Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 127/2007
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9C_127/2007

Urteil vom 12. Februar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

J. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
26. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
J. ________ meldete sich im Juni 2001 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an unter Hinweis auf verschiedene gesundheitliche Probleme
(Schmerzen im Rücken [ausstrahlend bis ins Bein], im Nacken, in den
Schultern, in den Armen und im Bauch). Nach Abklärung der gesundheitlichen
und erwerblichen Verhältnisse, zu welchem Zweck die IV-Stelle Luzern unter
anderem bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) X.________ ein
Gutachten vom 13. Februar 2004 einholte, ermittelte die Verwaltung einen
Invaliditätsgrad von 30 % und verneinte gestützt hierauf den Anspruch auf
eine Invalidenrente (Verfügung vom 12. Oktober 2004). Auf Einsprache der
Versicherten hin veranlasste sie eine Nachbegutachtung durch die MEDAS
(Bericht vom 23. September 2005) und hielt gestützt darauf an ihrem
Standpunkt fest (Entscheid vom 25. Oktober 2005).

B.
Die von J.________ hiergegen mit dem Antrag auf Aufhebung des
Einspracheentscheides und Zusprechung einer ganzen Invalidenrente erhobene
Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom
26. Februar 2007 ab. Des Weitern sprach es J.________ aufgrund einer von der
IV-Stelle begangenen Verletzung des rechtlichen Gehörs, welche im kantonalen
Beschwerdeverfahren als geheilt betrachtet wurde, eine reduzierte
Parteientschädigung zu.

C.
J.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und das Rechtsbegehren stellen, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und
ihr mit Wirkung ab 1. August 2001 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Die hiefür
massgebenden Bestimmungen werden in Einspracheentscheid zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die IV-Stelle die Beschwerdeführerin
über die im Rahmen des Einspracheverfahrens erfolgte Nachbegutachtung durch
die MEDAS weder informiert noch ihr Gelegenheit gegeben hat, Fragen zu
stellen; ebenso wenig wurde ihr der entsprechende MEDAS-Bericht vom 23.
September 2005 vor Erlass des Einspracheentscheides zur Kenntnis gebracht
oder Gelegenheit geboten, dazu Stellung zu nehmen. Wie bereits im kantonalen
Verfahren macht die Beschwerdeführerin diesbezüglich eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) geltend.

2.1 Gemäss Art. 44 ATSG gibt der Versicherungsträger, wenn er zur Abklärung
des Sachverhaltes ein Gutachten einer oder eines unabhängigen
Sachverständigen einholen muss, der Partei deren oder dessen Namen bekannt
(Satz 1). Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen und kann
Gegenvorschläge machen (Satz 2). Ausgehend von der Überlegung, dass es nicht
Sinn und Zweck dieser Bestimmung sein könne, dass sich die Parteien vor oder
zusammen mit der Gutachtensanordnung über die Fragen zuhanden der
medizinischen Sachverständigen zu einigen hätten, hat das Bundesgericht in
BGE 133 V 446 erkannt, dass Art. 44 ATSG für das Sozialversicherungsverfahren
mit Bezug auf die Parteirechte hinsichtlich der Fragen an die
Sachverständigen insofern abschliessend ist, als das Bundesgesetz der
versicherten Person keinen Anspruch einräumt, sich vorgängig zu den
Gutachterfragen der Verwaltung zu äussern (so dass - mit anderen Worten - die
darüber hinausgehende Regelung von Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57
Abs. 2 BZP und Art. 55 ATSG keine Anwendung findet). Es erwog, die Rechte der
versicherten Person blieben insofern gewahrt, als sie sich im Rahmen des
rechtlichen Gehörs zum Beweisergebnis äussern und erhebliche Beweisanträge
vorbringen könne (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG; vgl. auch BGE 132 V 368).
Dem stehe nicht entgegen, dass der Versicherungsträger der versicherten
Person zur besseren Akzeptanz in der Praxis die Expertenfragen vorgängig zur
Stellungnahme unterbreite.

2.2 Im Lichte dieser Rechtsprechung lässt sich nicht beanstanden, dass der
Beschwerdeführerin vor der Einholung der zusätzlichen Stellungnahme der MEDAS
vom 23. September 2005 nicht Gelegenheit gegeben wurde, sich zur
Fragestellung zu äussern. Beizupflichten ist der Beschwerdeführerin
demgegenüber, soweit sie geltend macht, der zusätzliche Bericht der MEDAS vom
23. September 2005 hätte ihr vor dem Erlass des Einspracheentscheides
zugestellt werden müssen (vgl. auch BGE 128 V 272 E. 5b/bb S. 278; 125 V 332
E. 4b S. 337; Urteil I 435/05 vom 12. September 2005, E. 1). Allerdings war
dieser Mangel, entgegen der von ihr vertretenen Auffassung, einer Heilung im
kantonalen Verfahren zugänglich, weil es sich bei der Beschwerde nach Art. 56
ff. ATSG um ein vollkommenes Rechtsmittel handelt, welches eine Überprüfung
des angefochtenen Entscheides in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht
ermöglicht. Im Übrigen wäre rechtsprechungsgemäss von einer Rückweisung der
Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Verwaltung selbst bei einer
schwer wiegenden Verletzung des rechtlichen Gehörs abzusehen, wenn und soweit
die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen
Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten)
Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der
Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweisen).

Die Beschwerdeführerin erhielt im kantonalen Verfahren ohne Einschränkungen
Gelegenheit, sich zum streitigen Bericht vom 23. September 2005 zu äussern
und allfällige Zusatzfragen zu stellen. Der Umstand, dass sie davon keinen
Gebrauch gemacht hat, liesse die von ihr im letztinstanzlichen Verfahren
anbegehrte Rückweisung der Sache als formalistischen Leerlauf und mit dem
Interesse einer Erledigung des Verfahrens innert nützlicher Frist nicht
vereinbar erscheinen. Soweit sie in der Beschwerde ans Bundesgericht
vorbringt, sie habe vor Vorinstanz keine Zusatzfragen gestellt, weil sie
davon ausgegangen sei, der Einspracheentscheid werde ohnehin aufgehoben,
steht dies nicht im Einklang mit dem in der damaligen Beschwerde erhobenen
Rechtsbegehren, hatte die Versicherte doch in der an die Vorinstanz
gerichteten Eingabe nicht nur ein kassatorisches, sondern auch ein
reformatorisches Rechtsbegehren (auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente)
gestellt, und zwar nicht bloss als Eventualbegehren. Des Weitern hat sie sich
in der Beschwerde materiell mit dem angefochtenen Einspracheentscheid
auseinandergesetzt. Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz zu Recht eine
Heilung des Mangels angenommen und korrekterweise der Gehörsverletzung durch
Zusprache einer (reduzierten) Parteientschädigung Rechnung getragen (vgl.
Urteil I 718/05 vom 8. November 2006, E. 5.2).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat aufgrund einer umfassenden Würdigung der
medizinischen Akten, namentlich des Gutachtens der MEDAS vom 13. Februar 2004
und dessen Ergänzung vom 23. September 2005, in tatsächlicher Hinsicht für
das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin aus
allein psychischen Gründen in ihrer Arbeitsfähigkeit um 30 % eingeschränkt
ist. Dies ist eine auf Beweiswürdigung beruhende Sachverhaltsfeststellung,
welche nur in den Schranken von Art. 97 und 105 BGG überprüft werden kann
(BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.).
3.2 Zu Unrecht wird in der Beschwerde geltend gemacht, die Vorinstanz habe
sich nur mit dem Zeitraum ab der Begutachtung durch die MEDAS befasst, wird
doch im angefochtenen Entscheid die gesamte Aktenlage ab August 2000
gewürdigt. Nicht gefolgt werden kann auch dem Einwand, die Annahme einer
Arbeitsunfähigkeit von 30 % sei offensichtlich unrichtig und der Sachverhalt
insoweit unvollständig festgestellt worden, als das Ausmass der sich aus der
somatoformen Schmerzstörung ergebenden Arbeitsunfähigkeit nicht gutachterlich
abgeklärt worden sei. Im Gutachten der MEDAS vom 13. Februar 2004 wurde zwar
als einzige Diagnose mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit eine
somatoforme Störung (ICD-10 F45.9) mit Anteilen einer somatoformen
Schmerzstörung und einer dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörung
festgestellt; die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit wurde aber
ausschliesslich gestützt auf ein dysphorisches, leicht depressives Bild mit
30 % angegeben (vgl. Teilgutachten des Dr. med. M.________, Spezialarzt FMH
für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 10. Dezember 2003). Auf Anfrage der
IV-Stelle erläuterte Dr. med. M.________ in seinem Schreiben vom 31. Mai
2004, dass er im von ihm erstellten psychiatrischen Teilgutachten vom
10. Dezember 2003 dem Umstand Rechnung getragen habe, dass eine einzig auf
psychosozialen Belastungsfaktoren beruhende somatoforme Schmerzstörung keinen
invalidisierenden Gesundheitsschaden darstelle; beeinträchtigt werde die
Arbeitsfähigkeit der Versicherten aber durch ein dysphorisches Stimmungsbild
im Sinne einer anhaltenden affektiven Störung (Dysthymia ICD-10 F34.1).
Aufgrund dieser Präzisierungen des Gutachters im Schreiben vom 31. Mai 2004
steht fest, dass - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin und anders
als im angefochtenen Entscheid wiedergegeben - aus der somatoformen Störung
(F45.9) keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit resultiert; die von der
Beschwerdeführerin erhobene Rüge, der Sachverhalt sei diesbezüglich
unvollständig festgestellt worden, stösst damit ins Leere. Gestützt auf die
überzeugenden Aussagen des Dr. med. M.________ im Teilgutachten vom 10.
Dezember 2003 und im Schreiben vom 31. Mai 2004 ist vielmehr davon
auszugehen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der diagnostizierten
Dysthymia (ICD-10 F34.1) in ihrer Arbeitsfähigkeit um 30 % eingeschränkt ist.
Dass die Vorinstanz bei dieser Sachlage auf die Durchführung weiterer
medizinischer Abklärungen verzichtet hat, lässt sich nicht beanstanden.

4.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Februar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann