.- - Fr. 41'284.-]/Fr. 44'494.-] x 100%)
ermittelt, was keinen Anspruch auf eine Rente ergibt (Art. 28 Abs. 1 IVG).

Dagegen wird vorgebracht, beim Valideneinkommen als Service-Angestellte seien
der Service nicht berücksichtigt worden. Dabei handelt es sich um ein
unzulässiges neues Vorbringen. Abgesehen davon ist im Gastgewerbe der Service
im Preis inbegriffen. Die Berücksichtigung zusätzlicher Trinkgelder
(Overtips) setzte voraus, dass darauf paritätische Beiträge erhoben wurden
(vgl. BGE 115 V 416 E. 5 S. 419 ff.). Dies wird nicht geltend gemacht und ist
auf Grund der Akten nicht anzunehmen. Ob sodann bei der Ermittlung des
Invalideneinkommens auf der Grundlage der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung 2000 des Bundesamtes für Statistik (LSE 00; BGE 129 V
472 E. 4.2.1 S. 475 f., 124 V 321) der maximal zulässige Abzug vom
Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 von 25% angemessen wäre, kann offenbleiben. Es
ergäbe sich auch so kein anspruchsbegründender Invaliditätsgrad. Schliesslich
fehlt es in Bezug auf die beantragte konkrete Festsetzung des
Invaliditätsgrades an einem schutzwürdigen Feststellungsinteresse (Art. 89
Abs. 1 lit. c BGG). Die Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung
entfaltet gegenüber dem Unfallversicherer keine (absolute) Bindungswirkung
(BGE 131 V 362).

Der angefochtene Entscheid ist somit rechtens.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der GastroSocial Ausgleichskasse,
Aarau, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 29. August 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: