Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.702/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_702/2007

Urteil vom 17. Juni 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

M.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch die Amtsvormundschaft X.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 1. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1985 geborene M.________ bezieht seit August 2004 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung. Ab 4. Februar 2005 sass sie wegen des Verdachts auf
vorsätzliche Tötung und Brandstiftung in Untersuchungshaft. Ab 1. April 2005
trat sie den vorzeitigen Strafvollzug an. Schliesslich wurde sie mit Urteil des
Bezirksgerichts vom 12. Juli 2006 schuldig gesprochen und zu einer
Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Nachdem die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen mit Schreiben vom 11. Oktober 2006 über die rechtskräftige
Verurteilung informiert worden war, sistierte sie den Rentenbezug rückwirkend
ab 1. März 2005 (Verfügung vom 29. November 2006) und forderte bereits bezahlte
Beträge in der Höhe von insgesamt Fr. 30'093.- zurück (Verfügung vom 30.
November 2006).

B.
Die gegen beide Verfügungen erhobene Beschwerde, mit welcher M.________ die
Leistungssistierung und Rückforderung in der Zeit vom 1. März 2005 bis zu ihrer
Verurteilung am 12. Juli 2006 angefochten hatte, hiess das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 1. Oktober 2007 teilweise gut, hob die
angefochtenen Verfügungen auf und wies die Angelegenheit zu weiterer Abklärung
und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurück.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des
Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Oktober
2007.
M.________, vertreten durch ihren Beistand, verzichtet auf eine Stellungnahme.
Die IV-Stelle ersucht um deren Gutheissung während das kantonale Gericht auf
Abweisung schliesst.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen Vor- oder
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481). Die
Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der
Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit.
a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).
Der vorinstanzliche Entscheid präjudiziert, dass die Sistierung des
Rentenanspruchs ganz oder teilweise davon abhängt, ob die Versicherte im
Strafvollzug trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung einer Arbeit
nachgehen kann und welches Entgelt sie gegebenenfalls dabei erzielt. Ob die
Voraussetzung eines erheblichen Aufwandes an Zeit oder Kosten erfüllt ist, kann
offenbleiben. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass der angefochtene Entscheid
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirkt. Ein solcher wird nach der
Rechtsprechung dann angenommen, wenn durch materiellrechtliche Anordnungen im
Rückweisungsentscheid der Beurteilungsspielraum der unteren Instanz wesentlich
eingeschränkt wird. Diese wird aufgrund des angefochtenen Entscheides
verpflichtet, Feststellungen auf einer Grundlage vorzunehmen, die sie als
rechtswidrig erachtet, weil es die Frage, ob ein Rentenanspruch während eines
Aufenthaltes in einer Strafvollzugsanstalt sistiert werden kann davon abhängig
macht, was die versicherte Person im Strafvollzug (im weitesten Sinne)
verdienen kann und nicht nur, ob dieser im geschlossenen Rahmen oder in
Halbgefangenschaft absolviert wird. In dieser Konstellation führt der
Rückweisungsentscheid deshalb zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil,
weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist (vgl. BGE 133 V 477, E. 5.2.4 S.
484).

3.
Streitig und zu prüfen ist die Rechtsfrage, ob die Ausrichtung der
Invalidenrente der Beschwerdeführerin während der Dauer der Untersuchungshaft
und des vorzeitigen Strafvollzuges sistiert werden kann.

3.1 Die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter kann gemäss
Art. 21 Abs. 5 ATSG ganz oder teilweise eingestellt werden, solange sich die
versicherte Person im Straf- oder Massnahmenvollzug befindet; ausgenommen sind
die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Art. 21 Abs. 3 ATSG. In BGE 133
V 1 wurde entschieden, dass Art. 21 Abs. 5 ATSG an der bisherigen
Rechtsprechung (BGE 116 V 323), wonach Untersuchungshaft von gewisser Dauer in
gleicher Weise Anlass zur Rentensistierung gibt wie jede andere Form des von
einer Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges, nichts geändert hat. Ratio
legis ist dabei die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten
Person, welche durch einen Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Entscheidend
ist, dass eine verurteilte Person wegen der Verbüssung einer Strafe an einer
Erwerbstätigkeit verhindert ist. Nur wenn die Vollzugsart der verurteilten
versicherten Person die Möglichkeit bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und
somit selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet es sich, den
Rentenanspruch zu sistieren (BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6).

3.2 Was die Ausrichtung der Invalidenrente während der Untersuchungshaft
anbelangt, befolgt die Vorinstanz die Rechtsprechung des Bundesgerichts und
lässt die Sistierung der Rente durch die IV-Stelle grundsätzlich zu. Bezüglich
des vorzeitigen Strafvollzuges hält das kantonale Gericht fest, dass dieser,
gleich wie die Untersuchungshaft, vom Wortlaut des Art. 21 Abs. 5 ATSG nicht
erfasst werde, insgesamt aber doch näher beim Strafvollzug als bei der
Untersuchungshaft anzusiedeln und daher im Anwendungsbereich dieser Bestimmung
ersterem gleichzustellen sei. Bei Art. 21 Abs. 5 ATSG handle es sich indessen -
so die Vorinstanz - um eine Kann-Vorschrift, weshalb durch eine
einzelfallbezogene Prüfung abzuklären sei, ob durch die weitere
Rentenausrichtung eine geradezu stossende Besserstellung des invaliden
gegenüber dem validen Gefangenen resultieren würde. Insbesondere sei zu prüfen,
ob dem invaliden - wie dem validen - Gefangenen eine Arbeit nach Art. 81 Abs. 1
StGB möglich sei, inwiefern er dadurch ein Startkapital ersparen könne (Art. 83
Abs. 2 StGB) und ob er an den Vollzugskosten beteiligt werde (Art. 380 StGB).

4.
Im Urteil Z. vom 25. Oktober 2007 (SZS 2008 S. 165 [8C_176/2007]) in welchem
sich bei vergleichbarem Sachverhalt dieselben Rechtsfragen stellten, hat das
Bundesgericht festgestellt, dass Anlass zur Rentensistierung gemäss Art. 21
Abs. 5 ATSG grundsätzlich - in Abweichung vom Wortlaut der Norm - neben der
Untersuchungshaft (BGE 133 V 1) auch der vorzeitige Strafvollzug gibt (E. 4.2).
Ebenso wurde im angeführten Entscheid dargelegt, dass die Kann-Vorschrift von
Art. 21 Abs. 5 ATSG es erlaubt, den besonderen Umständen Rechnung zu tragen,
wenn eine gesunde Person trotz Straf- oder Massnahmenvollzug einer
Erwerbstätigkeit nachgehen könnte - wie in der Halbgefangenschaft oder
Halbfreiheit -, dass die Arbeitspflicht gemäss Art. 81 Abs. 1 StGB aber nicht
unter diese Erwerbstätigkeit fällt. Eine solche liegt nur dann vor, wenn das
für die Arbeit entrichtete Entgelt ungefähr dem entspricht, was auf dem
Arbeitsmarkt dafür zu erwarten wäre, es sich also um eigentlichen Lohn und
nicht um ein blosses Pekulium handelt. Wie im Urteil vom 25. Oktober 2007
bereits ausgeführt, müssen invalide Strafgefangene keine Rückstellungen für den
Wiedereinstieg ins Erwerbsleben machen können, da sie dannzumal wieder in den
Genuss der bloss sistierten Rente kommen. Ebenso wenig ist eine
Weiterausrichtung der Rente dafür notwendig, um eine Beteiligung an den Kosten
des Straf- oder Massnahmenvollzugs zu ermöglichen, da mit einer solchen gemäss
Art. 380 StGB bei invaliden Gefangenen nicht zu rechnen ist (a.a.O. E. 4.2).
Vorliegend besteht keine Veranlassung diese neuere Rechtsprechung zu überprüfen
oder in Frage zu stellen.

5.
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet und im vereinfachten Verfahren
(Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG) zu erledigen.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 1. Oktober 2007 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Neuverlegung der
Gerichtskosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen und der Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 17. Juni 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Schüpfer