Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.434/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_434/2007

Urteil vom 27. März 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Parteien
Z.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari, Dornacherstrasse 10, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 19. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Z.________, geboren 1956, meldete sich erstmals am 12. August 2004 bei der
Invalidenversicherung an unter Hinweis auf verschiedene Beschwerden, unter
anderem ein Urothelkarzinom und psychische Probleme am Arbeitsplatz. Die letzte
Stelle als Maschinenmechaniker war ihm von der Arbeitgeberin im August 2003
gekündigt worden. Am 11. Januar 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau
einen Rentenanspruch ab; diese Verfügung blieb unangefochten. Mit Schreiben des
Hausarztes Dr. med. U.________, Allgemeine Medizin FMH, erfolgte am 2. November
2005 eine Neuanmeldung wegen Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Die
IV-Stelle lehnte einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 30. Mai 2006 erneut ab.
Am 24. Juni 2006 begab sich der Versicherte in psychiatrische Behandlung bei
Dr. med. M.________, Psychiatrie und Psychotherapie, welcher am 31. Juli 2006
eine paranoide Schizophrenie diagnostizierte (Negativsymptomatik) und eine
100%ige Arbeitsunfähigkeit attestierte. Mit der Begründung, dass eine psychisch
bedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit erst am 24. Juni 2006 eingetreten und die Wartefrist gemäss
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG daher noch nicht abgelaufen sei, bestätigte die
IV-Stelle ihre Auffassung mit Einspracheentscheid vom 10. November 2006.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 19. Juni 2007 ab.

C.
Z.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm eine
ganze Invalidenrente ab spätestens 1. Januar 2006 zuzusprechen, eventualiter
sei die Streitsache zu weiteren medizinischen Abklärungen zurückzuweisen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der
Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), zum Anspruch auf
eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG), zur Ermittlung des Invaliditätsgrades
bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16
ATSG), zum Zeitpunkt des Rentenbeginns nach Ablauf der einjährigen Wartefrist
(Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG), zum Beweiswert von Arztberichten und medizinischen
Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff., 122 V 157 E. 1c S. 160 ff.) sowie zu
dem im Sozialversicherungsrecht erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360, 130 III 321 E. 3.2 u. 3.3 S.
324 f.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig ist, seit wann sich das psychische Leiden des Beschwerdeführers in
rentenrelevantem Ausmass auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt.
Die Vorinstanz hat die diesbezüglichen Angaben des Dr. med. M.________ in
dessen Berichten vom 31. Juli und 8. Dezember 2006 zitiert und einlässlich
gewürdigt. Der Arzt betreut den Beschwerdeführer seit dem 24. Juni 2006 und hat
erstmals die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie gestellt, bestehend seit
etwa 30 Jahren. Frühere psychiatrische Behandlungen hat der Beschwerdeführer
abgelehnt oder vorzeitig abgebrochen; einzig vom Hausarzt liess er sich
medikamentös (mit Antidepressiva) versorgen. Das kantonale Gericht ist zum
Schluss gekommen, dass aufgrund des Behandlungsbeginns und der Äusserungen des
Psychiaters (es sei "medizinisch hypothetisch" anzunehmen, dass bei dieser
Diagnose schon länger eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bestehe bzw. es sei bei
der bestehenden Chronifizierung mit ausgeprägter Negativsymptomatik einer
paranoiden Schizophrenie gut zu vereinbaren, dass der Beschwerdeführer seit
anfangs 2005 zu 100 % arbeitsunfähig sei) es zwar nicht ausgeschlossen
beziehungsweise durchaus möglich erscheine, dass der Beschwerdeführer im
Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Einspracheentscheids bereits während
eines Jahres zu durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen sei;
überwiegend wahrscheinlich sei es jedoch nicht. Der Beschwerdeführer wendet
dagegen ein, dass seine Ansprüche nicht ohne weitere Abklärungen hätten
verneint werden dürfen, und rügt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes.

4.
4.1 Der Untersuchungsgrundsatz zählt zu den in Art. 95 BGG erwähnten
bundesrechtlichen Vorschriften. Hat das kantonale Gericht die rechtserheblichen
tatsächlichen Feststellungen - wozu der Zeitpunkt des Eintritts der
Arbeitsunfähigkeit gehört (Urteil J. vom 7. Dezember 2007, 9C_182/2007, E.
4.1.1) - in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes getroffen, sind sie für das
Bundesgericht nicht verbindlich (Urteile I 828/06 vom 5. September 2007, E.
3.2.3, 8C_364/2007 vom 19. November 2007, E. 3.3).

4.2 Nach dem im Administrativverfahren vor der IV-Stelle wie auch im kantonalen
Sozialversicherungsprozess geltenden Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1,
Art. 61 lit. c ATSG) haben IV-Stelle und Sozialversicherungsgericht den
rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese
Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die Beurteilung des
streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende Klarheit besteht.
Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum - auf Verwaltungs- und
Gerichtsstufe geltenden - Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf. Führen die
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen vorzunehmenden
Abklärungen den Versicherungsträger oder das Gericht bei umfassender,
sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE 132 V 393 E.
4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als überwiegend
wahrscheinlich (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360, 125 V 193 E. 2 S. 195, je mit
Hinweisen) zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an diesem
feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die Abnahme
weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(antizipierte Beweiswürdigung; vgl. SVR 2001 IV Nr. 10 S. 27 E. 4 S. 28; zu
Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 124 V 90 E.
4b S. 94, 122 V 157 E. 1d S. 162, je mit Hinweisen). Bleiben jedoch erhebliche
Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen
Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von
zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu
erwarten sind (Urteile I 828/06 vom 5. September 2007, E. 3.2, 8C_364/2007 vom
19. November 2007, E. 3.2).

4.3 Den Angaben des Psychiaters, welche einen Monat beziehungsweise knapp sechs
Monate nach Behandlungsbeginn (im Juni 2006) datieren, ist zu entnehmen, dass
er die psychische Störung des Beschwerdeführers als so gravierend erachtete,
dass nicht nur aktuell, sondern ("hochhypothetisch") schon seit längerem eine
vollständige Arbeitsunfähigkeit bestand. Schon beim Erstgespräch habe eine
ausgeprägte paranoide Symptomatik vorgelegen. Zwar ist damit nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt, dass der Beschwerdeführer zum
Zeitpunkt des Einspracheentscheides vom 10. November 2006 schon seit einem Jahr
in erheblichem Mass in der Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war, wobei für die
Eröffnung der Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG jedenfalls ein
Behinderungsgrad von 25 % bereits genügt (BGE 104 V 191 E. a, 96 V 34 ff.,
insbesondere 40). Indessen ist anzunehmen, dass psychiatrischerseits darüber
näher Auskunft gegeben werden kann, sobald eine eingehende Krankheitsanamnese
erfolgt ist. Es hätten somit weitere diesbezügliche Abklärungen getroffen
werden können und müssen. Die Verwaltung wird dies nachzuholen haben. Dabei
wird in erster Linie der behandelnde Psychiater zu befragen, jedoch weiter zu
beachten sein, dass (Verlaufs-)Berichte der behandelnden (Spezial-)Ärztinnen
und Ärzte im Hinblick auf die Verschiedenheit von Behandlungs-/Therapieauftrag
einerseits und Begutachtungsauftrag andererseits nicht als medizinische
Administrativgutachten gelten können. Dies heisst nicht, dass die IV-Stelle in
jedem Fall ein internes versicherungsärztliches oder ein externes
Administrativgutachten einzuholen hätte. Der Verzicht auf Beweisweiterungen und
das alleinige Abstellen auf die Berichte der behandelnden Ärztinnen und Ärzte
sind jedoch nur zulässig, wenn diese ein stimmiges und vollständiges Bild des
Gesundheitszustandes abgeben (Urteil I 86/07 vom 29. März 2007, E. 4.3).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 19. Juni 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 10. November 2006
werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Anspruch auf eine Invalidenrente neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 27. März 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Durizzo