Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 178/2007
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9C_178/2007

Urteil vom 25. Oktober 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Kernen,
Gerichtsschreiber Fessler.

S. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Pierre
Heusser, Kernstrasse 8, 8004 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 15. März 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene S.________ verletzte sich am 30. September 2002 bei einem
Unfall am linken Fussgelenk. Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen
(Heilbehandlung, Taggeld). Im September 2003 meldete sich S.________ bei der
Invalidenversicherung und beantragte u.a. eine Rente. Nach Abklärungen lehnte
die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 21. April 2004 das
Leistungsbegehren ab. Dagegen liess der Versicherte Einsprache erheben. Nach
ergänzenden medizinischen Abklärungen sprach die IV-Stelle S.________ mit
Einspracheentscheid vom 7. Juli 2005 aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 43
% ab 1. September 2003 eine Viertelsrente zu.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, nachdem der Versicherte zu der in Aussicht gestellten reformatio in
peius Stellung genommen hatte, mit Entscheid vom 15. März 2007 ab und hob den
Einspracheentscheid vom 7. Juli 2005 mit der Feststellung auf, dass kein
Rentenanspruch bestehe.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem hauptsächlichen Rechtsbegehren, der Entscheid vom 15. März 2007 sei
aufzuheben und das Verfahren sei an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese
ein neues psychiatrisches Gutachten einhole, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

Eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 43 Abs. 1 und Art. 61
lit. c ATSG stellt eine Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar.

2.
Das kantonale Gericht hat den für den Rentenanspruch entscheidenden
Invaliditätsgrad (Art. 28 Abs. 1 IVG) durch Einkommensvergleich ermittelt
(vgl. Art. 16 ATSG sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V
343). Dabei hat es Validen- und Invalideneinkommen auf der Grundlage der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002 des Bundesamtes für Statistik (LSE
02) ausgehend vom selben Tabellenlohn (Fr. 4557.- [monatlicher Bruttolohn von
Männern für einfache und repetitive Tätigkeiten im privaten Sektor]; vgl. BGE
129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 und BGE 124 V 321) bestimmt. Beim
Invalideneinkommen ist die Vorinstanz von einer trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 70 % in einer leichten
wechselbelastenden Tätigkeit entsprechend der Einschätzung des Dr. med.
L.________ in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005 ausgegangen. Den Abzug vom
Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 hat es auf 8,5 % festgesetzt. Daraus ergab
sich ein Invaliditätsgrad von 36 % ([1-0,7 x 0,915] x 100 %; zum Runden BGE
130 V 121; vgl. Urteil I 1/03 vom 15. April 2003 E. 5.2).

3.
In der Beschwerde wird der Beweiswert des psychiatrischen
Administrativgutachtens des Dr. med. L.________ vom 11. Januar 2005
bestritten. Die Expertise sei mit zahlreichen Mängeln behaftet. Unter anderem
sei die Begutachtung ohne Beizug eines Übersetzers erfolgt. Darauf könne
daher nicht abgestellt werden. Im Weitern sei der maximal zulässige Abzug vom
TabelIenlohn von 25 % angemessen.

3.1 Einem ärztlichen Bericht ist (voller) Beweiswert zuzuerkennen, wenn er
für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der
Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der
medizinischen Situation und Zusammenhänge einleuchtet und die
Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).
Diese Kriterien sind auch entscheidend für die Frage, ob eine medizinische
Abklärung in der Muttersprache des Exploranden oder der Explorandin oder
unter Beizug eines Übersetzers im Einzelfall geboten ist oder gewesen wäre
(vgl. AHI 2004 S. 146 f. E. 4.2.1 und 2 [I 245/00] sowie Urteile I 642/01 vom
25. Juli 2003 E. 3.1 und I 157/06 vom 23. Mai 2006 E. 3).

3.2 Die Begutachtung durch Dr. med. L.________ erfolgte nicht in der
Muttersprache des Beschwerdeführers und ohne Beizug eines Übersetzers oder
einer Übersetzerin. Der Experte hielt in seinem Bericht vom 11. Januar 2005
fest, der Explorand spreche und verstehe hinreichend die deutsche Sprache.
Demgegenüber wurde der Versicherte im Bericht der Psychiatrischen Poliklinik
des Universitätsspitals X.________ vom 8. November 2001 als schlecht Deutsch
sprechend beschrieben, weswegen eine vollständige psychiatrische Exploration
schwer möglich sei. Sodann wurde im Bericht der Rehabilitationsklinik
Y.________ vom 11. Juni 2003 über das psychosomatische Konsilium im Rahmen
des stationären Aufenthalts vom 27. Mai bis 25. Juni 2003 festgehalten, der
Patient spreche verhältnismässig gut deutsch; dennoch sei es schwierig,
differenzierte Inhalte zu besprechen. Dr. med. F.________ schliesslich,
welcher den Beschwerdeführer ab 1. Juni 2004 psychiatrisch und
psychotherapeutisch behandelte, erwähnte in seinem Verlaufsbericht vom 26.
Oktober 2005, er unterhalte sich mit dem Patienten meist auf deutsch, selten
auf englisch. Seine Deutschkenntnisse seien nicht sehr umfangreich und das
Englisch durch einen Akzent schwierig zu verstehen.

Diese Akten werfen in der Tat die Frage auf, ob die sprachlichen
Möglichkeiten des Beschwerdeführers genügten, damit die in deutscher Sprache
durchgeführte psychiatrische Begutachtung durch Dr. med. L.________ die für
eine sichere Diagnosestellung notwendige Tiefe der Abklärung erreichen
konnte. Diebezügliche Zweifel ergeben sich auch aus dem Verlaufsbericht des
behandelnden Arztes Dr. med. F.________ vom 26. Oktober 2005. Sie stellen den
Beweiswert der Expertise des Dr. med. L.________ vom 11. Januar 2005
ernstlich in Frage.

3.3
3.3.1 Dr. med. L.________ stellte in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005 die
Diagnosen einer anhaltenden ängstlichen Depression (Dysthymia ICD-10 F34.1)
mit sozialer Phobie (ICD-10 F40.1) und Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.0).
Hinweise für die vom behandelnden Psychiater und Psychotherapeuten Dr. med.
F.________ im Arztbericht vom 24. August 2004 diagnostizierte chronische
paranoide Schizophrenie konnte der Experte nicht finden. Er bezeichnete das
vorgetragene Beschwerdebild als mehr neurotisch determiniert auf dem
Hintergrund einer Migrationsproblematik. Den Grad der Arbeitsfähigkeit aus
psychiatrischer Sicht für eine leichte bis mittelschwere, wechselbelastende
Tätigkeit mit einfacher mentaler Ausrichtung bezifferte er auf ca. 70 %.

3.3.2 Gemäss Dr. med. F.________ kann die Symptomatologie lediglich teilweise
auf ein depressives Verhalten mit Ängsten/Phobien zurückgeführt werden. Das
Gesamtbild sprenge jedoch klar ein nur neurotisches Geschehen. Der Patient
leide an lange anhaltenden Affekt- und Antriebsstörungen sowie an einer hohen
paranoiden Verarbeitungsbereitschaft. Dies bestimme zentral Denken, Fühlen
und Handeln und beeinträchtige seine geistige Gesundheit nachhaltig. Dr. med.
F.________ stellte daher die zusätzliche Diagnose eines deutlichen paranoiden
Zustandsbildes (ICD-10 F22.0). Er ging von einer Arbeitsunfähigkeit von
mindestens 50 % in einer körperlich wenig belastenden Tätigkeit z.B. in einer
geschützten Werkstatt oder in einem anderen den Patienten schützenden Rahmen
aus.

3.3.2.1 Dem Bericht des Dr. med. F.________ vom 26. Oktober 2005 kommt zwar
nicht die Bedeutung eines (Administrativ-)Gutachtens zu.  Zu beachten ist
jedoch, dass der behandelnde Arzt seinen Bericht in Kenntnis aller relevanten
medizinischen Akten erstellte. Insbesondere lag ihm das Gutachten des Dr.
med. L.________ vom 11. Januar 2005 vor. Dr. med. F.________ schilderte
eingehend seine im Rahmen der ambulanten Therapie gemachten Beobachtungen und
er gab - bedeutend ausführlicher als Dr. med. L.________ - Anamnese und
soziale Situation wieder. Seine Begründung, weshalb die Diagnose einer
anhaltenden ängstlichen Depression mit sozialer Phobie zu eng ist und das
psychiatrische Beschwerdebild nicht hinreichend erklärt, ist nachvollziehbar.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass im Bericht vom 26. Oktober
2005 das Verhalten des Beschwerdeführers anders beschrieben wurde als in der
Expertise vom 11. Januar 2005. Dr. med. F.________ hielt dazu fest, der
Versicherte habe auf spezielle Art (Armstellung) bei einer Begrüssung die
Hand reichen müssen. Sodann habe er seine z.B. dicke Jacke auch bei warmer
Temperatur anbehalten. Und in persönlichem Kontakt habe der Patient den
Blickkontakt gemieden. Solche Auffälligkeiten wurden vom Gutachter Dr. med.
L.________ nicht erwähnt. Ob der Beschwerdeführer bei der psychiatrischen
Exploration sich anders verhielt oder ob dem Experten gewisse
Verhaltensweisen nicht auffielen oder er ihnen keine Bedeutung beimass, kann
nicht gesagt werden.

3.3.2.2 Was das kantonale Gericht gegen den Beweiswert des Verlaufsberichts
vom 26. Oktober 2005 angeführt hat, überzeugt letztlich nicht. Es trifft zwar
zu, dass Dr. med. F.________ die im Arztbericht vom 24. August 2004 gestellte
Diagnose einer chronischen paranoiden Schizophrenie aufgab. Dies kann
indessen nicht als widersprüchlich bezeichnet werden. Vielmehr handelt es
sich um eine Neubeurteilung aufgrund der seither gemachten Beobachtungen, wie
der behandelnde Arzt selber festhält, sowie in Kenntnis des Gutachtens des
Dr. med. L.________ vom 11. Januar 2005. Abgesehen davon war der Bericht vom
24. August 2004 weniger als drei Monate nach der ersten Konsultation am 1.
Juni 2004 verfasst worden. Im Weitern spricht der Hinweis des Dr. med.
F.________ auf seine auftragsrechtliche Stellung als behandelnder Arzt nicht
gegen die Beweiskraft seiner Aussagen im Verlaufsbericht vom 26. Oktober
2005. Mit diesem Bericht wollte im Übrigen nicht das Gutachten des Dr. med.
L.________ beweismässig widerlegt, sondern die Notwendigkeit einer
nochmaligen psychiatrischen Begutachtung dargetan werden.

Bei dieser Aktenlage ist, namentlich auch mit Blick auf die diagnostischen
Differenzen der mit dem Beschwerdeführer befassten Ärzte, für die
zuverlässige Beurteilung von Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit aus
psychiatrischer Sicht die Einholung eines Obergutachtens durch das kantonale
Gericht unabdingbar. Dieses wird bei der Frage, ob die Begutachtung in der
Muttersprache des Versicherten oder unter Beizug einer Übersetzungshilfe
durchzuführen ist, die diesbezügliche Rechtsprechung zu berücksichtigen
haben. Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde ist kein interdisziplinäres,
auch die somatischen Belange umfassendes Gutachten erforderlich. Die
vorinstanzliche Feststellung einer Arbeitsfähigkeit von 100 % in leichten
wechselbelastenden Tätigkeiten aus somatischer Sicht ist weder offensichtlich
unrichtig noch das Ergebnis willkürlicher Beweiswürdigung. Daran ändert der
Bezug einer Invalidenrente der Unfallversicherung für die erwerblichen
Auswirkungen der Fussbeschwerden (Invaliditätsgrad: 10 %) nichts. Dass aus
somatischer Sicht lediglich leichte den Rücken und den linken Fuss nicht
speziell belastende Tätigkeiten zumutbar sind, ist allenfalls bei der
Festsetzung des Abzugs vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 zu berücksichtigen.
Im Übrigen trifft nicht zu, dass immer wenn eine Person an körperlichen und
psychischen Störungen leidet, eine interdisziplinäre Begutachtung zu erfolgen
habe. Dem in der Beschwerde erwähnten Urteil I 633/05 vom 3. Januar 2006
lässt sich nichts anderes entnehmen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Verwaltung dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid vom 15. März 2007 wird
aufgehoben und die Sache wird an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich zurückgewiesen, damit es im Sinne von E. 3 ein Obergutachten einhole
und danach über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 25. Oktober 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler