Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 172/2007
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9C_172/2007

Urteil vom 6. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

GastroSocial Pensionskasse, Bahnhofstrasse 86,  5000 Aarau,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Isabelle
Vetter-Schreiber,
Seestrasse 6, 8002 Zürich,

gegen

R.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jürg Dommer, Technikumstrasse 1A, 9471
Buchs.

Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 13. März 2007.

Sachverhalt:

A.
W. ________, geboren 1947, war im Restaurant B.________ als Kellner tätig und
dadurch bei der GastroSocial Pensionskasse obligatorisch
berufsvorsorgeversichert. Wegen eines metastasierenden Bronchialkarzinoms war
er ab 12. September 2004 in seinem bisherigen Beruf vollständig
arbeitsunfähig. Am 14. Januar 2005 löste er sein Arbeitsverhältnis per sofort
auf, da er die seit 1. Oktober 2004 nebenberuflich ausgeübte Beratungs- und
Konfliktlösungstätigkeit im Partnerbereich ab 15. Januar 2005 zu einer
selbstständigen Erwerbstätigkeit ausweiten wollte. Am 14. Februar 2005
verlangte er bei der Pensionskasse die Barauszahlung seiner
Austrittsleistung. Am 16. Februar 2005 schied W.________ freiwillig aus dem
Leben. R.________, der von seinem Bruder am 21. Januar 2005 testamentarisch
als Universalerbe eingesetzt worden war, ersuchte die Pensionskasse am
13. Mai 2005 um Überweisung der Freizügigkeitsleistung, was diese wiederholt
ablehnte, da die Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zum Tod geführt habe,
während des Vorsorgeverhältnisses eingetreten sei. Der damit eingetretene
Vorsorgefall «Tod» schliesse den Freizügigkeitsfall aus.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die von R.________ am
22. Februar 2006 eingereichte Klage mit Entscheid vom 13. März 2007 gut und
verpflichtete die Pensionskasse, ihm die Austrittsleistung seines
verstorbenen Bruders (Stichtag: 14. Januar 2005) zuzüglich Zins zu bezahlen.

C.
Die Pensionskasse lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des
angefochtenen Entscheids sei zustimmend zur Kenntnis zu nehmen, dass sie die
gesetzlichen und reglementarischen Hinterlassenenleistungen ausrichte.

R. ________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, während das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in der Stellungnahme - ohne einen
Antrag zu stellen - anregt, die hinsichtlich der Frage des Eintritts des
Vorsorgefalles «Invalidität» unterschiedlichen Praxen des Bundesgerichts zu
vereinheitlichen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach
Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Strittig ist, ob der Beschwerdegegner als Rechtsnachfolger des Versicherten
gegenüber der Pensionskasse Anspruch auf eine Austrittsleistung der
obligatorischen beruflichen Vorsorge hat. Dies hängt entscheidend von der
Frage ab, ob im Zeitpunkt, als der Versicherte die Vorsorgeeinrichtung
verliess (14. Januar 2005), bereits ein Vorsorgefall (Alter, Tod,
Invalidität) eingetreten war oder nicht (siehe Art. 2 Abs. 1 FZG). Das
kantonale Versicherungsgericht hat die zur Beurteilung dieser Streitfrage
einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat festgestellt, dass der Verstorbene seit
12. September 2004 im bisherigen Beruf erheblich, offensichtlich und
dauerhaft arbeitsunfähig war. Ob dies auch für eine leidensangepasste
Tätigkeit gelte, liess es offen, da der Vorsorgefall «Invalidität»
erklärtermassen nicht eingetreten sei. Dies wird von der Beschwerdeführerin
denn auch nicht bestritten. Sie beruft sich vielmehr auf den Vorsorgefall
«Tod». Dieser sei bereits mit Beginn der relevanten Arbeitsunfähigkeit
(12. September 2004) und damit vor dem Verlassen der Vorsorgeeinrichtung
(14. Januar 2005) eingetreten, weshalb nach Art. 2 Abs. 2 FZG keine
Austrittsleistung mehr erbracht werden dürfe. Es seien deshalb die
gesetzlichen und reglementarischen Todesfallleistungen auszurichten. Mangels
Personen, die Anspruch auf Hinterlassenenleistungen haben und begünstigter
Personen nach Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG, bedeute dies, dass gemäss
Ziff. 14.5 lit. b des Pensionskassenreglementes der Mutter des Verstorbenen
das durch eigene Beiträge finanzierte Altersguthaben auszurichten sei.

3.2 Zur Frage, wann der Vorsorgefall «Tod» im Sinne von Art. 2 Abs. 2 FZG
eingetreten ist, hat sich das Bundesgericht bisher nicht geäussert. Die
Vorinstanz hat dazu erwogen, der Vorsorgefall «Tod» trete mit dem Tod und
nicht mit der allfällig zugrunde liegenden Arbeitsunfähigkeit ein. Eine dem
Tod vorangegangene Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit bilde kein notwendiges
Begriffselement des versicherten Risikos. Diese Auslegung deckt sich mit der
in Lehre und Rechtsprechung verwendeten allgemeinen Definition des
Versicherungsfalles: Unter einem solchen wird der Eintritt des versicherten
Risikos in der gesetzlich normierten Weise verstanden (Ulrich Meyer,
Allgemeine Einführung, in: SBVR/Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Rz. 115 S. 73
mit Hinweis auf BGE 100 V 208). Der Anspruch auf Hinterlassenenleistungen
nach BVG entsteht mit dem Tod des Versicherten, frühestens jedoch mit
Beendigung der vollen Lohnfortzahlung (Art. 22 Abs. 1 BVG). Der hier in Frage
stehende Versicherungs- oder Vorsorgefall tritt nach dem Gesagten also
frühestens mit dem Tod des Versicherten ein.

3.3 Nun ist, was bereits der historische Gesetzgeber erkannt hat, zu
berücksichtigen, dass dem Tode vielfach eine kürzere oder längere Periode der
Arbeitsunfähigkeit vorangehen kann, während welcher der Versicherte mitunter
entlassen wird und dadurch den Versicherungsschutz verliert (Botschaft des
Bundesrates zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I S. 230). Die
ursprüngliche - und bis heute unverändert gebliebene - Fassung des Art. 18
lit. a BVG sieht daher vor, dass der Verstorbene im Zeitpunkt des Todes oder
bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zum Tode geführt hat,
versichert gewesen sein muss (Versicherteneigenschaft; siehe dazu Meyer,
a.a.O., Rz. 111, S. 72; Hans-Ulrich Stauffer, Berufliche Vorsorge,
Zürich/Basel/Genf 2005, S. 246 N 657). Damit wird entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin nicht der Eintritt des Vorsorgefalles auf den Zeitpunkt
des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit vorverlegt, sondern vielmehr der
Versicherungsschutz für den Fall geregelt, dass der Verstorbene im Zeitpunkt
des Todes nicht mehr bei der Vorsorgeeinrichtung versichert ist. Der
Anknüpfungspunkt bei der Versicherteneigenschaft im Zeitpunkt des Eintritts
der Arbeitsunfähigkeit findet sich im Übrigen in analoger Weise auch in
Art. 23 lit. a BVG, der den Anspruch auf Invalidenleistungen regelt (siehe
dazu BGE 118 V 35 E. 2b/aa S. 39).

3.4
3.4.1 In verschiedenen Urteilen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
(EVG; heute Bundesgericht) wurde die in E. 3.3 dargestellte begriffliche
Unterscheidung des Eintritts der Invalidität und der Arbeitsunfähigkeit,
deren Ursache zur Invalidität geführt hat, vermischt (letztmals Urteile R.
vom 26. August 2005, B 116/04, S. vom 9. Juli 2005, B 9/05, und H. vom
28. Mai 2004, B 88/03), was dem BSV Anlass zur Bemerkung gibt, zum Eintritt
des Vorsorgefalles «Invalidität» bestünden unterschiedliche Rechtsprechungen.
Dem ist indessen bei genauer Betrachtung nicht so:
3.4.2 In der in E. 3.3 genannten Botschaft wird auf S. 232 festgehalten: Damit
der durch die zweite Säule bezweckte Schutz zum Tragen kommt, muss das
Invaliditätsrisiko auch dann gedeckt sein, wenn es rechtlich gesehen erst
nach einer langen Krankheit eintritt, während welcher der Ansprecher unter
Umständen aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist und daher nicht mehr
dem Obligatorium unterstanden hat. In BGE 118 V 35 E. 2b/aa wird diese
Passage der bundesrätlichen Botschaft wörtlich zitiert, womit klar feststeht,
dass auch nach der Rechtsprechung des EVG der Vorsorgefall «Invalidität»
nicht mit der ihr zugrunde liegenden Arbeitsunfähigkeit, sondern mit Beginn
des Anspruchs auf eine Invalidenleistung (siehe Art. 26 Abs. 1 BVG) eintritt.
Damit deckt sich diese Rechtsprechung mit der im Zusammenhang mit der Teilung
der Austrittsleistung im Scheidungsfall entwickelten: Danach ist der
Vorsorgefall «Invalidität» eingetreten, wenn ein Ehegatte - weitergehende
reglementarische Bestimmungen vorbehalten - mindestens zu 50 % dauernd
erwerbsunfähig geworden ist oder während eines Jahres ohne wesentlichen
Unterbruch mindestens zu 50 % arbeitsunfähig war und von der Einrichtung der
beruflichen Vorsorge eine Invalidenrente bezieht oder in Form einer
Kapitalabfindung bezogen hat. Für die Annahme eines Vorsorgefalles genügt
somit blosse Teilinvalidität (BGE 129 III 481 E. 3.2.2 S. 484).

3.5 Aus dieser Klärung kann die Beschwerdeführerin indessen nichts zu ihren
Gunsten ableiten. Das kantonale Gericht hat festgestellt dass sich der Bruder
des Beschwerdegegners das Leben genommen hat. Die Beschwerdeführerin geht in
ihrer Sachverhaltsdarstellung - allerdings ohne nähere Begründung und ohne
sich mit der Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts
auseinanderzusetzen - davon aus, das Krebsleiden habe zum Tode geführt. Dass
das kantonale Gericht von einer offensichtlich unrichtigen
Sachverhaltsfeststellung ausgegangen sein oder eine Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 begangen haben soll, wird nicht behauptet. Somit bleibt die
Feststellung der Vorinstanz, der Versicherte sei freiwillig aus dem Leben
geschieden, für das Bundesgericht verbindlich (vgl. E. 1). War damit weder
das Krebsleiden, das zur Arbeitsunfähigkeit führte, Ursache des Todes, noch
der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes bei der Beschwerdeführerin
berufsvorsorgeversichert (auch die Nachdeckungsfrist von einem Monat [Art. 10
Abs. 3 BVG] war abgelaufen), hatte der Bruder des Beschwerdegegners die
Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor der Vorsorgefall Tod eingetreten ist.
Damit ist hier der Anspruch auf eine Austrittsleistung im Grundsatz
entstanden (Art. 2 Abs. 1 FZG). Die Sache wäre auch nicht anders zu
beurteilen, wenn W.________ an den Folgen seiner Krebserkrankung verstorben
wäre. Entscheidend ist allein, dass sein im Sommer 2004 ausgebrochenes Leiden
nicht zu einer Invalidität geführt hatte, wie das kantonale Gericht ebenfalls
zutreffend festgestellt hat.

4.
Die Beschwerdeführerin wiederholt schliesslich letztinstanzlich den Vorwurf,
der Verstorbene habe die Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit
lediglich fingiert; es liege ein klarer Rechtsmissbrauch vor. Auch das
kantonale Gericht hat das Vorgehen des Bruders des Beschwerdegegners
beanstandet und einen Missbrauch der Barauszahlungsbestimmungen als gegeben
erachtet, diesen aber nicht im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB als offenbar
qualifiziert. Dem ist im Ergebnis beizupflichten. Denn das kantonale Gericht
hat festgestellt, dass der Verstorbene tatsächlich eine selbstständige
Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. An dieser Feststellung tatsächlicher Natur
sind zwar durchaus Zweifel angebracht. Sie ist jedoch nicht offensichtlich
unrichtig und bindet daher das Bundesgericht (vgl. E. 1). Ist somit von
einem Barauszahlungsfall auszugehen, kann im Vorgehen des Versicherten kein
offenbarer Missbrauch (siehe dazu BGE 131 V 97 E. 4.3.4 S. 105 f.; Thomas
Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, Zürich 2005, S. 67) erblickt
werden.

5.
Da sich der Verstorbene selbstständig gemacht und vor seinem Tod die
Barauszahlung verlangt hat, hat das kantonale Gericht die Voraussetzungen,
unter denen die Austrittsleistung bar ausgerichtet werden kann (vgl. Art. 5
Abs. 1 lit. b FZG), zu Recht als erfüllt betrachtet und die Klage
gutgeheissen.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 6. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard