Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 372/2007
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


9C_372/2007

Urteil vom 3. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Attinger.

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, 1999, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Mutter J.________,
und diese vertreten durch Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband,
Froburgstrasse 4, 4600 Olten.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen vom 16. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Die am 22. Oktober 1999 geborene R.________ leidet an Epilepsie (aus dem
idiopathisch-generalisierten Formenkreis), einer leichten geistigen
Behinderung, einer leichten Makrozephalie sowie an leichteren
neuromotorischen Auffälligkeiten im Bereich der Grob- und Feinmotorik
(insbesondere im Bereich zusammengesetzter Bewegungsabläufe). Mit Verfügungen
vom 5. Juli 2005 und 12. Mai 2006 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
dem versicherten Mädchen Kostenübernahme für die heilpädagogische
Früherziehung sowie medizinische Massnahmen zur Behandlung der angeborenen
Epilepsie (Geburtsgebrechen Ziff. 387 GgV Anhang) zu. Hingegen verneinte sie
mit Verfügung vom 15. Mai 2006 und Einspracheentscheid vom 6. November 2006
einen Anspruch auf Ergotherapie zur Behandlung der neuromotorischen
Beeinträchtigungen.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 16. Mai 2007 gut
und sprach R.________ medizinische Massnahmen "in Form einer Ergotherapie für
einen Zeitraum von zwei Jahren" zu, wobei das Gericht die Sache "zur
Festsetzung des Leistungsbeginns und -umfangs und zu entsprechender neuer
Verfügung" an die Verwaltung zurückwies (Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des
vorinstanzlichen Entscheids mit Verweis auf die Erwägungen).

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids.

Während die Mutter von R.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit
Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der
Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid
in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen
Grundlagen (u.a.) Bundesrecht, Völkerrecht oder kantonale verfassungsmässige
Rechte verletzt (Art. 95 lit. a-c BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Letztinstanzlich kann unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten zu Recht als
unbestritten gelten, dass die beantragte Ergotherapie dem versicherten
Mädchen nicht unter dem Titel von Art. 13 IVG, d.h. nicht im Rahmen der ihm
zugesprochenen medizinischen Massnahmen zur Behandlung der angeborenen
Epilepsie (Geburtsgebrechen Ziff. 387 GgV Anhang) gewährt werden kann. Der
nach der Gerichtspraxis (BGE 129 V 207 E. 3.3 S. 209, 100 V 41 E. 1a mit
Hinweisen; SVR 2005 IV Nr. 22 S. 87 E. 1.3) für eine entsprechende
Leistungspflicht der Invalidenversicherung vorausgesetzte qualifizierte
adäquate Kausalzusammenhang zwischen Geburtsgebrechen (Epilepsie) und geltend
gemachtem sekundären Gesundheitsschaden (neuromotorische Auffälligkeiten im
Bereich Grob- und Feinmotorik) muss aufgrund der vorliegenden Gegebenheiten
jedenfalls verneint werden. Es kann diesbezüglich auf die zutreffenden
Schlussfolgerungen im vorinstanzlichen Entscheid verwiesen werden.

3.
Hingegen ist ein auf Art. 12 IVG (in der hier anwendbaren, bis Ende 2007
gültig gewesenen Fassung) gestützter Anspruch der Beschwerdegegnerin auf
Ergotherapie zu prüfen.

3.1 Nach dieser Gesetzesbestimmung und Art. 2 Abs. 1 IVV besteht ein Anspruch
auf Übernahme medizinischer Massnahmen durch die Invalidenversicherung, wenn
durch diese Vorkehr stabile oder wenigstens relativ stabilisierte
Folgezustände von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall - im Einzelnen:
Beeinträchtigungen der Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung oder der
Kontaktfähigkeit - behoben oder gemildert werden, um die Erwerbsfähigkeit
dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung
zu bewahren (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21 mit Hinweisen).

3.2 Vom strikten Erfordernis der Korrektur stabiler Funktionsausfälle oder
Defekte ist im Falle von nicht erwerbstätigen Personen vor dem vollendeten
20. Altersjahr gegebenenfalls abzusehen (vgl. Art. 5 Abs. 2 IVG und Art. 8
Abs. 2 ATSG). Hier können medizinische Vorkehren schon dann überwiegend der
beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen
Charakters des Leidens von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn
ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein anderer stabilisierter
Zustand einträte, welcher die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit
voraussichtlich beeinträchtigen würde. Die entsprechenden Kosten werden bei
Minderjährigen also von der Invalidenversicherung getragen, wenn das Leiden
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die
spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden stabilen
pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21 mit Hinweisen).

3.3 Dabei muss prognostisch erstellt sein, dass ohne die vorbeugende
Behandlung in naher Zukunft eine bleibende Beeinträchtigung eintreten würde.
Gleichzeitig muss ein ebenso stabiler Zustand herbeigeführt werden können, in
welchem vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für die spätere
Ausbildung und Erwerbsfähigkeit bestehen. Daraus folgt, dass eine
therapeutische Vorkehr, deren Wirkung sich in der Unterdrückung von Symptomen
erschöpft, nicht als medizinische Massnahme im Sinne des Art. 12 IVG gelten
kann, selbst wenn sie im Hinblick auf die schulische und erwerbliche
Eingliederung unabdingbar ist. Denn sie ändert am Fortdauern eines labilen
Krankheitsgeschehens nichts und dient dementsprechend nicht der Verhinderung
eines stabilen pathologischen Zustandes. Deswegen genügt auch eine günstige
Beeinflussung der Krankheitsdynamik allein nicht, wenn eine spontane, nicht
kausal auf die therapeutische Massnahme zurückzuführende Heilung zu erwarten
ist, oder wenn die Entstehung eines stabilen Defekts mit Hilfe von
Dauertherapie lediglich hinausgeschoben werden soll (Urteil I 501/06 vom
29. Juni 2007, E. 5.2 mit Hinweisen).

4.
Gemäss undatiertem (mit der vorinstanzlichen Beschwerdeergänzung vom 5. März
2007 eingereichtem) Bericht von Dr. K.________, Leitender Arzt der
Neuropädiatrie am Spital C.________, wird das versicherte Mädchen künftig
zwar Sonderschulung benötigen ("entweder in einer heilpädagogischen Schule
oder integriert"). Weil jedoch keine Komorbiditäten (wie
Verhaltensauffälligkeiten, erethisches oder aggressives Verhalten) vorlägen,
sei trotz der leichten geistigen Behinderung mit berechtigter Hoffnung davon
auszugehen, dass sich die Beschwerdegegnerin mit Unterstützung der
Invalidenversicherung später ins Erwerbsleben der freien Wirtschaft werde
integrieren können. Neben der Schwerpunkt bildenden Förderung im heil- bzw.
sonderpädagogischen Bereich könnten durch die geltend gemachte Ergotherapie
Verbesserungen bei der Handlungsplanung und der Selbständigkeit erzielt
werden. Aus diesem Grunde sei während eines begrenzten Zeitraums (etwa von
zwei Jahren) durchzuführende Ergotherapie als Eingliederungsvorkehr zu
betrachten

5.
Es ist unbestritten, dass die neuromotorischen Beeinträchtigungen, welche mit
der beantragten Ergotherapie angegangen werden sollen, das versicherte
Mädchen im Alltag und in der Schule behindern. Ziel der Ergotherapie ist es,
Patienten, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von
Einschränkungen bedroht sind, bei für sie bedeutungsvollen Betätigungen zu
unterstützen und sie darin zu stärken. Es geht somit darum, die Auswirkungen
des Leidens zu neutralisieren und in wesentlichen Lebensbereichen eine
Handlungsfähigkeit zu erreichen (vgl. BGE 130 V 284 E. 5.1.3 S. 287 und 288
E. 3.3 S. 290). Insofern beeinflusst die Vorkehr die ausbildungsmässige und
letztlich auch die erwerbliche Eingliederung (Urteil I 258/05 des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 10. November 2005, E. 3.2.2). Damit
ist der überwiegende Eingliederungscharakter der hier streitigen Massnahme
indessen noch nicht erstellt. Erklärtes Behandlungsziel der ins Auge
gefassten Ergotherapie ist laut angeführtem ärztlichen Bericht von
Dr. K.________ eine Verbesserung der Handlungsplanung und der
Selbständigkeit. Anhaltspunkte dafür, dass Ergotherapie diesbezüglich zur
Vermeidung eines stabilen Defektzustandes notwendig wäre, ergeben sich
aufgrund der zur Verfügung stehenden Unterlagen jedoch nicht (vgl. Urteil
I 501/06 vom 29. Juni 2007, E. 6). Anzumerken gilt, dass das Bundesgericht
den rechtserheblichen Sachverhalt in diesem Punkt von Amtes wegen überprüft,
weil die Vorinstanz dazu im angefochtenen Entscheid keine
Tatsachenfeststellungen getroffen hat (vgl. E. 1 hievor). Nach dem Gesagten
sind die Voraussetzungen für eine Übernahme der Ergotherapie gestützt auf
Art. 12 IVG ebenfalls nicht erfüllt.

6.
Nicht zu prüfen in diesem Verfahren ist, ob das versicherte Mädchen gegenüber
seinem Krankenversicherer die Vergütung der Ergotherapiekosten verlangen kann
(Art. 6 KLV).

7.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 16. Mai 2007 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Attinger