Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 165/2007
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9C_165/2007

Urteil vom 14. September 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

M.________, Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse Schweizerischer Transportunternehmungen, Postfach, 3001 Bern,
Beschwerdegegner.

Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau vom 2. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Ausgleichskasse Schweizerischer Transportunternehmungen sprach
A.________, geboren 1985, mit Verfügung vom 12. August 2005 ab 1. September
2005 eine Mutterwaisenrente der AHV zu, da sie eine Ausbildung bei der
X.________, Fachschule für Betreuung im Behindertenbereich, in Angriff
genommen hatte. Die Rente wurde jeweils ihrem Vater, M.________, geboren
1956, ausbezahlt. Mit Verfügung vom 19. Oktober 2006 forderte die
Ausgleichskasse von M.________ die in der Zeit vom 1. September 2005 bis 1.
September 2006 ihrer Auffassung nach zu Unrecht ausgerichtete Rente im
Gesamtbetrag von Fr. 8'346.- zurück, weil A.________ während dieser Periode
einen Lohn erzielt habe, der den Anspruch auf eine Mutterwaisenrente
ausschliesse. Daran hielt die Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 7.
Dezember 2006 fest.

B.
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau hiess die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 2. April 2007 teilweise gut und stellte fest,
dass die Waisenrente für die Monate Mai bis und mit September 2006 nicht
zurückzuerstatten sei.

C.
M.________ führt Beschwerde mit dem Antrag, die Rückerstattungsverfügung sei
aufzuheben. Weiter verlangt er die Nachzahlung der Mutterwaisenrente für die
Zeit von Januar bis September 2005 sowie die Nach- und Fortzahlung ab August
2006 bis zum erfolgreichen Lehrabschluss (spätestens 2009).
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Stellungnahme.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur
Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige
Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung
genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise
weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem
Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und
insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 131 V 164 E. 2.1; 125 V 413 E. 1a
S. 414).

1.2 Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz sind die Nachzahlung vom Januar
bis August 2005 und die Weiterauszahlung ab Oktober 2006 nicht
Streitgegenstand, da darüber nicht verfügt worden sei. Die
Rückerstattungsverfügung vom 19. Oktober 2006 betrifft in der Tat nur die
Rückzahlung der Rente vom September 2005 bis September 2006. Bereits in der
Einsprache vom 23. Oktober 2006 hat indessen der Beschwerdeführer die über
die Rückerstattungsverfügung hinausgehenden Begehren gestellt und im
Einspracheentscheid ist darüber entschieden worden. Dies ist eine kraft
Sachzusammenhangs im formlosen Einspracheverfahren zulässige Ausdehnung des
Streitgegenstands und kann daher beurteilt werden, zumal die Vorinstanz im
Sinne einer Eventualbegründung diese Begehren ebenfalls materiell beurteilt
hat. Angesichts des Ausgangs des Verfahrens kann jedoch offen bleiben, ob der
Erlass der Rückforderung zum Streitgegenstand gehört.

2.
Im Rahmen der Rückerstattungsverfügung sowie darüber hinaus ist umstritten,
ob die volljährige Tochter des Beschwerdeführers Anspruch auf eine
Waisenrente hat. Dies hängt entscheidend davon ab, ob sie sich noch in
Ausbildung im Sinne von Art. 25 Abs. 5 AHVG befindet oder nicht.

3.
3.1 Für die Zeit von Januar bis Juli 2005 absolvierte die Tochter des
Beschwerdeführers keine Ausbildung, sondern befand sich in einem normalen
Arbeitsvertragsverhältnis. Es lag auch kein vorgeschriebenes Praktikum für
die beabsichtigte Ausbildung vor, denn es hätte die Ausbildung schon früher
begonnen werden können, wenn ein Ausbildungsplatz zur Verfügung gestanden
hätte. Insoweit ist das Rechtsbegehren um Nachzahlung der Mutterwaisenrente
für die Zeit vom Januar bis September 2005 unbegründet und abzuweisen.
Allerdings begann die Ausbildung gemäss der Feststellung der Vorinstanz
bereits im August 2005. Sofern - was nachfolgend zu prüfen ist - während der
Ausbildung ein Rentenanspruch bestehen sollte, würde dieser somit bereits im
August 2005 beginnen.

3.2 Für die Zeit ab August 2005 befand sich die Tochter des Beschwerdeführers
unbestrittenermassen in Ausbildung. Diese Ausbildung bestand je in einem
Anteil Schule und Arbeit. Die Anforderungen an eine Ausbildung im Sinne von
Rz. 3359 der Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (RWL) sind damit grundsätzlich
erfüllt. Fraglich ist einzig, ob die Tochter dabei ein im Sinne von Rz. 3360
RWL wesentlich geringeres Einkommen als dasjenige eines Vollausgebildeten
erzielt hat.

3.2.1 Die massgebende Gerichtspraxis besagt, dass das Arbeitsentgelt dann als
wesentlich geringer betrachtet wird, wenn es um mehr als 25 % unter dem
ortsüblichen Anfangslohn für voll ausgebildete Erwerbstätige liegt (BGE 109 V
104 E. 2a, 106 V 147 E. 1, ZAK 1960 S. 318 E. 1; Rz. 3364 RWL). Es handelt
sich dabei nicht um einen Zeitvergleich, sondern um einen Einkommensvergleich
(BGE 109 V 104 E. 2a). Gemäss Rz. 3365 RWL gilt als Arbeitsentgelt und
massgebendes Vergleichseinkommen jenes Einkommen, welches eine Person für die
Tätigkeit erzielt, der vorwiegend Ausbildungscharakter zukommt
(Lehrlingslohn, Entschädigung für Volontariat).

3.2.2 Die Vorinstanz hat den von der Tochter des Beschwerdeführers im 80-
bzw. 70%-Pensum erzielten Lohn auf eine Vollzeitstelle umgerechnet, was dazu
führt, dass der massgebende Lohn mehr als 75 % desjenigen eines
Vollausgebildeten beträgt. Würde diese Umrechnung nicht vorgenommen, wäre der
Lohn mehr als ein Viertel tiefer als der ortsübliche Anfangslohn für voll
ausgebildete Erwerbstätige und wären damit die Voraussetzung für die
AHV-rechtliche Anerkennung als Ausbildung erfüllt. Es bleibt daher zu prüfen,
ob die Umrechnung des erhaltenen Lohnes auf 100 % zu Recht erfolgt ist.

3.2.3 In BGE 109 V 104 war der Fall eines Hochschulabsolventen zu
entscheiden, der nach seinem Lizentiat zu 80 % als Assistent an der
Universität arbeitete und daneben eine Dissertation schrieb. Das
Bundesgericht erwog damals, er verdiene proportional zu seinem Pensum das
gleiche Einkommen, das ein vollamtlicher Assistent erzielen würde (E. 2b).
Mit diesem Präjudiz lässt sich indessen die von der Vorinstanz vorgenommene
Umrechnung nicht stützen. Einerseits ist das Schreiben einer Dissertation
nicht zwingend mit einer Assistenzstelle verbunden, so dass die in Rz. 3365
RWL verlangte Voraussetzung des vorwiegenden Ausbildungscharakters nicht
erfüllt war. Andererseits betrug auch ohne solche Umrechnung das massgebliche
Einkommen mehr als 75 % des vollen Einkommens.

3.2.4 Vorliegend bilden aufgrund der Akten der Schulbesuch (20-30%) und die
Arbeit im Ausbildungsbetrieb (70-80%) zusammen als Einheit die Ausbildung. Es
ist mit dem Ausbildungsgang zwingend verbunden, dass kein 100 %
Arbeits-Pensum möglich ist. Es verhält sich damit ähnlich wie in einem
herkömmlichen Lehrverhältnis, bei welchem der Auszubildende an 3-4 Tagen pro
Woche im Lehrbetrieb arbeitet und an 1-2 Tagen die Schule besucht. Mit dem
Lehrlingslohn wird faktisch die Arbeit abgegolten, welche an den 3-4 Tagen im
Betrieb geleistet wird, auch wenn der Lehrvertrag mit dem Betrieb formell
nicht ein Teilzeitpensum ausweist. Es entspricht nicht dem Sinn von Art. 25
Abs. 5 AHVG, in solchen Fällen den erhaltenen Lohn auf 100 % umzurechnen,
denn der Lohn hängt unweigerlich mit dem Ausbildungsgang zusammen und trägt
dem aus diesem Grund reduzierten Arbeitspensum im Lehrbetrieb Rechnung. Dass
im vorliegenden Fall die Konstruktion etwas anders ist als im herkömmlichen
Lehrverhältnis, indem das Pensum im Betrieb auch formell nur 70 - 80%
beträgt, kann daran nichts ändern. Die Umrechnung des erzielten Lohnes auf
100 % ist daher zu Unrecht erfolgt.

3.3 Es bestand somit ab August 2005 ununterbrochen Anspruch auf Waisenrente,
selbstverständlich unter der Bedingung, dass und solange die Ausbildung
weitergeführt wird. Die Rückforderung ist daher unbegründet und es besteht
gegenteils Anspruch auf Nachforderung der Rentenbetreffnisse für August 2005
und - unter der genannten Bedingung - ab Oktober 2006.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten zu 2/5 dem
Beschwerdeführer und zu 3/5 der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs.
1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid der
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 2. April 2007 wird
aufgehoben, soweit darin die Rückzahlung der Waisenrente angeordnet und ein
Rentenanspruch für die Monate August 2005 sowie ab Oktober 2006 verneint
wurde. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer Fr. 200.-
und der Beschwerdegegnerin Fr. 300.- auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 14. September 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: