Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.808/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_808/2007

Urteil vom 16. Mai 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Parteien
S.________, 1955, Hauptpost, 9001 St. Gallen, Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid
der AHV/IV-Rekurskommision des Kantons Thurgau vom 6. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 im Gaza-Streifen geborene S.________ reiste im Jahr 1998 aus dem Irak,
in welchem er sich zuletzt aufgehalten hatte, in die Schweiz ein, wo er als
Flüchtling ohne Nationalität vorläufig aufgenommen wurde. Im Mai 2006 meldete
er sich für Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons
Thurgau traf erwerbliche und medizinische Abklärungen (u.a. Einholung eines
MEDAS-Gutachtens vom 15. März 2007) und verneinte mit Verfügung vom 21. Mai
2007 einen Anspruch auf eine ordentliche Invalidenrente. Zur Begründung wurde
ausgeführt, S.________ sei bereits bei der Einreise in die Schweiz invalid
gewesen und habe daher die für einen Rentenanspruch erforderliche
Mindestbeitragsdauer nicht erfüllt.

B.
Die von S.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies die AHV/
IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau (seit 1. Januar 2008:
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau) mit Entscheid vom 6. November 2007 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuert S.________
sein Rentenbegehren mit der Begründung, er sei erst in der Schweiz invalid
geworden. Weiter ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur
Sache zu äussern. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Mit Eingabe vom 12. Januar 2008 legt S.________ einen Arztbericht vom 20.
Dezember 2007 auf.

Erwägungen:

1.
Auf die formal knapp den gesetzlichen Mindestanforderungen (Art. 42 BGG)
genügende Beschwerde ist einzutreten.

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht kann
es nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise
vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.
Vorinstanz und Verwaltung verneinen den Anspruch auf eine ordentliche
Invalidenrente der schweizerischen Invalidenversicherung mit der Begründung,
der Beschwerdeführer sei bei der Einreise in die Schweiz bereits invalid
gewesen. Er habe daher die erforderliche Mindestbeitragsdauer bis zum Eintritt
der Invalidität nicht erfüllt.

4.
Der Anspruch von Schweizern und ausländischen Staatsangehörigen auf eine
ordentliche Invalidenrente der schweizerischen Invalidenversicherung setzt
unter anderem voraus, dass bei Eintritt der Invalidität während einer
bestimmten Zeit Beiträge geleistet wurden (Art. 6 Abs. 1 [in der seit Anfang
2001 geltenden Fassung] und Abs. 2 [je in der bis und der seit Anfang 1997
geltenden Fassung], Art. 36 Abs. 1 IVG). Nichts anderes gilt für Flüchtlinge
und Staatenlose mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz (Art. 1
Abs. 1 und Art. 3bis des Bundesbeschlusses über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge und Staatenlosen in der Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung vom 4. Oktober 1962, FlüB, SR 831.131.11; zu den
Staatenlosen auch: Art. 6 Abs. 1 IVG).

Hievon abweichende Regelungen, mit welchen auf Sozialversicherungsabkommen mit
anderen Staaten oder (wie in Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 IVG)
auf unter 20jährige Personen Bezug genommen wird, kommen im vorliegenden Fall
mangels entsprechender Abkommen resp. Sachverhalte nicht zur Anwendung.

5.
War der Beschwerdeführer bei der Einreise in die Schweiz bereits invalid, wie
von der Vorinstanz entschieden, kann er die erforderliche Beitragszeit bis zum
Eintritt der Invalidität nicht erfüllt haben und ist nach dem zuvor Gesagten
der Anspruch auf eine ordentliche Invalidenrente, ohne dass deren weitere
Voraussetzungen noch zu prüfen wären, zu verneinen.

5.1 Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen und Grundsätze zu Begriff
und Eintritt der Invalidität sowie zum für eine Invalidenrente erforderlichen
Invaliditätsgrad und dessen Bestimmung zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

Hervorzuheben ist, dass die Invalidität als eingetreten gilt, sobald sie die
für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art
und Schwere erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG).

5.2 Die Rekurskommission ist zum Ergebnis gelangt, dass als anspruchsrelevanter
Gesundheitsschaden eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliege. Sie hat weiter
erwogen, dieses Leiden habe die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit bereits im Zeitpunkt der Einreise in der
Schweiz in einer den Anspruch auf eine Invalidenrente begründenden Weise
eingeschränkt. Zur Begründung wird im angefochtenen Entscheid namentlich auf
das MEDAS-Gutachten vom 15. März 2007 verwiesen.

Der Beschwerdeführer erhebt Einwendungen gegen die MEDAS-Expertise. Er
bestreitet zudem ausdrücklich, bereits bei der Einreise in die Schweiz invalid
gewesen zu sein.

5.3 Im MEDAS-Gutachten vom 15. März 2007 wird ausgeführt, aus somatischer Sicht
bestehe durch eine Diabetes-Krankheit insofern eine Beeinträchtigung, als auf
eine geregelte Mahlzeiteneinnahme zu achten sei und Arbeiten mit häufigen
Schichtwechsel und Nachtarbeit zu vermeiden seien. In psychischer Hinsicht
liege eine schwere expansiv paranoische Persönlichkeitsstörung bei Verdacht auf
eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Wegen dieses Leidens sei der
Versicherte keinem Arbeitgeber zumutbar. Eine Persönlichkeitsstörung entstehe
in der Kindheit resp. im jungen Erwachsenenalter. Mit hoher Wahrscheinlichkeit
habe der Gesundheitsschaden bereits vor der Einreise in der Schweiz bestanden.
Auch für den Fall, dass eine posttraumatische Belastungsstörung vorliege, sei
davon auszugehen, dass dieses Leiden bereits bei der Einreise in die Schweiz
bestanden habe.
Soweit im Rahmen der bundesgerichtlichen Überprüfungsbefugnis beurteilbar, gibt
die MEDAS-Expertise zu Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit im Zeitpunkt der
Begutachtung umfassend und überzeugend Antwort, weshalb es mit der Vorinstanz
als beweiswertig anzusehen ist. Formelle oder inhaltliche Mängel, welche
Zweifel an der Verlässlichkeit der gutachterlichen Aussagen zu begründen
vermöchten, liegen entgegen der Beschwerde nicht vor. Insbesondere bestehen
keine die Vorbringen des Beschwerdeführers stützenden Anhaltspunkte dafür, dass
bei der MEDAS-Begutachtung unsachlich oder in einer anderen, gegebenenfalls den
Ausstand von MEDAS-Experten rechtfertigenden Weise vorgegangen wurde. Es kann
auf die Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen werden.

Der nachträglich aufgelegte Arztbericht vermöchte an diesem Ergebnis nichts zu
ändern, weshalb die Frage seiner prozessualen Zulässigkeit offen bleiben kann.

5.4 Eine andere Frage ist, ob die Gesundheitsstörung bereits bei der Einreise
in die Schweiz in anspruchsrelevanter Weise bestanden hat. Die Vorinstanz
bejaht dies.
5.4.1 Vorab ist festzustellen, dass es generell und namentlich bei psychischen
Störungen schwierig ist, rückwirkend und überdies für einen weit
zurückliegenden Zeitraum die Arbeitsfähigkeit zuverlässig zu beurteilen (vgl.
Urteil I 31/06 vom 20. Januar 2007, E. 3.2 mit Hinweisen; sodann Urteil 8C_615/
2007 vom 14. April 2008, E. 2.2.1; SVR 2008 IV Nr. 11 S. 11, I 687/07, E. 5.1).
Hinzukommt, dass in der MEDAS-Expertise vom 15. März 2007 nicht gesagt wird,
der Gesundheitsschaden habe bereits bei der Einreise in die Schweiz in
rentenbegründendem Weise bestanden. Einzig der RAD-Arzt äusserte sich am 19.
März 2007 dahingehend, der Versicherte sei mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit mit diesem Gesundheitsschaden in dieser Ausprägung in die
Schweiz eingereist. Diese Interpretation der MEDAS-Expertise geht indessen über
die gutachterlichen Feststellungen hinaus. Sie wird vom RAD-Arzt auch nicht
weiter begründet. Den übrigen medizinischen Akten lässt sich Entsprechendes
ebenfalls nicht zuverlässig entnehmen.
5.4.2 Der Beschwerdeführer macht sodann geltend, er sei nach der Einreise in
die Schweiz erwerbstätig gewesen. Aktenkundig ist, dass er in der Schweiz durch
die Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 2001 bis 30. September 2003 als
voll vermittlungsfähig betrachtet wurde. Dies lässt eine rentenbegründende
Invalidität im damaligen Zeitpunkt eher fraglich erscheinen. Ansonsten hätte
die Arbeitslosenkasse mutmasslich eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung
veranlasst (Urteil 8C_615/2007 vom 14. April 2008, E. 2.2). Für die Zeit davor
liegt zudem ein Arbeitszeugnis des HEKS vom 28. September 2001 auf. Darin wird
bestätigt, dass der Versicherte vom 1. April bis 30. September 2001 in einem
Programm zur Arbeitsintegration tätig gewesen sei. Dabei habe er Aufgaben in
Forst und Naturschutz sowie einzelne Aufträge, wie Umzüge, zur vollen
Zufriedenheit der Auftraggeber ausgeübt.
5.4.3 Aufgrund der dargelegten Gesichtspunkte hätte Anlass bestanden, weiter
abzuklären, ob der Beschwerdeführer tatsächlich schon rentenbegründend invalid
in die Schweiz eingereist ist. Der vorinstanzliche Entscheid beruht demnach auf
einer unvollständigen Sachverhaltsfeststellung. Dies stellt eine vom
Bundesgericht zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 (lit. a)
BGG dar (Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern
2007, N 24 zu Art. 97; Markus Schott, Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz
[BGG], Basel 2008, N 6 und 19 zu Art. 97). An weiteren Beweismassnahmen bietet
sich nebst Ergänzungsfragen an die psychiatrischen Gutachter der Beizug der
Verwaltungsakten über das Verfahren betreffend Asyl resp. vorläufige Aufnahme
an. Gegebenenfalls sind auch Zeugenbefragungen durchzuführen. Die Sache wird
hiefür an die Vorinstanz zurückgewiesen.

6.
Die Gerichtskosten sind von der unterliegenden IV-Stelle zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG). Damit ist das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von Gerichtskosten als hinfällig zu
betrachten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid der AHV/
IV-Rekurskommision des Kantons Thurgau vom 6. November 2007 aufgehoben und die
Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 16. Mai 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V. Leuzinger Lanz