Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 202/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_202/2007

Urteil vom 9. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
D.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Baumann,
Seefeldstrasse 62, 8008 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
27. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1948 geborene D.________ ist selbstständig erwerbstätig. Mit Verfügung vom
5. Mai 2006 verpflichtete ihn die Ausgleichskasse des Kantons Aargau zur
Bezahlung der persönlichen AHV/IV/EO-Beiträge für das Jahr 2003 in der Höhe von
Fr. 41'077.20, einschliesslich Verwaltungskosten. Nach Anrechnung der
geleisteten Akontobeiträge wurde ihm gleichentags ein Betrag von noch Fr.
14'198.- in Rechnung gestellt. Diesen Ausstand beglich D.________ am 31. Mai
2006. Am 9. Juni 2006 erliess die Ausgleichskasse eine Verzugszinsverfügung
über Fr. 1005.70, entsprechend einem Zins zu 5 % auf dem Betrag von Fr.
14'198.- für 510 Tage. Auf Einsprache des Versicherten hin hielt die
Ausgleichskasse mit Entscheid vom 27. Juni 2006 an der Verzugszinspflicht fest.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher der Versicherte die Aufhebung
des Einspracheentscheides hatte beantragen lassen, wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 27. Februar 2007).

C.
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid und der
Einspracheentscheid seien aufzuheben.
Während die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Stellungnahme verzichten, lässt sich das Versicherungsgericht in ablehnendem
Sinne zur Beschwerde vernehmen.

D.
Am 9. April 2008 hat das Bundesgericht eine publikumsöffentliche Beratung
durchgeführt.
Erwägungen:

1.
Nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 ATSG sind für fällige Beitragsforderungen und
Beitragsrückerstattungsansprüche Verzugs- und Vergütungszinsen zu leisten.
Verzugszinsen zu entrichten haben nach Art. 41bis Abs. 1 lit. f AHVV u.a.
Selbständigerwerbende auf auszugleichenden persönlichen Beiträgen, falls die
Akontobeiträge mindestens 25 Prozent unter den tatsächlich geschuldeten
Beiträgen liegen und nicht bis zum 1. Januar nach Ablauf des dem Beitragsjahr
folgenden Kalenderjahres entrichtet werden, ab dem 1. Januar nach Ablauf des
dem Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres. Gemäss Art. 41bis Abs. 2 AHVV endet
der Zinsenlauf mit der vollständigen Bezahlung der Beiträge, mit Einreichung
der ordnungsgemässen Abrechnung oder bei deren Fehlen mit der
Rechnungsstellung. Bei Beitragsnachforderungen endet der Zinsenlauf mit der
Rechnungsstellung, sofern die Beiträge innert Frist bezahlt werden. Laut Art.
42 Abs. 2 AHVV beträgt der Verzugszinssatz 5 Prozent im Jahr, wobei die Zinsen
tageweise berechnet und ganze Monate zu 30 Tagen gerechnet werden (Art. 42 Abs.
3 AHVV). Nach der Rechtsprechung (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts H 20/04 vom 19. August 2004 = AHI 2004 S. 257) sind die
zitierten Ausführungsbestimmungen der AHVV nach Inkrafttreten des ATSG
weiterhin anwendbar.

2.
Der am 9. Juni 2006 verfügte Verzugszins von Fr. 1005.70 wird in masslicher
Hinsicht zu Recht nicht beanstandet. Der Beschwerdeführer macht vielmehr
geltend, nach Art. 26 Abs. 1 ATSG setze die Verzugszinsforderung im Gegensatz
zur altrechtlichen Regelung auf Verordnungsstufe voraus, dass die
Beitragsforderung der Ausgleichskasse fällig ist. Im Übrigen sei der
angefochtene Entscheid stossend. Der Ausgleichskasse würde aufgrund des
Versäumnisses des Steueramtes nicht bloss ein Schadensausgleich, sondern ein
massiv überhöhter Vorteil zufliessen. Auch die öffentliche Hand sei in der
fraglichen Zeit nicht in der Lage gewesen, auf vergleichbaren Beträgen Renditen
von über einem Prozent zu erzielen. Die Forderung eines Verzugszinses von 5 %
sei daher überrissen.

3.
3.1 Der Auffassung des Beschwerdeführers kann nicht beigepflichtet werden. Wie
das kantonale Gericht zutreffend festhält, bestand schon vor Inkrafttreten des
ATSG am 1. Januar 2003 in Art. 14 Abs. 4 lit. e AHVG eine formell gesetzliche
Grundlage für die Erhebung von Verzugszinsen. Art. 26 Abs. 1 ATSG verdeutlicht
zwar, dass Verzugszinsen nur für fällige Beitragsforderungen zu leisten sind,
was schon unter altem Recht selbstverständlich war. Zum Eintritt der Fälligkeit
äussert sich das ATSG jedoch nirgends. Weil die Ausführungsbestimmungen der
AHVV auch nach dem 1. Januar 2003 in Kraft bleiben (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts H 20/04 vom 19. August 2004 = AHI 2004 S. 257), ist für
die Fälligkeit weiterhin Art. 41bis AHVV massgebend. Im vorliegenden Fall
anwendbar ist, wie im angefochtenen Entscheid richtig dargelegt, Art. 41bis
Abs. 1 lit. f AHVV. Danach haben u.a. Selbstständigerwerbende auf
auszugleichenden Beiträgen, falls die Akontobeiträge mindestens 25 % unter den
tatsächlich geschuldeten Beiträgen liegen und nicht bis zum 1. Januar nach
Ablauf des dem Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres entrichtet werden, ab dem
1. Januar nach Ablauf des dem Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres
Verzugszinsen zu entrichten. Die Ausgleichskasse hat gestützt auf diese
Verordnungsbestimmung den Verzugszins für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31.
Mai 2006 gefordert, was die Vorinstanz zu Recht bestätigt hat. Inwiefern diese
die Entstehung einer Forderung mit ihrer Fälligkeit verwechselt haben soll, wie
in der Beschwerde geltend gemacht wird, ist nicht ersichtlich, nachdem der
Beginn der Verzugszinspflicht auf nicht bezahlten Beiträgen in Art. 41bis AHVV
umfassend geregelt ist. Der Beschwerdeführer behauptet denn auch nicht einmal,
die erwähnte Verordnungsbestimmung, auf welche sich das Versicherungsgericht
gestützt hat, sei gesetzwidrig.

3.2 Im Übrigen würde auch eine von der bisherigen Rechtsprechung losgelöste, an
den anerkannten Kriterien (Wortlaut der Bestimmung, Entstehungsgeschichte,
Normzweck innerhalb des Normengefüges: BGE 131 I 394 E. 3.2 S. 396, 131 II 697
E. 4.1 S. 703, 131 V 90 E. 4.1 S. 93 und 286 E. 5.2 S. 292) orientierte
Auslegung von Art. 26 Abs. 1 ATSG kein abweichendes Resultat zeitigen. Der
Gesetzeswortlaut ("Für fällige Beitragsforderungen sind Verzugszinsen zu
leisten"; "les créances des cotisations échues sont soumises à la perception
d'intérêts moratoires"; "i crediti di contributi dovuti sottostanno a interessi
di mora") steht der Anwendbarkeit der Ausführungsbestimmungen der AHVV über den
1. Januar 2003 hinaus nicht entgegen. Im Gegenteil: Die italienische Version,
welche das Adjektiv fällig, das mit Art. 26 Abs. 1 ATSG in der deutschen und
der französischen Fassung Eingang ins AHV-Verzugszinsrecht gefunden hat, nicht
verwendet, unterstützt die Auffassung, die im erwähnten Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts H 20/04 vom 19. August 2004 zum Ausdruck
kommt. In den für die Auslegung namentlich bei neuen Gesetzen bedeutungsvollen
Materialien (BGE 131 V 286 E. 5.2 S. 292) finden sich sodann zu Art. 26 Abs. 1
ATSG keine Anhaltspunkte, die für die Ansicht des Beschwerdeführers und damit
gegen die weitere Anwendbarkeit der Verzugszinsordnung des Art. 41bis AHVV und
des im Zusammenhang damit stehenden Art. 42 Abs. 2 und 3 AHVV sprechen würden.
3.3
3.3.1 Mit der Vorinstanz ist des Weiteren daran zu erinnern, dass dem
Verzugszins die Funktion eines Vorteilsausgleichs wegen verspäteter Zahlung der
Hauptschuld zukommt (BGE 129 V 345 E. 4.2.1 S. 347). Die Verzugszinsen
bezwecken unbekümmert um den tatsächlichen Nutzen und Schaden, den Zinsverlust
des Gläubigers und den Zinsgewinn des Schuldners in pauschalierter Form
auszugleichen. Hingegen weist der Verzugszins nicht pönalen Charakter auf und
ist unabhängig von einem Verschulden am Verzug geschuldet. Für die
Verzugszinspflicht im Beitragsbereich ist nicht massgebend, ob den
Beitragspflichtigen oder die Ausgleichskasse ein Verschulden an der Verzögerung
der Beitragsfestsetzung oder -zahlung trifft (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts H 221/90 vom 24. Januar 1992 = ZAK 1992 S. 167 f. E. 4b).
3.3.2 Im Lichte dieser Rechtsprechung sind die in der Beschwerde vorgebrachten
Argumente unerheblich. Nachdem die Verzugszinspflicht auch besteht, wenn der
Verzug einem Verschulden der Ausgleichskasse zuzuschreiben ist, hat die
Zinspflicht erst recht zu gelten, wenn, wie vom Beschwerdeführer behauptet, ein
Versäumnis einer anderen Amtsstelle, namentlich des Steueramtes, vorliegen
sollte, wozu sich dem angefochtenen Entscheid keinerlei Feststellungen
tatsächlicher Natur entnehmen lassen, welche für das Bundesgericht im Rahmen
von Art. 97 Abs. 1 sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG verbindlich wären. Da es
ohne Belang ist, ob die Steuerbehörde ein Verschulden trifft, braucht nicht
geprüft zu werden, ob eine offensichtlich unrichtige oder auf einer
Bundesrechtsverletzung beruhende Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz im
Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben ist, welche nach dieser Bestimmung einer
Ergänzung zugänglich wäre.

3.4 Hingewiesen sei zu guter Letzt darauf, dass die Beitragspflichtigen den
Ausgleichskassen nach Art. 24 Abs. 4 AHVV die für die Festsetzung der
Akontobeiträge erforderlichen Auskünfte zu erteilen, Unterlagen auf Verlangen
einzureichen und wesentliche Abweichungen vom voraussichtlichen Einkommen zu
melden haben. Damit hat es die beitragspflichtige Person in der Hand,
Verzugszinsen gemäss Art. 41bis lit. f AHVV zu vermeiden, indem die
Ausgleichskasse dank rechtzeitiger Meldung des höheren Erwerbseinkommens die
Akontobeiträge heraufsetzt, womit diese weniger als 25 Prozent unter den
tatsächlich geschuldeten Beiträgen liegen. Die (rückwirkende)
Verzugszinspflicht nach Massgabe von Art. 41bis lit. f AHVV setzt somit nur
ein, wenn die beitragspflichtige Person es - wie hier - versäumt, der
Verwaltung das höhere Einkommen rechtzeitig zu melden.

3.5 Ob die öffentliche Hand in den fraglichen Jahren (2005 und 2006) in der
Lage gewesen wäre, mit der geschuldeten Summe Erträge von über einem Prozent im
Jahr zu erwirtschaften, ist entgegen der in der Beschwerde vertretenen
Auffassung unerheblich, da der Verzugszins nicht exakt den der Verwaltung durch
den Verzug der beitragspflichtigen Person entstandenen Schaden auszugleichen
hat (E. 3.3.1 hievor) und die Höhe des Verzugszinses (seinerzeit 6 %) als
gesetzeskonform erachtet wurde (Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts H 170/89 vom 5. März 1990 = ZAK 1990 S. 284).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 9. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer