Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 274/2007
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9C_274/2007

Urteil vom 18. Februar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

E. ________, Beschwerdeführer,
handelnd durch seine Mutter und diese vertreten durch Rechtsdienst
Integration Handicap, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 3. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1987 geborene E.________ leidet an einer X-chromosomalen
Adrenoleukodystrophie bei Regredienz der intellektuellen Leistungsfähigkeit
und Teilleistungsschwächen sowie ausgeprägter Nebenniereninsuffizienz, einem
Geburtsgebrechen im Sinne von Ziffer 453 GgV-Anhang. Auf Anmeldung vom 3.
Juni 2000 hin sprach ihm die IV-Stelle Bern die zur Behandlung des
Geburtsgebrechens erforderlichen medizinischen Massnahmen bis zum 20.
Altersjahr zu. Gemäss Verfügung vom 8. Mai 2002 sprach die IV-Stelle dem
Versicherten ab 1. Juni 1999 einen der festgestellten Hilflosigkeit leichten
Grades entsprechenden Pflegebeitrag zu. Im Hinblick auf das Inkrafttreten der
4. IVG-Revision am 1. Januar 2004 hob die IV-Stelle den bisherigen
Pflegebeitrag auf den 31. Dezember 2003 auf und sprach dem Versicherten ab 1.
Januar 2004 bis 31. Juli 2005 eine Entschädigung für leichte Hilflosigkeit zu
(Verfügung vom 18. November 2003). Am 21. Juli 2005 vollendete E.________ das
18. Altersjahr, worauf ihm die IV-Stelle gestützt auf die getroffenen
Abklärungen mit Verfügung vom 20. September 2005 ab 1. August 2005 eine
Entschädigung für leichte Hilflosigkeit zusprach. Die Mutter des Versicherten
erhob Einsprache, mit welcher sie im Wesentlichen geltend machte, ihr Sohn
benötige lebenspraktische Begleitung. Mit Entscheid vom 8. Mai 2006 wies die
IV-Stelle die Einsprache ab mit der Feststellung, die Betreuung durch die
Mutter könne nicht als lebenspraktische Begleitung anerkannt werden.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher der Versicherte beantragen
liess, unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei ihm ab 1. August 2005
eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit auszurichten, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, soweit den Zeitraum vom 1. August 2005
bis 31. Januar 2006 betreffend, ab; bezüglich der Zeit ab 1. Februar 2006 hob
es den Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück,
damit diese prüfe, ob ein Revisionsgrund vorliege und hernach neu verfüge
(Entscheid vom 3. April 2007).

C.
E.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, unter teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheides sei ihm für die Zeit vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006
anstelle der Entschädigung für leichte eine solche für mittelschwere
Hilflosigkeit zuzusprechen. Ferner ersucht er um die Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 42 Abs. 1 IVG haben Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem
Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung. Als hilflos gilt nach Art. 9 ATSG eine Person, die
wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen
dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Das
Gesetz unterscheidet zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter
Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 2 IVG). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person,
welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd
auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Ist nur die psychische
Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit
mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein. Ist eine Person
lediglich dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen, so liegt immer
eine leichte Hilflosigkeit vor (Art. 42 Abs. 3 IVG). Die Hilflosigkeit gilt
u.a. als mittelschwer, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von
Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig
in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter und überdies dauernd auf
lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 angewiesen ist (Art. 37 Abs.
2 lit. c IVV).

Nach Art. 38 Abs. 1 IVV liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im
Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG auch vor, wenn eine volljährige versicherte
Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der
Gesundheit für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf
Begleitung einer Drittperson angewiesen ist (lit. b) oder ernsthaft gefährdet
ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (lit.c). Zu berücksichtigen
ist nur diejenige lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im
Zusammenhang mit den in Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht
darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im
Rahmen vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398 bis 419 ZGB (Art. 38 Abs.
3 IVV).

1.2 In BGE 133 V 450 (vgl. auch BGE 133 V 472) hat sich das Bundesgericht mit
dem Begriff der lebenspraktischen Begleitung im Sinne der vorstehend
zitierten, seit 1. Januar 2004 in Kraft stehenden Bestimmungen befasst.
Danach beinhaltet die lebenspraktische Begleitung weder die (direkte oder
indirekte) "Dritthilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch
die Pflege oder Überwachung. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und
eigenständiges Institut der Hilfe dar. Des Weiteren hat das Gericht die vom
BSV in den Verwaltungsweisungen vorgenommene Konkretisierung der
Anwendungsfälle der lebenspraktischen Begleitung als sachlich gerechtfertigt
und damit als gesetzes- und verordnungskonform erachtet BGE 133 V 450 E. 9
S. 466). Sodann ist gemäss dem nämlichen Urteil im Rahmen der
lebenspraktischen Begleitung nach Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV die direkte und
indirekte Dritthilfe zu berücksichtigen. Demnach kann die Begleitperson die
notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten auch selber ausführen, wenn die
versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung oder
Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage ist (E. 10.2 S. 467).

2.
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Entschädigung für
mittelschwere Hilflosigkeit anstelle derjenigen für leichte Hilflosigkeit für
den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006. Dabei steht aufgrund der
vorinstanzlichen Feststellungen ausser Frage, dass er beim An-/Auskleiden und
bei der Körperpflege regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter
angewiesen ist. Der Anspruch auf eine Entschädigung für mittelschwere
Hilflosigkeit hängt somit einzig davon ab, ob der Versicherte auf
lebenspraktische Begleitung angewiesen ist.

2.1 Nach den auf dem Bericht des Abklärungsdienstes vom 5. September 2005
basierenden Feststellungen der Vorinstanz ist der Beschwerdeführer nicht in
der Lage, den Alltag selbstständig zu bewältigen. Seine Mutter handle
teilweise für ihn, indem sie die finanziellen Angelegenheiten regle, Termine
vereinbare und den Versicherten begleite. Nach Auffassung des kantonalen
Gerichts ist es nicht entscheidend, dass der Beschwerdeführer dank der
Hilfeleistung seiner Mutter im Stande war, zu Hause zu leben. Massgebend im
Rahmen der gesetzlichen Regelung sei vielmehr, dass die lebenspraktische
Begleitung im Sinne von Anleitung und Motivation des Betroffenen ein
weitgehend selbstständiges Wohnen und Bewältigen des Alltags ermöglichen
könnte, was im vorliegenden Fall nicht vorstellbar sei.

2.2 Dieser Ansicht kann nicht beigepflichtet werden. Wie das Bundesgericht im
BGE 133 V 450 E. 5 S. 460 erkannt hat, schliesst das Wohnen des Versicherten
bei seinen Eltern den Anspruch auf lebenspraktische Begleitung nicht aus.
Massgebend ist einzig, dass sich die versicherte Person nicht in einem Heim
aufhält; dass sie alleine wohnt, ist nicht vorausgesetzt. Die Umgebung, in
welcher sie lebt, ist vorbehältlich eines Heimaufenthalts unerheblich.

2.3 Nach bundesgerichtlich bestätigter Verwaltungspraxis (Rz. 8053 des
Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit) ist die
lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 Abs. 3 Satz 1 IVV
regelmässig, wenn sie über eine Periode von drei Monaten gerechnet im
Durchschnitt mindestens zwei Stunden pro Wochen benötigt wird (BGE 133 V 450
E. 6.2 S. 461). Dem angefochtenen Entscheid sind keine Angaben zur Dauer der
lebenspraktischen Begleitung zu entnehmen. Es fehlt damit insoweit an einer
für das Bundesgericht verbindlichen Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105
Abs. 1 BGG, weshalb das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen ergänzen
kann, weil die Vorinstanz diesen in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
und damit von Bundesrecht unvollständig festgestellt hat (Art. 105 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 95 lit. a BGG). Der Abklärungsbericht der IV-Stelle vom
5. September 2005 enthält zum Zeitaufwand für die lebenspraktische Begleitung
keine Hinweise, weil die Abklärungsperson offensichtlich davon ausging, dass
auf diese Leistungsart kein Anspruch bestehe. Aufgrund des Protokolls der
Abklärungsperson, welche umfangreiche lebenspraktische Hilfeleistungen der
Mutter des Versicherten erwähnt (Organisation von Terminen, Begleitung,
Regelung der finanziellen Situation, Planung von Freizeitaktivitäten usw.),
ist anzunehmen, dass die lebenspraktische Begleitung im fraglichen Zeitraum
während mindestens zweier Stunden wöchentlich und damit regelmässig im Sinne
vom Art. 38 Abs. 3 Satz 1 IVV benötigt wurde, sodass sämtliche
Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Entschädigung für mittelschwere
Hilflosigkeit erfüllt sind.

3.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch des Beschwerdeführers
um unentgeltliche Prozessführung ist damit gegenstandslos. Gemäss Art. 68
Abs. 2 BGG hat die IV-Stelle dem Beschwerdeführer sodann eine
Parteientschädigung zu bezahlen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Bern vom 3. April 2007 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle
Bern vom 8. Mai 2006 aufgehoben, soweit sie den Zeitraum vom 1. August 2005
bis 31. Januar 2006 betreffen. Es wird festgestellt, dass der
Beschwerdeführer für die Zeit vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006 Anspruch
auf eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit  Fr. 1'500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Februar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer