Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.611/2007
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_611/2007

Urteil vom 23. April 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Grünvogel.

Parteien
F.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Protekta Rechtsschutz-Versicherung AG,
Monbijoustrasse 68, 3007 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungs-gerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrecht-liche Abteilung, vom 3. September 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene, seit Anfang der 80er Jahre als Versicherungsberater im
Aussendienst tätige F.________ meldete sich am 16. Juni 2005 bei der IV-Stelle
Bern wegen multipler Beschwerden im Nacken- und Rückenbereich sowie den
Extremitäten, Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und eines Tinnitus zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle tätigte berufliche und medizinische
Abklärungen, wozu auch die Einholung eines polydisziplinären Gutachtens bei der
Medizinischen Abklärungsstelle B.________ vom 4. Juli 2006, samt Zusatzbericht
vom 5. Januar 2007, zählte. Gestützt darauf verweigerte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 1. Mai 2007 Rentenleistungen.

B.
Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 3. September 2007 ab.

C.
F.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung der Verfügung und des vorinstanzlichen Entscheids
sei ihm mit Wirkung ab 1. April 2005 eine halbe Invalidenrente und ab 1. Juli
2005 mindestens eine Dreiviertelsrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Feststellung des Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung und die
gestützt darauf gestellte Diagnose betreffen ebenso eine Tatfrage wie die
aufgrund von medizinischen Untersuchungen gerichtlich festgestellte
Arbeitsunfähigkeit (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Tatfrage ist weiter, in
welchem Umfang eine versicherte Person vom funktionellen Leistungsvermögen und
vom Vorhandensein bzw. von der Verfügbarkeit psychischer Ressourcen her eine
(Rest-)Arbeitsfähigkeit aufweist und ihr die Ausübung entsprechend profilierter
Tätigkeiten zumutbar ist, es sei denn, andere als medizinische Gründe stünden
der Bejahung der Zumutbarkeit im Einzelfall in invalidenversicherungsrechtlich
erheblicher Weise entgegen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398). Die konkrete
Beweiswürdigung sodann stellt eine Tatfrage dar. Dagegen steht eine frei
überprüfbare Rechtsfrage zur Diskussion, soweit gerügt wird, das kantonale
Gericht habe den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3a S.
352) und die daraus fliessende Pflicht zu umfassender, sorgfältiger, objektiver
und inhaltsbezogener Würdigung der medizinischen Berichte und Stellungnahmen
(BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) sowie den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c
ATSG) verletzt.

3.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum
Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG), zum
Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) sowie zur Bestimmung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Personen nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die
Ausführungen über die Aufgabe des Arztes oder der Ärztin im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) sowie über den Beweiswert und
die Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352). Darauf wird verwiesen.

4.
Die Vorinstanz ist gestützt auf einlässliche, ihren Abschluss in einer
gesamtmedizinischen Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit findenden,
medizinische Abklärungen der Medizinischen Abklärungsstelle B.________ zum
Schluss gelangt, dass der Versicherte für leichte Arbeiten wie im angestammten
Beruf als Aussendienstmitarbeiter zu 80 % einsatzfähig sei.
Die Vorbringen des Beschwerdeführers sind nicht geeignet, diese Feststellungen
als rechtsfehlerhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG erscheinen zu lassen.
Insbesondere ist mit dem letztinstanzlich erstmals vorgebrachten, nicht näher
belegten Hinweis auf eine in den Akten bisher unerwähnt gebliebene chronische
Bauchspeicheldrüsenentzündung nicht dargetan, inwiefern deswegen die
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, welche sich auf den massgebenden
Zeitpunkt des Einspracheentscheids (BGE 129 V 382 E. 1) bezieht, offensichtlich
unrichtig sein soll. Die Ärzte konnten sodann trotz einlässlicher
interdisziplinärer Abklärung die Diskrepanz zwischen dem Ausmass der
Beschwerdeintensität mit dem geltend gemachten Behinderungsgrad im Alltag und
den objektivierbaren Befunden nicht erklären. Den letztinstanzlich vom
Beschwerdeführer hervorgehobenen Konzentrations- und Gedächtnisstörungen konnte
weder aus neuropsychologischer noch aus psychosomatischer Sicht im engeren Sinn
eine Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit zuerkannt werden. Der damit
einhergehende Verdacht einer Blei-Intoxikation infolge der inokulierten
Schrotkugel wurde nach Bekanntgabe des Bleispiegels im Blut ebenfalls wieder
fallen gelassen, so dass nicht gesagt werden könnte, diesen geltend gemachten
Beschwerden sei keine Beachtung geschenkt worden. Trotzdem konnten sie nicht
objektiviert werden. Dagegen wurden als mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit
auf chronische Myalgien, Arthralgien und eine Leistungsintoleranz unklarer
Ätiologie erkannt, wobei letzteres ausdrücklich auch die in der
Beschwerdeschrift hervorgehobene unklare Tagesmüdigkeit einschloss. Letztlich
ist der Hinweis der Vorinstanz zutreffend, dass bei der Bestimmung der
Restarbeitsfähigkeit nicht auf die subjektive Einschätzung des
Beschwerdeführers abgestellt werden kann, sondern es primär Aufgabe der Ärzte
ist, anhand der objektiven Befunderhebung die sich daraus ergebenden
Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit zu bestimmen.

5.
Wegen starker Lohnschwankungen von Jahr zu Jahr stellte das kantonale Gericht
zur Bemessung des Valideneinkommens auf den Durchschnittsverdienst der letzten
drei Jahre vor Eintritt des Gesundheitsschadens ab. Als Bezugsgrösse wählte es
die im Individuellen Konto der gemeldenten beitragspflichtigen Einkommen (Art.
30ter Abs. 1 AHVG und Art. 135 ff. AHVV) ausgewiesenen, vom Arbeitgeber
bestätigten Lohnsummen.

5.1 Der Beschwerdeführer erachtet die im Individuellen Konto enthaltenen
(möglicherweise nicht korrekt abgerechneten) Beiträge als wenig aussagekräftig
für den tatsächlich erwirtschafteten Lohn. Es sei vielmehr auf die aus dieser
Zeit stammenden Lohnabrechnungen abzustellen, worin der effektive Spesenanteil
des Bruttolohns ausgewiesen sei. Dieser liege erheblich tiefer als damals von
der Ausgleichskasse bei der Beitragsbemessung zu Grunde gelegt worden sei.
5.1.1 Bei der Ermittlung der Grundlagen für die Invaliditätsbemessung steht die
möglichst genaue Abbildung eines hypothetischen Sachverhaltes im Vordergrund.
Die Gründe, weshalb die verabgabten und damit registrierten Einkünfte
allenfalls erheblich vom effektiv erzielten Verdienst abweichen, sind daher in
diesem Zusammenhang in aller Regel nicht von Bedeutung (vgl. Urteil I 696/01
vom 4. April 2002, veröffentlicht in: AJP 2002 S. 1487 und Plädoyer 2002 Nr. 3
S. 73 E. 4b/aa). Die im Individuellen Konto ausgewiesenen Einkünfte dürfen im
Regelfall als Grundlage für die Bemessung des Valideneinkommens herangezogen
werden. Hingegen können sie nicht als unabänderbare Grössen verstanden werden,
die - im Sinne einer abschliessenden Beweiswürdigungsregel - eine keinem
Gegenbeweis zugängliche Tatsachenvermutung schüfen (Urteil I 305/02 vom 29.
Januar 2003, E. 2.2.1).
5.1.2 Soweit daher Vorinstanz und Verwaltung davon ausgegangen sein sollten,
dass ein Abweichen von den im Individuellen Konto ausgewiesenen Beiträgen
grundsätzlich nicht zulässig sei, greift dies zu kurz. Mit den lückenlos im
Recht liegenden Lohnausweisen der Jahre 1999 bis 2003 vermag der
Beschwerdeführer aber die angeblich von den Einträgen im Individuellen Konto
erheblich abweichenden effektiven Einkommensverhältnisse ebenso wenig zu
beweisen. Denn darauf sind zwar vom Bruttolohn umfasste "Fixe Spesen" und vom
Verkaufserlös prozentual abhängige "Variable Spesen" ausgewiesen. Dabei handelt
es sich jedoch lediglich um Pauschalabzüge, die nicht auf effektiv
ausgewiesenen Auslagen beruhen. Nach dem gleichen Prinzip wurden die im
Individuellen Konto eingetragenen Einkommen bestimmt, indessen in
Berücksichtigung einer höheren Spesenpauschale von 25 % vom Bruttolohn.
5.1.3 Nicht unberücksichtigt bleiben darf indessen die Situation, in welcher
sich der Versicherte beim Ausfüllen der die gleiche Periode betreffenden
Steuererklärungen befand.

Anders als bei der Frage nach dem Valideneinkommen war er daran interessiert,
möglichst hohe Berufskosten geltend zu machen. Bei einem
Aussendienstmitarbeiter einer Versicherung sind diese u.a. stark vom
Einsatzgebiet und von der von der Arbeitgeberin zur Verfügung gestellten
Infrastruktur abhängig. Umgekehrt akzeptiert die Steuerbehörde solche nur bei
entsprechendem Nachweis. Die von der Steuerbehörde in der nämlichen Zeitperiode
rechtskräftig zum Abzug vom Nettoeinkommen zugelassenen Berufskosten stellen
daher eine zuverlässige Grösse für die tatsächliche Höhe der Gewinnungskosten
des Versicherten dar.

Es hätte demnach in Nachachtung von Art. 61 lit. c ATSG an der Vorinstanz
gelegen, dem Beschwerdeführer entweder die Möglichkeiten zum erweiterten
Gegenbeweis zu offerieren oder selbst die entsprechenden Abklärungen bei der
Steuerbehörde zu tätigen, ehe sie ein Abweichen von den Einträgen im
Individuellen Konto hätte ausschliessen dürfen. Die Vorinstanz wird die
erforderliche Abklärung nunmehr nachholen (Art. 105 und Art. 107 Abs. 2 BGG).

5.2 Der Versicherte bemängelt weiter, dass zur Festlegung des hypothetischen
Verdienstes als Gesunder lediglich die Lohnsummen der letzten drei Jahre vor
Eintritt des Gesundheitsschadens (2001 bis 2003) berücksichtigt worden seien
und nicht die Einkünfte der letzten fünf Jahre.

5.3 Die Vorgehensweise der Vorinstanz ist nicht zu beanstanden, wie ein Blick
auf den hierfür ohne weiteres verwertbaren Auszug aus dem Individuellen Konto
aufzeigt. Danach verdiente der Beschwerdeführer in den Jahren 1999 und 2001 im
Vergleich zu den davor und danach liegenden Jahren erheblich mehr. Das von der
Vorinstanz verwendete Zeitfenster erscheint dergestalt gegenteils gar
aussagekräftiger als das vom Versicherten geforderte.

6.
Zur Bemessung des Invalideneinkommens zog das Gericht den tabellarisch
ausgewiesenen Durchschnittsverdienst eines Mannes in einer Berufs- und
Fachkenntnisse erheischenden Tätigkeit im Versicherungsgewerbe heran.

Nachdem der damalige Arbeitgeber des Beschwerdeführers ihn nicht weiter
beschäftigen wollte, ihm aber aus medizinischer Sicht weiterhin die seit
zwanzig Jahren ausgeübte Tätigkeit eines Versicherungsberaters zuzumuten ist,
lässt sich dies nicht beanstanden. Der Einwand des Beschwerdeführers, solche
Arbeiten seien als Teilzeitpensen inexistent, geht offenkundig fehl. Daran
ändert die Aussage seines früheren Arbeitgebers nichts, dass ein
Versicherungsvertreter (idealerweise) immer erreichbar sein müsse, was bei
einem Teilzeitpensum nicht mehr der Fall sei. Abgesehen davon haben die Ärzte
seine Einsatzfähigkeit keineswegs auf Teilzeittätigkeiten beschränkt. Das
Krankheitsbild und die ärztliche Umschreibung der verbliebenen
Leistungsfähigkeit lassen viel eher den Schluss zu, dass er sein optimales
Rendement in einem Vollzeitpensum mit einer Leistung zu 80 % zu erbringen
vermag.

Den Tabellenlohn setzte das Gericht alsdann im Umfang der ausgewiesenen
Arbeitsunfähigkeit von 20 % auf 80 % fest und gewährte ermessensweise einen
Abzug von 10 % mit der Begründung, der Versicherte könne kein Vollzeitpensum
mehr verrichten. Daraus resultierte für das Jahr 2003 ein hypothetisches
Invalideneinkommen von Fr. 64'985.35. Für einen höheren Leidensabzug, wie vom
Versicherte verlangt, besteht keine Notwendigkeit. Ohnehin überzeugt der
Hinweis der Vorinstanz auf eine Teilzeittätigkeit nicht gänzlich (siehe oben).
Ein Abzug ist indessen gesamthaft gesehen rechtlich haltbar. Dass die
Vorinstanz diesen Abzug in Überschreitung, Unterschreitung oder Missbrauch
ihrers Ermessens vorgenommen habe, was allein letztinstanzlich einer Korrektur
zugänglich wäre, macht der Versicherte zu Recht nicht geltend.

7.
Zusammengefasst wird das kantonale Gericht zunächst Abklärungen zu den
steuerlich anerkannten Berufskosten in den Jahren 2001 bis 2003 vornehmen, um
alsdann das Valideneinkommen zu bestimmen, dieses dem Invalidenverdienst von
Fr. 64'985.35 gegenüber stellen und je nach Ergebnis den Rentenanspruch bejahen
oder verneinen.

8.
Die Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der
obsiegende Beschwerdeführer hat Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs.
3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 3. September 2007 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die
Beschwerde neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Versicherung und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 23. April 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Grünvogel