Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.668/2007
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_668/2007

Urteil vom 3. Oktober 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Parteien
M.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch die Stadt Zürich, Support Sozialdepartement
Recht, Rechtsanwalt Matthias Guggisberg, Verwaltungszentrum Werd, Werdstrasse
75, 8036 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 4. September 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene M.________ war von 1997 bis 31. Mai 2005 (letzter Arbeitstag:
25. Mai 2004) als Officemitarbeiter bei der Firma C.________ AG angestellt. Am
28. Juni 2005 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, IV-Stelle, holte
Berichte der Arbeitgeberin vom 4. Juli 2005, der psychologischen Therapeutin
lic. phil. S.________ vom 16. August 2005 und des Hausarztes Dr. med.
K.________ vom 29. Oktober 2005 (mit Beilagen) sowie ein psychiatrisches
Gutachten von Dr. med. H.________ vom 1. Februar 2006 ein. Rückfragen der
Verwaltung vom 16. Februar 2006 beantwortete Dr. med. H.________ am 18. Februar
2006. Daraufhin lehnte es die IV-Stelle mit Verfügung vom 3. April 2006 und
Einspracheentscheid vom 15. Juni 2006 ab, dem Versicherten eine Rente
auszurichten.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich ab (Entscheid vom 4. September 2007).

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erheben
mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm ab Mai 2005 eine ganze Rente zuzusprechen;
eventuell sei die Sache zur ergänzenden Abklärung an die IV-Stelle
zurückzuweisen. Ferner wird um unentgeltliche Prozessführung ersucht.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 BGG erhoben werden. Dabei legt das
Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder wenn sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG
beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG), wozu namentlich
auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen
Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als einer
wesentlichen Verfahrensvorschrift gehören.

1.2 Tatsächlicher Natur und damit im dargestellten Rahmen grundsätzlich
verbindlich sind insbesondere die Feststellungen zur Arbeits(un)fähigkeit,
welche das kantonale Gericht gestützt auf medizinische Untersuchungen trifft
(BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Bei der Beurteilung, ob eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung - oder ein sonstiger vergleichbarer pathogenetisch
(ätiologisch) unklarer syndromaler Zustand (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 399) - mit
invalidisierender Wirkung vorliegt, gilt folgende Abgrenzung: Zu den vom
Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfbaren Tatsachenfeststellungen zählt, ob
eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorliegt, und, bejahendenfalls, ob
eine psychische Komorbidität oder weitere Umstände gegeben sind, welche die
Schmerzbewältigung behindern. Als Rechtsfrage frei überprüfbar ist dagegen, ob
eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend erheblich ist und ob
einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren Kriterien in genügender
Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf eine nicht mit
zumutbarer Willensanstrengung überwindbare Schmerzstörung und somit auf eine
invalidisierende Gesundheitsschädigung zu gestatten (SVR 2008 IV Nr. 23 S. 71
E. 2.2, I 683/06).

2.
In somatischer Hinsicht hält die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer habe
gemäss diversen ärztlichen Berichten am 26. Mai 2004 ein Verhebetrauma
erlitten. Er sei vom 30. September bis 15. Oktober 2004 in der Klinik für
Rheumatologie und Rehabilitation, Spital X.________, hospitalisiert gewesen. Am
10. November und 15. Dezember 2004 sei er in dieser Institution erneut
untersucht worden. Am 20. Dezember 2004 habe Dr. med. T.________, Oberarzt des
Spitals, festgehalten, aus rein rheumatologischer Sicht sei dem
Beschwerdeführer eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit tagsüber mit
vermehrten Pausen zumutbar. Eine wesentliche, sich aus strukturellen Befunden
ableitende Behinderung bestehe nicht. Wenn das kantonale Gericht auf dieser
Grundlage zum Ergebnis gelangte, das festgestellte chronische lumbospondylogene
Syndrom mit/bei degenerativen Veränderungen L4/5 und L5/S1 stehe der
Zumutbarkeit einer leichten bis mittelschweren angepassten Tätigkeit im Umfang
von 100 % nicht entgegen, lässt sich dies nicht als offensichtlich unrichtig
bezeichnen. Die vorinstanzliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit aus Sicht des
somatischen Gesundheitszustandes wird denn auch in der Beschwerdeschrift nicht
beanstandet.

3.
3.1 Das kantonale Gericht ging auch aus psychiatrischer Sicht von einer vollen
Arbeitsfähigkeit aus. Es erwog, Dr. med. H.________ lege in seinem Gutachten
vom 1. Februar 2006 überzeugend dar, beim Beschwerdeführer liege keine
posttraumatische Belastungsstörung, sondern eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung im Rahmen eines Entwurzelungssyndroms vor. Eine diagnostizierte
anhaltende somatoforme Schmerzstörung vermöge in der Regel keine lange
dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu
bewirken. Die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Annahme des
invalidisierenden Charakters dieser Störung (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354)
seien nicht erfüllt.

3.2 Der Beschwerdeführer lässt ausführen, der behandelnde Arzt Dr. med.
K.________, die Psychologin lic. phil. S.________ und der psychatrische
Gutachter Dr. med. H.________ seien übereinstimmend von einer vollständigen
Arbeitsunfähigkeit ausgegangen, dies gestützt auf die Diagnosen
"posttraumatische Belastungsstörung" respektive "somatoforme Schmerzstörung".
Auch seien sie allesamt von einer schlechten Prognose hinsichtlich einer
allfälligen Behandlung ausgegangen. Dr. med. H.________ habe in seinem
Gutachten vom 1. Februar 2006 erklärt, die Differenzialdiagnose sei in Bezug
auf den Zweck des Gutachtens, nämlich Beurteilung und Arbeitsfähigkeit,
unwichtig. Die Bedeutung der Diagnose sei ihm somit nicht bewusst gewesen. Der
Gutachter habe die Rechtsprechung BGE 130 V 352 nicht gekannt, aber auf
Nachfrage der Verwaltung ohne weitere Begründung seine Einschätzung einer
vollständigen Arbeitsunfähigkeit in jene einer vollständigen Arbeitsfähigkeit
geändert. Eine Begründung hierfür, welche die Organe der Rechtsanwendung
nachvollziehen könnten, liege nicht vor. Die von der erwähnten Rechtsprechung
entwickelten Kriterien für die Anerkennung des invalidisierenden Charakters
einer somatoformen Schmerzstörung seien erfüllt.

3.3 Zu prüfen ist zunächst, ob die Beweiskraft des Gutachtens von Dr. med.
H.________ durch die Einflussnahme des RAD-Arztes geschmälert wird.
3.3.1 Das Bundesgericht hat eine unzulässige Beeinflussung in einem Fall
bejaht, in welchem der RAD-Arzt in einem vor der Begutachtung geführten
Telefonat mit dem Experten materiell über den Fall sprach und ihn - gemäss
Eintrag im Verlaufsprotokoll - von seiner Meinung, die Diagnose einer schweren
depressiven Episode sei nicht ausgewiesen, zu überzeugen vermochte (SVR 2007 IV
Nr. 39 S. 132 E. 3.3, I 1051/06).
3.3.2 Wie die Vorinstanz festhält, führt Dr. med. H.________ im Gutachten vom
1. Februar 2006 unter anderem aus, beim Ereignis vom 26. Mai 2004 handle es
sich nicht um ein Psychotrauma. Er gehe daher mit dem RAD-Arzt Dr. med.
B.________ einig, wonach die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers nicht auf
ein psychisches Ereignis zurückgeführt werden könne. Diese Aussage erfolgte
nach Lage der Akten gestützt auf den Begutachtungsauftrag der IV-Stelle vom 27.
Dezember 2005 und in Beantwortung der diesem Auftrag beigelegten zusätzlichen
Fragen von Dr. med. B.________. Der RAD-Arzt erklärte, es werde eine
posttraumatische Belastungsstörung und eine Schmerzverarbeitungsstörung
postuliert. Ihm sei nicht ganz klar, weswegen der Versicherte "seit der
Einreise Dezember 1992 (November 1997 bis Mitte 2004 voll gearbeitet)" trotzdem
habe arbeiten können, also keine Beeinträchtigung durch die postulierte
"posttraumatische Belastungsstörung" gehabt habe, "und nun seit Mitte 2004
(Auslöser war ein somatisches, und nicht psychisches Ereignis) dies nicht mehr
möglich ist-"

Eine unzulässige Beeinflussung eines Gutachters ist grundsätzlich nicht nur in
Form eines Telefonats mit der bei dieser Kommunikationsform zwingend fehlenden
verfahrensmässigen Transparenz, sondern auch durch andere nicht im Dossier
festgehaltene, den materiellen Aspekt des Falles betreffende Kontakte zwischen
Verwaltung und Experte denkbar. Sie kann sich grundsätzlich auch aus
offensichtlich suggestiven Fragestellungen ergeben. Die IV-Stelle hat jedoch
die speziellen Fragen von Dr. med. B.________ im Dossier festgehalten und damit
transparent gemacht. Inhaltlich können diese nicht als unzulässige
Beeinflussung gewertet werden. Die zusätzlichen Fragen des RAD-Arztes vermögen
daher den Beweiswert des Gutachtens von Dr. med. H.________ nicht zu schmälern.
3.3.3 Die nach der Erstattung des Gutachtens vom 1. Februar 2006 erfolgte
Intervention von Dr. med. B.________, deren Inhalt in Form von Ergänzungsfragen
der IV-Stelle an den Experten ebenfalls aus dem Dossier ersichtlich ist,
betraf, wie die Vorinstanz zu Recht festhält, nicht mehr den spezifisch
medizinischen Aspekt. Von einer unzulässigen Beeinflussung des Experten kann
deshalb auch insoweit nicht gesprochen werden.
3.4
3.4.1 In Bezug auf den psychischen Gesundheitszustand führt die Vorinstanz aus,
der Beschwerdeführer leide an einer somatoformen Schmerzstörung. Eine weitere
psychische Beeinträchtigung sei zu verneinen. Die somatische Komponente
beschränke sich auf das diagnostizierte Rückenleiden, welches gemäss ärztlicher
Einschätzung bei fehlender struktureller Ursache wesentlich durch die
Schmerzfixierung des Beschwerdeführers geprägt sei. Es bestünden keine Hinweise
auf einen vollständigen sozialen Rückzug oder auf einen primären
Krankheitsgewinn. Diese Feststellungen sind tatsächlicher Natur und damit für
das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (E. 1.2 hiervor). Die Vorbringen
des Beschwerdeführers sind nicht geeignet, sie als offensichtlich unrichtig
erscheinen zu lassen. Ebenso wenig kann dem kantonalen Gericht vorgeworfen
werden, es habe im Zusammenhang mit den getroffenen Feststellungen eine
Bundesrechtsverletzung begangen.
3.4.2 Auf der Grundlage der genannten Feststellungen ist der Vorinstanz darin
beizupflichten, dass der somatoformen Schmerzstörung des Beschwerdeführers
keine invalidisierende Wirkung zukommt. Dementsprechend ist die
Anspruchsbeurteilung des kantonalen Gerichts korrekt. Die Beschwerde ist
abzuweisen.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer als der unterliegenden Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihm kann die unentgeltliche Rechtspflege im
Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten gewährt werden, da die Bedürftigkeit
erstellt ist und die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen war (Art.
64 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Oktober 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Flückiger