Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.444/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

8C_444/2007, 8C_488/2007 {T 0/2}

Urteil vom 7. April 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Grünvogel.

Parteien
8C_444/2007
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9001 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

und

8C_488/2007
Staatssekretariat für Wirtschaft, Effingerstrasse 31, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

M.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 12. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1964 geborene M.________ war seit 1. August 2003 bei der Firma G.________
AG als Vermögensberater tätig. Nachdem er bereits am 23. September 2005 bei der
kantonalen Arbeitslosenkasse einen Antrag auf Insolvenzentschädigung für offen
gebliebene Lohnzahlungen gestellt hatte, änderte er diesen am 9. Dezember 2005
auf Verdienstansprüche aus der Zeit von Juli bis November 2005, insgesamt Fr.
39'750.- ausmachend, ab. Gleichentags leitete er gegen die Firma, der Vorgabe
der Kasse folgend, das Betreibungsbegehren ein. Die Konkursandrohung wurde der
Firma am 16. Februar 2006 ausgehändigt. Ein Konkursbegehren stellte M.________
alsdann trotz mehrmaliger Aufforderung von Seiten der Kasse nicht. Am 10.
August 2006 wurde die Firma wegen nicht mehr vorhandenen Domizils behördlich
aufgelöst.
A.a Die kantonale Arbeitslosenkasse lehnte die Ausrichtung einer
Insolvenzentschädigung mit Verfügung vom 14. August 2006 ab. Zur Begründung
führte sie an, M.________ habe durch die Weigerung, das Konkursbegehren zu
stellen, die ihm obliegenden Schadenminderungspflichten in einer
leistungsausschliessenden Weise verletzt.
A.b Während des Einspracheverfahrens erhielt die Kasse Kenntnis von einem von
einer Arbeitskollegin von M.________ gegen die Firma gestellten
Konkursbegehren. Der vom Konkursgericht zur Durchführung des Verfahrens
einverlangte Kostenvorschuss wurde in der Folge nicht bezahlt, so dass das
Gericht auf das Begehren mit Entscheid vom 21. September 2006 nicht eintrat.
Mit Einsprache-Entscheid vom 17. Oktober 2006 hielt die Kasse an der
Leistungsverweigerung fest.

B.
Das Versicherungsgericht das Kantons St. Gallen hiess die gegen den
Einsprache-Entscheid erhobene Beschwerde am 12. Juli 2007 teilweise gut, hob
den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache zur masslichen Festlegung
der Insolvenzentschädigung an die Kasse zurück mit der Vorgabe, Entschädigung
für den Zeitraum vom 8. Oktober 2005 bis 30. November 2005 zu leisten. Zur
Begründung führte es an, mit dem Stellen des Fortsetzungsbegehrens in der
Konkursbetreibung habe M.________ die Voraussetzungen für den Anspruch auf
Insolvenzentschädigung erfüllt; ihm könne daher das unterbliebene
Konkursbegehren nicht vorgeworfen werden.

C.
Dagegen führen die Kasse und das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) mit
separaten Eingaben Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids. Verfahrensleitend wird um Erteilung der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde ersucht.

M.________ verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Da den beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde liegt, den nämlichen
vorinstanzlichen Entscheid betreffen und sich die gleichen Rechtsfragen
stellen, werden die beiden Verfahren vereinigt und in einem einzigen Urteil
erledigt (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126 mit Hinweisen; diese Rechtsprechung ist
auch unter der Herrschaft des BGG weiterhin anwendbar: vgl. Urteil 9C_55/2007
vom 18. Oktober 2007, E. 1).

2.
Gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG haben beitragspflichtige Arbeitnehmer von
Arbeitgebern, die in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegen oder in
der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigen, Anspruch auf Insolvenzschädigung, wenn
über ihren Arbeitgeber nur deswegen nicht der Konkurs eröffnet wird, weil sich
infolge offensichtlicher Überschuldung des Arbeitgebers kein Gläubiger bereit
findet, die Kosten vorzuschiessen.
Darüber hinaus muss der Arbeitnehmer gemäss Art. 55 Abs. 1 Satz 1 AVIG im
Konkurs- und Pfändungsverfahren alles unternehmen, um seine Ansprüche gegenüber
dem Arbeitgeber zu wahren, bis die Kasse ihm mitteilt, dass sie an seiner
Stelle in das Verfahren eingetreten ist.

3.
Die Vorinstanz vertrat in ihrem Entscheid unter Hinweis auf Urs Burgherr, Die
Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes
Risisko, Diss. Zürich 2004, die Auffassung, die Voraussetzungen gemäss Art. 51
Abs. 1 lit. b AVIG seien bereits bei offensichtlicher Überschuldung nach
erfolgter Konkursandrohung erfüllt. Seco und Kasse verlangen demgegenüber u.a.
aus Beweisgründen eine gerichtliche Nichteitretensverfügung auf ein
Konkursbegehren oder einen richterlichen Nichteröffnungsbeschluss des
Konkurses.

3.1 Das Bundesgericht hat sich unlängst in BGE C 283/06 vom 16. Januar 2008 mit
dieser Thematik grundsätzlich auseinandergesetzt. Danach gebietet es entgegen
der Auffassung Burgherr allein schon der Wortlaut der Gesetzesbestimmung, dass
das Konkursverfahren bis ins Stadium nach Erlass einer Kostenvorschussverfügung
durch das Konkursgericht gediehen sein muss, um den Anspruch auf
Insolvenzentschädigung entstehen zu lassen. Auch ist es durchaus sinnvoll, aus
insolvenzentschädigungsrechtlichem Gesichtswinkel ein fortgeschrittenes
Zwangsvollstreckungsverfahren vorauszusetzen, weil - einer allgemeinen
Erfahrungstatsache folgend - viele Schuldner erst unter dem Druck der
unmittelbar bevorstehenden Konkurseröffnung ihren Zahlungspflichten nachkommen.
Umgekehrt belässt es Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG beim Erfordernis des nicht
geleisteten Kostenvorschusses (aus Gründen der offensichtlichen Überschuldung
des Arbeitgebers). Ein gerichtliches Nichteintreten oder ein schriftlicher
Nichteröffnungsbeschluss - wie in der Weisung des seco (AM/ALV-Praxis 2004/1
Blatt 14) zum anspruchsbegründenden Erfordernis erklärt -, ist dagegen ohne
gesetzliche Notwendigkeit nicht Anspruchsvoraussetzung. Der Anspruch auf
Insolvenzentschädigung entsteht gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. b AVIG in dem
Zeitpunkt des Zwangvollstreckungsverfahrens, in welchem die Gläubiger - auf die
vom Konkursgericht nach gestelltem Konkursbegehren erlassene
Kostenvorschussverfügung hin - infolge offensichtlicher Überschuldung des
Arbeitgebers von der Bezahlung des Kostenvorschusses, durch Rückzug des
Konkursbegehrens oder durch Verstreichenlassen der Frist für die Leistung der
Konkurskaution, absehen.

3.2 Zwar hat es der Beschwerdegegner trotz wiederholter Aufforderung der Kasse
unterlassen, nach der Konkursandrohung im Februar 2006 einen Schritt weiter zu
gehen und das Konkursbegehren zu stellen. Indessen wurde dies später noch von
einer Arbeitskollegin gemacht, worauf das Konkursgericht eine
Kostenvorschussverfügung erlassen hat. Aus welchen Gründen sie auf die
Bezahlung des einverlangten Betrags verzichtet hat, ist in den Akten nicht
näher erörtert. Indessen ist auf Grund der weiteren Umstände
(Lohnzahlungsrückstände gegenüber dem Beschwerdegegner und mindestens einem
weiteren Arbeitnehmer trotz mehrmaliger Mahnung mit anschliessender Betreibung
bis zur Konkursandrohung; Kündigung der Arbeitsverhältnisse aus
wirtschaftlichen Gründen durch die Firma; Auflösung der Gesellschaft mangels
Domizils) davon auszugehen, dass sie dies wegen offensichtlicher Überschuldung
der Firma unterlassen hat, womit die Anspruchsvoraussetzung nach Art. 51 Abs. 1
lit. b AVIG zum massgeblichen Zeitpunkt des Einspracheentscheids vom 17.
Oktober 2006 erfüllt war. Nicht erforderlich ist, dass die
Kostenvorschussverfügung auf Veranlassung des
Insolvenzentschädigungsansprechers ergangen ist. Denn entscheidend ist allein,
dass die Nichteröffnung des Konkurses einzig durch das Fehlen der Bereitschaft
der Gläubiger bedingt ist, die Kosten für das Konkursverfahren vorzuschiessen
und der Grund für diese mangelnde Bereitschaft (des um Konkurseröffnung
Ersuchenden) in der offensichtlichen Überschuldung des Arbeitgebers liegt.

4.
Eine andere Frage ist, ob dem Beschwerdegegner wegen der Weigerung, im
Anschluss an die Konkursandrohung vom 16. Februar 2006 auch noch das
Konkursbegehren zu stellen, gestützt auf Art. 55 Abs. 1 AVIG infolge Verletzung
seiner Mitwirkungspflichten der Anspruch auf Insolvenzentschädigung
abzusprechen ist.

Auf diesen Standpunkt stellte sich die Kasse im Verwaltungsverfahren und
hernach auch vor Gericht. Sie erblickte in der Unterlassung eine grobe
Nachlässigkeit, weil sich in solchen Situationen mit jedem Monat des Zuwartens
das Risiko eines Total- oder Teilverlusts vergrössere (Vernehmlassung vom 23.
November 2006 vor Vorinstanz).

4.1 In der Annahme, der Anspruch auf Insolvenzentschädigung sei bereits im
Anschluss an die Konkursandrohung entstanden, prüfte das kantonale Gericht
diese Frage nicht näher. Die Aktenlage erlaubt es dem Bundesgericht indessen,
darüber zu befinden, wozu es auch befugt ist (Art. 106 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. Ulrich Meyer, Basler Kommentar, N 61 zu Art. 105
BGG).

4.2 Der Beschwerdegegner hat seine Vorgehensweise gegen die Firma und gegenüber
der Kasse eng mit jener des damaligen Arbeitskollegen E.________ koordiniert.
Sie vollzogen jeweils gleichzeitig die entsprechenden Schritte und verwendeten
dabei deckungsgleiche Schreiben. Es ist daher davon auszugehen, dass sie über
einen identischen Wissenstand verfügten, wenngleich es lediglich E.________
war, der gegenüber der Kasse das Unterlassen erstmals am 20. April 2006 mit dem
Hinweis auf die Aussage des Eigentümers und Verwaltungsratspräsidenten der
Firma, diese werde noch im kommenden Monat selbst die Bilanz beim
Konkursrichter deponieren, begründete (Parallelverfahren 8C_441/2007, 8C_490/
2007).
Zwar ist nachvollziehbar, dass der Versicherte im Hinblick auf die, seinem
Kollegen am 20. April 2006 mündlich vom Geschäftsführer angekündigte, angeblich
noch im Mai 2006 bevorstehende Konkurseröffnung vom nächsten Schritt zur
Geltendmachung und Realisierung der Lohnforderungen, nämlich dem Antrag auf
Konkurseröffnung, Abstand genommen hat. Warum er indessen nicht bereits im März
das Konkursbegehren gestellt hat, obwohl ihm die schlechte finanzielle Lage des
Betriebs bekannt war und er konkret mit einem (Teil-)Lohnverlust rechnen
musste, ist unklar. Zu einem Verzicht auf weitere Massnahmen zur Realisierung
der Verdienstansprüche bestand überdies im Anschluss an die Mitteilung des
Geschäftsführers vom 20. April 2006 spätestens dann kein Anlass mehr, als sich
herausstellte, dass der Konkurs nicht, wie angekündigt, im Mai eröffnet worden
war. Dennoch unternahm der Beschwerdegegner in der Folge nichts mehr zur
Durchsetzung der Lohnforderung. Er beschränkte sich - genau so wie E.________ -
vielmehr trotz neuerlicher Aufforderung der Kasse zum Handeln darauf, auf die
erneute Aussage des Geschäftsführers der Firma zu vertrauen, dass (neu nun) in
absehbarer Zeit die Konkurseröffnung beantragt werde.

Nicht gefolgt werden kann dem Beschwerdegegner sodann, wenn er geltend macht,
es sei ihm angesichts der finanziellen Situation der Arbeitgeberin nicht
zumutbar gewesen, für die Kosten des Konkursbegehrens aufzukommen. Diese hätte
bei etwa Fr. 200.- gelegen, wie sich aus dem Nichteintretensentscheid vom 21.
September 2006 des Kreisgerichts S.________ auf das Konkursgesuch der
Arbeitskollegin ergibt. Er vermag nicht nachzuweisen, dass bereits im März 2006
von Vornherein keine Aussicht auf Bezahlung des ausstehenden Geldes oder eines
Teils davon mehr bestand. Im Hinblick auf das von einer Arbeitskollegin rund
sechs Monate nach der Konkursandrohung vom 16. Februar 2006 eingereichte
Konkursbegehren bedürfte es diesbezüglich eines eindeutigen Nachweises. Denn es
kann unter arbeitslosenversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht Sache des
Versicherten sein, darüber zu entscheiden, ob weitere Vorkehren zur
Realisierung der Lohnansprüche erfolgversprechend sind oder nicht. Vielmehr hat
er im Rahmen der ihm obliegenden Schadenminderungspflicht grundsätzlich alles
ihm Zumutbare zur Wahrung der Lohnansprüche vorzunehmen (ebenso: Urteile C 167/
2004 vom 29. Dezember 2006 und C 148/03 vom 3. Dezember 2003).

Schliesslich kann auch nicht geltend gemacht werden, der Versicherte habe sich
mit der ehemaligen Arbeitskollegin, welche später das Konkursbegehren gestellt
hat, über das Vorgehen abgesprochen und deshalb mit dem Konkursbegehren
zugewartet (vgl. hierzu Urteile C 113/05 vom 16. August 2005, E. 3 f., und C
133/02 vom 17. Juli 2003, E. 3.3). Denn gegenüber der Kasse hielt er am 1.
September 2006 fest, gemäss Informationen des Eigentümers und
Verwaltungsratspräsidenten der Firma sei in der Zwischenzeit ein Gesuch zur
Eröffnung des Konkurses über die Firma von Drittseite eingereicht worden. Bei
diesem Gesuch hat es sich um jenes der ehemaligen Arbeitskollegin gehandelt.
Abgesehen davon wäre damit nicht erklärt, weshalb nicht bereits im März das
Konkursbegehren gestellt worden ist, obwohl dies zumindest für den
Beschwerdegegner zu diesem Zeitpunkt bereits möglich gewesen wäre.

4.3 Indem der Versicherte über mehrere Monate untätig geblieben ist, obwohl ein
Handeln dringend angezeigt gewesen wäre und von der Kasse wiederholt gefordert
worden ist, hat er die ihm obliegende Schadenminderungspflicht in einer Weise
verletzt, welche die verfügte Leistungsverweigerung als rechtens erscheinen
lässt (vgl. ARV 2002 Nr. 8 S. 62 [C 91/01]; Urteil C 167/2004 vom 29. Dezember
2006).

5.
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufgeschiebende Wirkung
gegenstandslos. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind dem
Beschwerdegegner Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und Art. 65 Abs. 4
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 8C_444/2007 und 8C_488/2007 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerden werden gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 12. Juli 2007 aufgehoben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, dem Staatssekretariat für Wirtschaft und dem Amt für Arbeit des Kantons
St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. April 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Grünvogel