Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 101/2007
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9C_101/2007

Urteil vom 12. Juni 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

H. ________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt David Husmann, Untermüli 6, 6300 Zug,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 14. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene H.________, gelernter Automechaniker, führte einen eigenen
Garagebetrieb, als er am 21. März 2002 als Lenker eines Personenwagens einen
Verkehrsunfall erlitt. Im Rahmen der Abklärung und Behandlung am Spital
X.________ wurde die Diagnose einer HWS-Distorsion Grad II mit
Bandscheibenvorwölbung C3/4 gestellt. Trotz der ambulant und stationär
durchgeführten konservativen Therapien sowie einer Nervenwurzelneurolyse C4
links persistierten belastungsabhängige Schmerzen im Nacken- und
Lumbalbereich. Anfang Juni 2003 meldete sich H.________ bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. U.a. liess sie
den Versicherten im Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) untersuchen
(Expertise vom 15. Juli 2005). Mit Verfügung vom 7. September 2005 verneinte
die IV-Stelle den Anspruch von H.________ auf eine Invalidenrente und
berufliche Massnahmen, was sie mit Einspracheentscheid vom 21. Februar 2006
bestätigte.

B.
Die Beschwerde des H.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 14. Februar 2007 ab.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 14. Februar 2007 sei aufzuheben und
die Sache sei an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme und einen Antrag zur
Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Feststellungen des kantonalen Gerichts zum Gesundheitszustand (Befund,
Diagnose, Prognose etc.) und zur trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung
zumutbaren Arbeitsfähigkeit sind somit grundsätzlich lediglich unter
eingeschränktem Blickwinkel überprüfbar (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397).

2.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG sowie BGE
128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343 sowie Urteil I 1/03 vom
15. April 2003 E. 5.2) einen Invaliditätsgrad von maximal 35 % ermittelt, was
keinen Anspruch auf eine Rente ergibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Beim
Invalideneinkommen ist es von einer trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung
zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 80 % im angestammten Beruf als Automechaniker
entsprechend der Einschätzung im ZMB-Gutachten vom 15. Juli 2005 ausgegangen.

3.
Der Beschwerdeführer rügt, die vorinstanzliche Feststellung einer
Arbeitsfähigkeit von 80 % im bisherigen Beruf beruhe auf einer Verletzung von
Bundesrecht. Das kantonale Gericht habe zu Unrecht die nach Erlass des
Einspracheentscheides vom 21. Februar 2006 erstellten Berichte des Zentrums
Z.________ vom 22. und 24. Mai 2006 über den Befund der am 15., 17. und 24.
des Monats durchgeführten funktionellen MRI aus dem Recht gewiesen oder
diesen Dokumenten keine entscheidrelevante Bedeutung beigemessen.

3.1 Nach der Rechtsprechung erstreckt sich die gerichtliche
Überprüfungsbefugnis in zeitlicher Hinsicht bis zum Erlass des
Einspracheentscheides (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354, BGE 121 V 362 E. 1b
S. 366). Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, haben somit
grundsätzlich ausser Acht zu bleiben. Diese Regel gilt indessen nicht in
Bezug auf Umstände, die mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang
stehen und die geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Erlasses des
Einspracheentscheides zu beeinflussen (BGE 118 V 200 E. 3a in fine S. 204;
BGE 99 V 98 E. 4 S. 102; AHI 2000 S. 33 E. 1b [I 270/92]).

3.2
3.2.1 Gemäss den Berichten des Zentrums Z.________ vom 22. und 24. Mai 2006
ergaben die funktionellen MRI der HWS sowie der Kopfgelenke als Hauptbefund
einen Zustand nach einer Teilruptur beider Ligamenta alaria mit dadurch
bedingter Instabilität der Kopfgelenke. Die Aufnahmen zeigten eindeutig eine
Verdickung und eine Inhomogenität dieser vom medialen Rand der
Hinterhauptkondylen zu den oberen Gelenkflächen des Atlas führenden
Flügelbänder (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 260. Aufl., S. 1047).
Ferner zeigten sich diskrete Randwulstbildungen der Gelenkflächen im Bereich
der oberen und unteren Kopfgelenke. Es wurde darauf hingewiesen, dass bereits
auf den Voraufnahmen vom 6. April 2004 und 17. August 2005 eine Inhomogenität
und Ausdünnung im lateralen Anteil beider Ligamenta alaria erkennbar gewesen
sei. Auch der Neurologe Dr. med. R.________ erwähnte in seinen Berichten vom
30. April 2003 und 13. Juli 2005 eine in allen Richtungen endgradig
eingeschränkte Kopfbeweglichkeit resp. eine schmerzbedingte
Bewegungseinschränkung der HWS mit mässig palpatorisch verdickter und
druckdolenter Nacken- und Schultermuskulatur.
Aufgrund dieser Akten lässt sich eine Verletzung der Ligamenta alaria vor
Erlass des Einspracheentscheides vom 21. Februar 2006 nicht rechtsgenüglich
ausschliessen. Daran ändert nichts, dass in der Expertise des ZMB vom
15. Juli 2005 keine Ruptur oder Läsion der Flügelbänder erwähnt wurde. Die
Gutachter hatten keine radiologischen Abklärungen vorgenommen. Ob sie die
Bilder der im Bericht des Zentrums Z.________ erwähnten MRI der HWS vom
4. April 2003 und 6. April 2004 gesehen und allenfalls selber interpretiert
hatten, ist fraglich. Die im Mai 2005 mittels funktionellem MRI festgestellte
Bandverletzung im Bereich der HWS steht somit in engem Sachzusammenhang mit
dem streitigen Anspruch auf berufliche Massnahmen und/oder eine Rente und ist
daher, soweit entscheidwesentlich, zu berücksichtigen.

