Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 264/2007
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9C_264/2007

Urteil vom 18. März 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

A. ________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Lorenz Ineichen, Kernstrasse 10, 8004 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 27. März 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1959 geborene A.________ arbeitete zuletzt bei der Q.________ AG. Diese
löste das Anstellungsverhältnis auf den 30. April 2002 auf, weil A.________
wiederholt unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war. Unter Hinweis auf
eine psychische Erkrankung meldete sich der Versicherte am 13. Juni 2003 bei
der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich holte nebst einer Auskunft der Arbeitgeberfirma (vom 23. Juni 2003)
verschiedene Arztberichte ein und veranlasste eine polydisziplinäre
Untersuchung des Versicherten in der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS)
Zentrum X.________ (Gutachten vom 4. Juli 2005). Mit Verfügung vom 8. August
2005 lehnte die IV-Stelle den Anspruch von A.________ auf eine Invalidenrente
ab, da kein Gesundheitsschaden mit Krankheitswert vorliege und es ihm
weiterhin zumutbar sei, eine vollzeitliche Erwerbstätigkeit zu verrichten,
womit er ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen könnte. Der
Versicherte erhob Einsprache, mit welcher er u.a. um unentgeltliche
Verbeiständung für das Einspracheverfahren ersuchte. Mit Entscheid vom
22. November 2005 wies die IV-Stelle die Einsprache ab.

B.
A.________ liess hiegegen beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Beschwerde führen mit den Rechtsbegehren, unter Aufhebung des
Einspracheentscheides sei ihm ab 1. Mai 2003 eine ganze Invalidenrente
zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu ergänzenden medizinischen
Abklärungen und neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit
Verfügung vom 26. Januar 2006 lehnte die IV-Stelle den Anspruch des
Versicherten auf unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren
ab. Hiegegen liess A.________ ebenfalls Beschwerde führen mit dem Antrag auf
unentgeltliche Verbeiständung im Einsprache- und im Beschwerdeverfahren.
Das Sozialversicherungsgericht vereinigte die beiden Beschwerdeverfahren. Mit
Entscheid vom 27. März 2007 wies es die Beschwerde im Rentenpunkt ab, hiess
jedoch diejenige gegen die Verfügung vom 26. Januar 2006 gut mit der
Feststellung, dass der Versicherte für das Einspracheverfahren betreffend die
Verfügung vom 8. August 2006 (recte 2005) Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung habe. Überdies gewährte es dem Versicherten die unentgeltliche
Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm ab
1. Mai 2003 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache
zur Vornahme ergänzender medizinischer Abklärungen und zu neuer Verfügung an
die IV-Stelle zurückzuweisen. Ferner ersucht er um die Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so
weit vorgetragen werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Ferner darf das Bundesgericht nicht über die Begehren der Parteien
hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den
Invaliditätsbegriff (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG),
namentlich die auf einen psychischen Gesundheitsschaden zurückzuführende
Erwerbsunfähigkeit (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50) sowie die Rechtsprechung zur
Abgrenzung zwischen Gesundheitsschäden mit konsekutiver Arbeitsunfähigkeit
und soziokulturellen oder psychosozialen Umständen, welche keine Invalidität
im Sinne des Gesetzes bewirken, solange keine davon psychiatrisch zu
unterscheidende Befunde wie eine Depression im fachmedizinischen Sinn oder
ein damit vergleichbarer Leidenszustand vorliegen (BGE 127 V 294 E. 5a
S. 299), zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

3.
3.1 Die Vorinstanz gelangte in Würdigung der medizinischen Unterlagen,
inbesondere der Berichte der Psychiatrischen Klinik Y._______ vom 8. Juli
2003 und vom 4. Juni 2004, des Psychiatrischen Zentrums Z.________ vom
30. Juli 2003 und 28. Mai 2004 sowie des Gutachtens der MEDAS vom 4. Juli
2005, in welchem auf weitere Berichte Bezug genommen wird, zum Schluss, dass
beim Versicherten bis zum massgebenden Zeitpunkt des Einspracheentscheides
(22. November 2005) keine fassbaren organischen Beschwerden vorhanden gewesen
seien. Die aggressiven Verhaltensweisen des Beschwerdeführers wie
Morddrohungen gegenüber der Ehefrau und Konflikte mit dem Schwiegersohn
hätten ihre Ursache in fehlender Unterordnung seiner ältesten Tochter und dem
Umstand, dass seine Ehefrau für diese Partei ergriffen habe. Sodann
konsumiere er bisweilen Alkohol im Übermass und sei schlafmittelabhängig
(Stilnox). Insgesamt ergebe sich aus den fachärztlichen Berichten, dass die
psychischen Probleme des Beschwerdeführers überwiegend auf die psychosozialen
Schwierigkeiten zurückzuführen sind und keine ausgeprägte psychische Störung
mit Krankheitswert ausgewiesen ist. Dementsprechend hätten sich die
durchgeführten Behandlungen in den verschiedenen psychiatrischen
Einrichtungen in erster Linie um die schwierige psychosoziale Situation und
den daraus entstandenen Suchtmittelmissbrauch gedreht. Auf die in seinen
Augen nicht zu duldende Eigenständigkeit von Ehefrau und ältester Tochter
reagiere der Beschwerdeführer mit Gewalt. Ein gewisses Gewaltpotenzial allein
vermöge die gesetzlichen Voraussetzungen für Leistungen der
Invalidenversicherung nicht zu erfüllen. Dem Beschwerdeführer wäre es
überdies zuzumuten, Medikamente zur besseren Kontrolle der impulsiven
Ausbrüche einzunehmen sowie den Gebrauch von Schlafmitteln und seinen
übermässigen Alkoholkonsum zu reduzieren. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit
würde die soziale Isolation vermindern. Der Beschwerdeführer sei auch in der
Lage, sich am Arbeitsplatz an die Regeln zu halten, hätten doch die
Gewaltausbrüche vor allem im privaten Umfeld stattgefunden. Insgesamt liege
kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor. Unter Aufbietung der
erforderlichen Willensleistung sei es ihm zumutbar, seine bisher ausgeübte
Tätigkeit als Arbeiter in der Textilindustrie zu verrichten.

3.2 Der Beschwerdeführer wendet ein, die Vorinstanz habe den Grundsatz der
freien Beweiswürdigung verletzt. Aus dem Gutachten der MEDAS vom 4. Juli 2005
gehe hervor, dass der Versicherte seit April 2002 aus psychiatrischer Sicht
für alle Tätigkeiten voll arbeitsunfähig ist. Die gegenteilige Annahme der
Vorinstanz, der Beschwerdeführer könnte dank eigener Anstrengung voll
arbeitsfähig werden, finde in den Akten keine Stütze. Psychosoziale Faktoren
und die psychiatrischen Diagnosen seien laut Gutachten unentwirrbar
miteinander verwoben. Damit sei mindestens auch ein psychisches Leiden mit
Krankheitswert vorhanden. Die Beurteilung gemäss MEDAS decke sich auch mit
anderen Arztberichten.

4.
Zentral für den Verfahrensausgang ist die Aussage des kantonalen Gerichts,
insgesamt ergebe sich aus den fachärztlichen Berichten, dass die psychischen
Probleme des Beschwerdeführers überwiegend auf die psychosozialen
Schwierigkeiten zurückzuführen sind und keine ausgeprägte psychische Störung
mit Krankheitswert ausgewiesen ist. Diese Feststellung kann auch unter
Berücksichtigung der Expertise der MEDAS vom 4. Juli 2005 nicht als
offensichtlich unrichtig bezeichnet werden. Die Gutachter des Zentrums
X.________ diagnostizierten mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit einen
"Verdacht auf emotional instabile Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.30),
Anpassungsprobleme bei Veränderung der Lebensumstände (ICD-10: 260.0) und
eine atypische Depression". Sie hielten den Beschwerdeführer seit April 2002
für voll arbeitsunfähig, während sie die Frage, ob psychosoziale Faktoren
überwiegen würden oder die Arbeitsunfähigkeit auf ein psychisches oder
somatisches Leiden mit Krankheitswert zurückzuführen sei, als nicht
beantwortbar bezeichneten. Die psychosozialen Faktoren und die
psychiatrischen Diagnosen seien unentwirrbar ineinander verwoben. Die
Persönlichkeitsstörung führe zu Gewaltausbrüchen, diese zu belastenden
psychosozialen Umständen, diese wieder zu Alkohol- und Medikamentenabusus,
dieser wieder zu Gewalt usw.. Lassen sich im vorliegenden Fall dem Gutachten
des Zentrums X.________ zufolge die psychosozialen Faktoren und die
psychiatrischen Diagnosen nicht klar voneinander trennen, ist ein
invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden nicht rechtsgenüglich
ausgewiesen. Denn nach der Rechtsprechung sind von der soziokulturellen
Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte
psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann (BGE 127
V 294 E. 5a S. 299). In diesem Sinn ist der Folgerung des kantonalen
Gerichts, es liege kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden vor,
beizupflichten. Die Einwendungen des Beschwerdeführers sind unbegründet. Sie
vermögen an der von der Vorinstanz verbindlich festgestellten Tatsache nichts
zu ändern, dass eine selbstständige psychische Krankheit, welche die Arbeits-
und Erwerbsfähigkeit des Versicherten erheblich beeinträchtigt, nicht
vorliegt.

5.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden, da die
entsprechenden Voraussetzungen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) erfüllt sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren von Fr. 500.- werden
dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse
genommen.

4.
Rechtsanwalt Lorenz Ineichen, Zürich, wird als unentgeltlicher Anwalt des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse Zürcher Arbeitgeber und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. März 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer