Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 382/2007
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9C_382/2007

Urteil vom 13. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

F. ________, 1964, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokatin Letizia Di
Benedetto, Aeschenvorstadt 67, 4010 Basel,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt
vom 23. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 19. Juli 2005 und Einspracheentscheid vom 1. November 2006
lehnte die IV-Stelle Basel-Stadt den Anspruch der 1964 geborenen F.________
auf eine Invalidenrente mangels eines leistungsbegründenden
Invaliditätsgrades ab.

B.
Die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 23. April 2007 ab.

C.
F.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erheben
mit dem Antrag auf Zusprechung einer Viertelsrente; zudem sei ihr die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Verwaltung und Vorinstanz haben in materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht
die für die Beurteilung des Rentenanspruchs (Art. 28 IVG) massgeblichen
Grundlagen sowie die diesbezügliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

3.
Das kantonale Gericht hat erkannt, dass die Versicherte trotz ihrer
gesundheitlichen Beeinträchtigung den rentenbegründenden Invaliditätsgrad von
40 % nicht erreiche. Bezüglich der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) als
Element der Invalidität (Art. 8 ATSG) hat es die Gründe, die zur Abweisung
der Beschwerde geführt haben, im angefochtenen Entscheid unter einlässlicher
Würdigung der gesamten medizinischen Aktenlage dargelegt und namentlich
gestützt auf die Gutachten der Dres. med. G.________, Facharzt FMH für
Psychiatrie und Psychotherapie vom 22. April 2005 und A.________, Spezialarzt
FMH für Physikalische Medizin und Rehabilitation, speziell Rheumaerkrankungen
vom 2. Januar 2005 festgestellt, die Beschwerdeführerin sei zu 70 %
arbeitsfähig. Diese Sachverhaltsfeststellung ist für das Bundesgericht
verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig oder unvollständig ist.
Das trifft hier unbestrittenerweise nicht zu. Von unvollständiger
Tatsachenfeststellung, die nach Art. 105 Abs. 2 BGG als Rechtsverletzung
gilt, könnte nur gesprochen werden, wenn bezüglich einer rechtserheblichen
Tatsache (z.B. hinsichtlich des Gesundheitsschadens, des funktionellen
Leistungsvermögens, der verfügbaren psychischen Ressourcen, der medizinisch
zumutbaren restlichen Arbeitsfähigkeit etc.) keine gerichtliche Feststellung
getroffen worden ist. Auch dies ist hier nicht der Fall.

4.
Streitig und näher zu prüfen ist die Frage nach der Höhe des leidensbedingten
Abzugs vom hypothetischen Invalideneinkommen (Art. 16 ATSG), welchen die
Beschwerdegegnerin verweigert und die Vorinstanz auf 5 % festgesetzt hat.

4.1 Die Frage, ob ein Abzug nach Massgabe der Grundsätze von BGE 126 V 75
vorzunehmen sei, ist rechtlicher Natur, die Bestimmung eines solchen Abzuges
dagegen Ermessensfrage, die im Gegensatz zum früheren Recht (vgl. Art. 104
lit. c OG) nicht zu prüfen ist (Art. 95 und 97 BGG). Gerügt werden kann nur
die Höhe des Abzuges im Hinblick auf Ermessensüberschreitung oder -missbrauch
als Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95 lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE
132 V 393 E. 3.3 S. 399).

4.2 Der Abzug hat nicht automatisch, sondern dann zu erfolgen, wenn im
Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person wegen
eines oder mehrerer dieser Merkmale ihre gesundheitlich bedingte
(Rest-)Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit
unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. Bei der
Bestimmung der Höhe des Abzugs vom Tabellenlohn sodann ist nicht in der Weise
vorzugehen, dass für jedes in Betracht fallende Merkmal separat eine
Reduktion vorgenommen wird, weil damit Wechselwirkungen ausgeblendet würden.
Vielmehr ist der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre,
Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) unter Würdigung der
Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen.
Dabei ist der Abzug auf insgesamt höchstens 25 % zu begrenzen (126 V 75
E. 5b/aa-cc S. 79 f.).
4.3 Erwerbslosigkeit aus invaliditätsfremden Gründen vermag keinen
Rentenanspruch zu begründen. Die Invalidenversicherung hat nicht dafür
einzustehen, dass eine versicherte Person zufolge ihres Alters, wegen
mangelnder Ausbildung oder Verständigungsschwierigkeiten keine entsprechende
Arbeit findet; die hieraus sich ergebende "Arbeitsunfähigkeit" ist nicht
invaliditätsbedingt (BGE 107 V 17 E. 2c S. 21; AHI 1999 S. 238 E. 1).

5.
5.1 Im Einkommensvergleich berücksichtigte die Vorinstanz auf Grund der
Angaben des früheren Arbeitgebers (Bericht H.________ AG vom 30. Juli 2003)
für das Jahr 2003 ein Valideneinkommen von Fr. 50'739.-.

Das Invalideneinkommen von Fr. 32'319.- ermittelte sie anhand der
Tabellenlöhne der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik
(hier: LSE 2002, Tabelle TA1, Sektor 3 Dienstleistungen, Frauen,
Anforderungsniveau 4). Auf dem so errechneten hypothetischen Einkommen von
Fr. 34'020.- (= Fr. 3'820.- x 12 [Jahreslohn] : 40 x 41,7 [Umrechnung
Wochenstunden] x 1,017 [Aufrechnung Lohnentwicklung 2003] x 0,7
[Teilarbeitsfähigkeit]) gewährte sie mit der Begründung, die damals
42-jährige Beschwerdeführerin sei Ausländerin mit Niederlassungsbewilligung
(Kat. C) und könne auf Grund fehlender Ausbildung und mangelnder Integration
in der Arbeitswelt benachteiligt sein, einen Abzug von 5 %. Es resultierte so
eine Erwerbseinbusse von Fr. 18'420.- und damit ein nicht rentenbegründender
Invaliditätsgrad von 36 %.

5.2 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe mit der Gewährung des
Abzuges von 5 % auf dem hypothetischen Invalideneinkommen den tatsächlichen
Gegebenheiten bei weitem nicht Rechnung getragen. Dieser niedrige Abzug
bleibe auf Grund der sehr bedürftigen Erklärung ungerechtfertigt und sei
angesichts der konkreten Umstände - Alter, Nationalität/Aufenthaltsstatus,
fehlende Ausbildung, der deutschen Sprache nicht mächtig, im Wirtschaftsleben
nicht integriert - nicht nachvollziehbar. Bei den vorgenannten Verhältnissen
sei ein leidensbedingter Abzug von 20 % gerechtfertigt.

6.
Die Beschwerdeführerin kann zu 70 % einer Erwerbstätigkeit nachgehen und
dabei die volle Leistung erbringen. Die Rechtsprechung gewährt insbesondere
dann einen Abzug auf dem Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person nur
noch eine leidensangepasste Tätigkeit ausüben kann, sodass sie auf dem
Arbeitsmarkt in Konkurrenz mit gesundheitlich nicht eingeschränkten
Mitbewerbern benachteiligt ist, was sich auf das Lohnniveau auswirkt (vgl.
BGE 126 V 75 E. 7b S. 82; Urteile vom 11. Juni 2007, I 402/06, E. 4.5, 8. Mai
2007, I 604/06, E. 5.3, 18. Mai 2007, I 278/06, E. 5.1, 20. Juli 2007,
9C_114/2007, E. 4 sowie 5. September 2007, 9C_309/2007, E. 2.3.3.2). Da die
Beschwerdeführerin in ihrer Leistung innerhalb der 70 % nicht weiter
eingeschränkt ist, kann ihr entsprechend auch kein leidensbedingter Abzug
gewährt werden.

6.1 Dem Merkmal des Alters kommt bei der Beschwerdeführerin mit Jahrgang 1964
noch keine wesentliche Bedeutung zu. So hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Falle eines 53-jährigen Versicherten den Anspruch auf
einen Abzug wegen des fortgeschrittenen Alters verneint, da mit zunehmendem
Alter die Lohnzuwachskurve zwar flacher verläuft, der Faktor Alter sich aber
nicht lohnsenkend auswirkt (AHI 1999 S. 242 E. 4c). Dies hat umso mehr zu
gelten bei der im Zeitpunkt des Verfügungserlasses rund 42-jährigen
Beschwerdeführerin.

6.2 Kaum ins Gewicht fällt das Kriterium des reduzierten
Beschäftigungsgrades. Teilzeitangestellte müssen nicht zwingend weniger als
Vollzeittätige verdienen, zum Beispiel nicht in Beschäftigungsbereichen, in
denen Teilzeitarbeit Nischen auszufüllen vermag, die arbeitgeberseits stark
nachgefragt und dementsprechend entlöhnt werden (nicht veröffentlichte
Urteile vom 28. September 1999 und 5. Juli 1999). Die Teilzeitbeschäftigung
wirkt sich bei Frauen insbesondere bei dem der Beschwerdeführerin noch
zumutbaren Pensum von 70 % im Vergleich zu einer Vollzeitbeschäftigung sogar
proportional lohnerhöhend aus (vgl. LSE 2002, Tabelle 8*, S. 28:
Durchschnittslohn Frauen Anforderungsniveau 4 Beschäftigungsgrad 90 % und
höher: Fr. 3'792.-, von 50 % bis 74 %: Fr. 3'983.-; Differenz + 4,8 %).
Gestützt auf den reduzierten Beschäftigungsgrad lässt sich somit ein Abzug
von den Tabellenlöhnen unter diesem Titel ebenfalls nicht rechtfertigen.

6.3 Die Bedeutung der Dienstjahre nimmt im privaten Sektor ab, je niedriger
das Anforderungsprofil ist (AHI 1999 S. 181 E. 3b und S. 243 E. 4c), weswegen
sich auch dieser Aspekt für die Beschwerdeführerin kaum nachteilig auswirkt.

6.4 Dafür, dass die Beschwerdeführerin als niedergelassene Ausländerin auf
dem Arbeitsmarkt eine Lohneinbusse hinnehmen müsste, sind keine Anhaltspunkte
ersichtlich, entsprach doch ihr Einkommen bei Eintritt der teilweisen
Invalidität durchaus branchenüblichen Ansätzen (vgl. BGE 126 V 75 E. 5 S.
79). Es können sich bei Personen aus dem Ausland je nach Aufenthaltskategorie
und Anforderungsniveau weit gehende Unterschiede ergeben, insbesondere bei
Inhabern einer Niederlassungsbewilligung, bei welchen der Durchschnittslohn
für einfache und repetitive Tätigkeiten sogar über dem Tabellenlohn liegen
kann (nicht veröffentlichte Urteile vom 30. August 1999, 30. März 1999, 19.
März 1999 und 6. Oktober 1998).

6.5 Die weiteren Einwendungen - der deutschen Sprache nicht mächtig und im
Wirtschaftsleben nicht integriert - rechtfertigen keinen leidensbedingten
Abzug, denn es handelt sich um invaliditätsfremde Gründe (vgl. oben E. 4.3 in
fine). Wenn die Vorinstanz dem Umstand Rechnung getragen hat, dass die
Beschwerdeführerin in der Arbeitswelt auf Grund ihrer fehlenden Ausbildung
und mangelnden Integration benachteiligt sein könnte, und deshalb einen
leidensbedingten Abzug von 5 % gewährte, so ist mit der Beschwerdegegnerin
festzustellen, dass sich die Beschwerdeführerin seit bald zwanzig Jahren in
der Schweiz aufhält und hier niedergelassen ist, sodass sie für die ihr offen
stehenden Bereiche beruflicher Tätigkeiten als ausreichend integriert zu
gelten hat und die mangelhafte Ausbildung dort kaum oder nicht ins Gewicht
fällt. Dass die Vorinstanz jedoch auf diese Weise sinngemäss die oben unter
E. 6.4 erörterten Kriterien mit einem leidensbedingten Abzug von 5 %
berücksichtigt hat, beruht nicht auf rechtsfehlerhaften
Ermessensüberschreitung oder -missbrauch. Ist der Beschwerdeführerin somit
von Bundesrechts wegen jedenfalls kein höhere Abzug als 5 % zu gewähren,
erreicht der Erwerbsausfall die rentenbegründende Schwelle von 40 % nicht (E.
5.1).

7.
Die unentgeltliche Rechtspflege kann gewährt werden (Art. 64 BGG), da die
Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Beschwerde nicht als aussichtslos zu
bezeichnen war (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwältin
Letizia Di Benedetto, Basel, als unentgeltliche Anwältin der
Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse Promea und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz