Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 267/2007
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9C_267/2007

Urteil vom 4. September 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

K. ________,Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Kriesi,
Fellmann Tschümperlin Lötscher, Anwaltsbüro, Zinggentorstrasse 4,
6000 Luzern 6,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern,
vom 29. März 2007.

Sachverhalt:

A.
K. ________ (geboren 1962) arbeitete seit April 1992 als Serviceangestellter
bei der M.________ AG. Wegen einer Coxarthrose links arbeitete er seit
November 1999 nicht mehr. Im Anschluss an eine Hüftarthroplastik am
23. März 2000 nahm er die Erwerbstätigkeit nicht mehr auf. Am 18. Januar 2001
meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Einholen eines Berichts des behandelnden Psychiaters Dr. med. S.________ vom
30. Mai 2002, eines Gutachtens des Dr. med. A.________, Psychiatriezentrum,
vom 8. Juli 2002 und eines beruflichen Abklärungsberichts der BEFAS vom
13. März 2002 sprach die IV-Stelle Luzern dem Versicherten mit Verfügung vom
11. Dezember 2002 ab 1. November 2000 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von
59 % eine halbe Invalidenrente nebst Zusatzrente für die Ehefrau und
Kinderrenten zu. Die hiegegen erhobene Einsprache wies die IV-Stelle mit
Entscheid vom 22. Mai 2003 ab. Die daraufhin eingereichte Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 22. März 2004 ab.
Am 28. Juni 2005 leitete die IV-Stelle von Amtes wegen ein Revisionsverfahren
ein. Gestützt auf die eingeholten Berichte des Hausarztes Dr. med.
B.________, Arzt für allgemeine Medizin FMH, vom 13. Juli 2005 und des
behandelnden Psychiaters Dr. med. S.________ vom 28. November 2005 gelangte
sie zum Schluss, dass aus gesundheitlichen Gründen kein Revisionsgrund
ausgewiesen sei, aufgrund der wirtschaftlichen Berechnung neu ein
Invaliditätsgrad von 60 % resultiere. Am 11. Januar 2006 verfügte sie die
Ausrichtung einer Dreiviertelsrente nebst Zusatzrente für die Ehefrau und
Kinderrenten mit Wirkung ab 1. Juli 2005. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 20. Februar 2006 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 29. März 2007 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm ab
1. Juli 2005 eine ganze Rente samt Zusatzrente für die Ehefrau und
Kinderrenten zuzusprechen. Eventuell sei der vorinstanzliche Entscheid
aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese
aktuelle ärztliche Gutachten in somatischer und psychiatrischer Hinsicht
einhole.
Die IV-Stelle Luzern und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff.
BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren
Sachverhaltsfeststellungen von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007,
N 24 zu Art. 97).

1.2 Sachverhaltsfeststellungen sind Feststellungen aufgrund eines
Beweisverfahrens, namentlich auch Feststellungen über innere oder psychische
Tatsachen, wie z.B. was jemand wusste oder nicht wusste (Seiler/von
Werdt/Güngerich, a.a.O., N 12 zu Art. 97; BGE 124 III 182 E. 3 S. 184).
Rechtsfrage sind demgegenüber das richtige Verständnis von Rechtsbegriffen
und die Subsumption des Sachverhalts unter die Rechtsnormen (Seiler/von
Werdt/Güngerich, a.a.O., N 13 zu Art. 97).

1.3 Das Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger und der erstinstanzliche
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht
(Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben die Verwaltung und das
Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des
rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen
nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten
der Parteien (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195; 122 V 157 E. 1a S. 158; vgl. BGE 130
I 180 E. 3.2 S. 183).

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess
tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im
Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt,
die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264).

2.
2.1 Im Rahmen des im Juni 2005 von Amtes wegen eingeleiteten
Revisionsverfahrens hat die Beschwerdegegnerin je einen Bericht des
Hausarztes Dr. med. B.________ vom 13. Juli 2005 und des behandelnden
Psychiaters Dr. med. S.________ vom 28. November 2005 eingeholt. Dr. med.
B.________ hält als Diagnose in seinem Bericht zunehmende Lumbalgien bei
degenerativen Veränderungen, Coxarthrosebeschwerden rechts, Kniebeschwerden
beidseits, Refluxoesophagitis, Adipositas permagna und langjährige Depression
mit zeitweiliger Verschlechterung fest. In den letzten zwei bis drei Jahren
habe die beschriebene Symptomatik zugenommen. Zusätzlich bestehe der Verdacht
auf eine somatoforme Schmerzstörung neben den degenerativen Komponenten.
Wegen der Depression werde der Versicherte weiterhin von Dr. med. S.________
behandelt. Rein aus somatischer Sicht bestehe sicherlich eine
Teilarbeitsfähigkeit (Arbeit in Wechselpositionen, ohne länger Sitzen und
Stehen, kein Heben und Tragen schwerer Lasten, keine repetitiven
Tätigkeiten). Es sei auch wichtig, dass der Versicherte eine gewisse Aufgabe
bekomme. Seiner Auffassung nach dominiere die Depression das ganze
Krankheitsbild. Es sei daher ein Bericht beim behandelnden Psychiater
einzuholen. Dr. med. S.________ hält im Verlaufsbericht vom 28. November 2005
als Diagnose eine schwere rezidivierende depressive Störung (F 33.2) auf dem
Boden einer emotional unstabilen/narzisstischen Persönlichkeit (F 60.30,
F 60.8) fest. Seit Ende 2003 habe sich der schon vorher schlimme
gesundheitliche Zustand des Versicherten weiter verschlechtert. Er sei
zunehmend depressiv und sehr verspannt geworden, habe unter Schuldgefühlen
seiner Familie gegenüber gelitten und fühle sich minderwertig. Er habe die
inneren Spannungen nicht mehr ertragen können, reagiere oft mit aggressiven
Ausbrüchen, wodurch er sehr oft mit seiner Familie, aber auch mit der
Nachbarschaft in Auseinandersetzungen geraten sei. Als sein Sohn in eine
Krise gekommen sei und sich Anfang Mai 2004 wegen der Situation zu Hause das
Leben nehmen wollte, habe der Versicherte ganz dekompensiert. Er sei
ebenfalls suizidal geworden und habe notfallmässig in die psychiatrische
Klinik des Kantonsspitals Luzern eingewiesen werden müssen. Dadurch habe sich
der Zustand einigermassen stabilisieren können. Nach diesem Ereignis habe er
noch stärker unter Schuldgefühlen gelitten, sei nach Aussen etwas ruhiger
geworden, habe jedoch vermehrt Suizidgedanken. Die Depression habe sich
vertieft, er sei ganz lust- und interesselos geworden, könne nicht schlafen
und werde von Albträumen geplagt. Seit Ende 2003 sei er für eine auswärtige
Tätigkeit voll arbeitsunfähig.

2.2 Die Beschwerdegegnerin hat die beiden ärztlichen Berichte ihrem
regionalen ärztlichen Dienst (RAD) vorgelegt, welcher zum Schluss gekommen
ist, aus medizinischer Sicht sei keine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes ausgewiesen. Der Hausarzt führe keine objektivierbare
somatische Verschlechterung an. Der behandelnde Psychiater stelle die
gleichen Diagnosen wie im Mai 2002, aus denen er schon damals eine
höhergradige Arbeitsunfähigkeit abgeleitet habe. Es sei nicht von einer
Verschlechterung, sondern von einer vorbestehend anderen Beurteilung und
Interpretation der Beschwerden und Befunde durch Dr. med. S.________ als
behandelndem Psychiater auszugehen. Gestützt auf diese Stellungnahme des RAD
gelangte die Beschwerdegegnerin zum Schluss, aus medizinischer Sicht liege
kein Revisionsgrund vor. Die Stellungnahme des RAD sei nachvollziehbar und
gut begründet. Dr. med. S.________ und Dr. med. B.________ seien behandelnde
Ärzte. Aus beweisrechtlicher Sicht sei zu beachten, dass Hausärzte mitunter
im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen
eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen würden (Hinweis auf BGE 125 V 353).

2.3 Das kantonale Gericht gelangte in Würdigung der medizinischen Akten zum
Schluss, aus somatischer Sicht sei keine relevante Änderung im Sinne einer
Verschlechterung des Gesundheitszustandes auszumachen. Wie bis anhin bestehe
in der Verrichtung leichter bis mittelschwerer Tätigkeiten - somatisch
betrachtet - keine Einschränkung. Der psychische Gesundheitszustand habe sich
seit Erlass der ursprünglichen Rentenverfügung nicht in rentenrelevantem
Ausmass verschlechtert.

2.4 Der Beschwerdeführer macht in tatsächlicher Hinsicht geltend, die
vorinstanzliche Feststellung unveränderter gesundheitlicher Verhältnisse in
somatischer und psychischer Hinsicht widerspreche den aktenmässig erstellten
Tatsachen. Damit habe das kantonale Gericht den Sachverhalt im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG offensichtlich unrichtig festgestellt. Des weiteren hätten
Verwaltung und Vorinstanz den Sachverhalt nicht von Amtes wegen abgeklärt und
damit Art. 43 Abs. 1 ATSG verletzt. Da mit den Berichten des Dr. med.
B.________ und Dr. med. S.________ zwei ärztliche Verlaufsberichte vorgelegen
hätten, welche die Darstellung des Beschwerdeführers von einer
Verschlechterung des Gesundheitszustandes bestätigten, gleichzeitig aber kein
aktuelles Beweismittel vorgelegen habe, welches dagegen spreche, hätte für
die gegenteilige Annahme ein weiteres ärztliches Gutachten eingeholt werden
müssen.

2.5 Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet. In der Zeit zwischen der
Rentenzusprache gemäss Einspracheentscheid vom 22. Mai 2003 bis zum
revisionsrechtlichen Einspracheentscheid vom 20. Februar 2006 liegen in
medizinischer Hinsicht einzig die im Verlauf des Revisionsverfahrens
eingeholten Berichte des Dr. med. B.________ und des Psychiaters Dr. med.
S.________ vor. Beide behandelnden Ärzte sind übereinstimmend der Auffassung,
der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers habe sich seit der erstmaligen
Rentenzusprache verschlechtert. Wenn Verwaltung und kantonales Gericht diese
beiden ärztlichen Beurteilungen nicht für schlüssig erachteten, wären sie in
Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c
ATSG) verpflichtet gewesen, den Sachverhalt ergänzend abzuklären. Ebenso
haben sie den Grundsatz über den zeitlich massgebenden Sachverhalt (hier:
Einspracheentscheid vom 20. Februar 2006; BGE 133 V 108) verletzt, weil sie
die medizinische Entwicklung des Gesundheitszustandes bis 20. Februar 2006
nicht festgestellt haben. Die verfügbaren medizinischen Berichte sind - wenn
auf die beiden Verlaufsberichte nicht abgestellt wird - veraltet. Die
Extrapolation daraus auf gleichgebliebene Verhältnisse ist unzulässig, da
dies beweismässig nicht gesichert ist, zumal aufgrund der beiden Berichte des
Dr. med. S.________ und Dr. med. B.________ Hinweise für eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes bestehen.

2.6 Die Sache geht daher zurück an die Beschwerdegegnerin, damit diese die
notwendigen Abklärungen in medizinischer Hinsicht in die Wege leite und
hernach über den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente neu verfüge.

3.
Als unterliegende Partei hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 29. März 2007 und der
Einspracheentscheid vom 20. Februar 2006 aufgehoben werden und die Sache an
die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen wird, damit diese nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Luzern auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird dem Beschwerdeführer
rückerstattet.

4.
Die IV-Stelle Luzern wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das
letztinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine Neuverlegung der
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV-Ausgleichskasse Gastrosuisse, Aarau,
dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 4. September 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
i.V.