3.2.2 Nach sinngemässer Auffassung des kantonalen Gerichts änderte eine vor
Erlass des Einspracheentscheids tatsächlich bestandene Verletzung der
Ligamenta alaria an der Arbeitsfähigkeit gemäss ZMB-Gutachten vom 15. Juli
2005 nichts. Demgegenüber kann laut Beschwerdeführer heute als gesichert
gelten, dass Ligamentsverletzungen und verwandte Weichteilverletzungen im
cranio-vertebralen Übergang erhebliche Beschränkungen in der Leistungs- und
Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen können. Zum Beleg hiefür verweist er auf
den im Periodikum SPINE (vol. 31 no 24 p. 2820-2826) erschienenen
wissenschaftlichen Artikel «MRT-Darstellung der craniovertebralen Ligamente
und Membranen nach einem Schleudertrauma» von Jostein Krakenes und Bertel R.
Kaale. Danach sind die Ligamenta alaria die wichtigsten Strukturen, welche
die axiale Rotation und die laterale Bewegung im Bereich der oberen
Halswirbelsäule begrenzen. Aufgrund statistisch ausgewerteter Untersuchungen
kommen die Autoren u.a. zum Schluss, dass diese Bänder eine wesentliche Rolle
auch in Kombination mit Läsionen von anderen Strukturen zu spielen scheinen,
was die frühere Hypothese stützt, dass sie als Ursachenfaktor für Schmerzen
und Einschränkung beim chronischen Schleudertrauma wichtig sind. Beim
Beschwerdeführer besteht nachweislich eine cervicale Diskushernie
mediolateral rechtsseitig C3/4.
Die klinische Untersuchung im Rahmen der ZMB-Begutachtung ergab eine normale
Halswirbelsäulenbeweglichkeit mit Fehlen von muskulären pathologischen
Befunden. Dieser Befund scheint gegen die Annahme zu sprechen, dass die im
Zentrum Z.________ mittels funktionellem MRI festgestellte Verletzung der
Ligamenta alaria Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben kann und
tatsächlich auch hatte. Zu beachten ist indessen Folgendes: Der
Beschwerdeführer hatte am 21. März 2002 einen Verkehrsunfall erlitten. In der
Folge wurde die Diagnose einer HWS-Distorsion Grad II mit
Bandscheibenvorwölbung C3/4 gestellt. Die Nackenschmerzen konnten jedoch mit
grosser Wahrscheinlichkeit nicht auf die Protrusion C3/4 zurückgeführt werden
(Berichte Spital X.________ vom 23. August 2002 und Klinik Y.________ vom
27. Januar 2003). Laut dem erwähnten SPINE-Artikel können offenbar jedoch
verletzte Ligamenta alaria in Kombination mit anderen beschädigten Strukturen
als Ursachenfaktor für Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der HWS wichtig
sein. Ob die Ligamenta alaria beim Unfall vom 21. März 2002 oder in einem
späteren Zeitpunkt geschädigt wurden und die Verletzung nicht richtig
ausheilte, kann aufgrund der Akten nicht gesagt werden. Dies ändert indessen
nichts an dem vom Zentrum Z.________ mittels Funktionsaufnahmen erhobenen
Befund eines Zustandes nach Teilruptur beider Flügelbänder mit dadurch
bedingter Instabilität der Kopfgelenke. Die Therapie solcher Verletzungen
scheint schwierig und Spätfolgen im Sinne von für Zerviko-Zephalsyndrome
typischen Beschwerden nicht selten zu sein (Alfred M. Debrunner, Orthopädie.
Orthopädische Chirurgie, 4. Aufl., S. 797 und 803). Es lässt sich somit nicht
hinreichend sicher ausschliessen, dass ein organisches Substrat für die
geklagten Beschwerden vorliegt, was im Gegensatz zur Diagnose einer
Somatisierungsstörung auf rein psychogenem Hintergrund gemäss Gutachten des
ZMB vom 15. Juli 2005 stünde und allenfalls Implikationen für die zumutbare
Arbeitsfähigkeit hätte. Die vorinstanzliche Annahme, aus den neuen Unterlagen
gehe nicht hervor, inwieweit neue Befundes an der Arbeitsfähigkeit etwas
ändern sollten, stellt somit eine bundesrechtswidrige Nichtberücksichtigung
tauglicher Beweismittel dar. Eine Konfrontation der Gutachter des ZMB mit den
Befunden des Zentrums Z.________ scheint angezeigt (vgl. auch Urteil U 20/03
vom 19. Januar 2004 E. 4.2.1). Je nachdem sind allenfalls weitere
medizinische Abklärungen erforderlich, um den streitigen Anspruch auf
berufliche Massnahmen und/oder eine Rente in zuverlässiger Weise beurteilen
zu können. Zu diesem Zweck ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Verwaltung dem
Beschwerdeführer eine u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG und Art. 3 Abs. 1 und 3
des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die
Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem
Bundesgericht).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 14. Februar 2007 und der Einspracheentscheid vom
21. Februar 2006 aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons
Aargau zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen
über den Anspruch des Beschwerdeführers auf berufliche Massnahmen und/oder
eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Aargau
auferlegt. Dem Beschwerdeführer wird der geleistete Kostenvorschuss in dieser
Höhe zurückerstattet.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat die Parteientschädigung für
das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 12. Juni 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: