Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.389/2007
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8C_389/2007

Urteil vom 4. Februar 2008

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Z. ________, 1951, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Stefan Rolli, Seilerstrasse 9, 3001 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 11. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 18. Januar 2007 sprach die IV-Stelle des Kantons Bern
(nachfolgend: IV-Stelle) Z.________ (geboren 1951) ab 1. November 2004 eine
Viertelsrente samt Zusatzrenten für die Kinder zu. Diese Verfügung wurde
seinem Rechtsvertreter, Fürsprecher X.________, Y.________
Rechtsschutz-Versicherung (nachfolgend: Y.________), zugestellt.

B.
Z.________, nunmehr vertreten durch Fürsprecher Stefan Rolli, liess hiegegen
am 21. Februar 2007 Beschwerde erheben. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern trat mit Entscheid vom 11. Juni 2007 infolge verspäteter Einreichung auf
die Beschwerde nicht ein. Dabei ging es davon aus, dass die Y.________ die
Verfügung vom 18. Januar 2007 am 19. Januar 2007 in Empfang genommen hat.

C.
Z.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es seien der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache zum
materiellen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem sei die
IV-Stelle zur Bezahlung eines Betrages von Fr. 6000.- an die Y.________ zu
verpflichten. IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. zur Invalidenversicherung auch BGE 132 V 393).

2.
Die Vorinstanz stützt ihren Entscheid auf eine Bestätigung der Post vom 3.
April 2007, gemäss welcher die am 18. Januar 2007 von der IV-Stelle
aufgegebene Sendung Nummer ... von der Y.________ zusammen mit zwölf weiteren
Sendungen am 19. Januar 2007 entgegen genommen wurde. Hierauf forderte das
Gericht den Versicherten zu einer Stellungnahme auf. In der Eingabe vom 27.
April 2007 machte dieser geltend, die ihn betreffende Verfügung sei per
B-Post zugestellt worden. Wie sich aus dem Eingangsstempel der Y.________
ergebe, sei die Verfügung dort am 22. Januar 2007 eingegangen. Eine
telefonische Nachfrage bei der IV-Stelle habe diesen Ablauf bestätigt. Bei
zumindest teilpositiven Verfügungen wie der strittigen komme es durchaus vor,
dass die Verfügungen nicht eingeschrieben, sondern mit B-Post versandt
würden. Die Y.________ könne infolge der ca. 4000 hängigen Dossiers die
Sendung Nummer ... nicht einem bestimmten Dossier zuordnen. Es sei fraglich,
ob die genannte Sendung die Verfügung an ihn enthalten habe. Die IV-Stelle
sei den entsprechenden Beweis bisher schuldig geblieben. Die IV-Stelle führte
in ihrer Stellungnahme vom 31. Mai 2007 aus, die Abklärungen der Post hätten
eindeutig ergeben, dass die Verfügung der Y.________ am 19. Januar 2007
ausgehändigt worden sei. Der Eingangsstempel vom 22. Januar 2007 könne so
erklärt werden, dass die Verfügung zwar am Freitag, 19. Januar 2007
eingegangen, aber erst am Montag, 22. Januar 2007 abgestempelt worden sei.
Dass auf der Verfügung der Vermerk "Einschreiben" fehle, habe nichts zu
bedeuten. Zudem könne aus der Versandpraxis der IV-Stelle nichts abgeleitet
werden, da die im gleichen Haus befindliche Ausgleichskasse die Rente
berechnet und hernach auf dem Briefpapier der IV-Stelle verschickt habe. Das
kantonale Gericht schloss sich den Ausführungen der IV-Stelle an und trat auf
die Beschwerde vom 21. Februar 2007 nicht ein.

3.
Der Versicherte macht vor Bundesgericht geltend, die Vorinstanz habe die
Beweislastregel von Art. 8 ZGB verletzt, da sie den Darlegungen der IV-Stelle
gefolgt sei, obwohl Anhaltspunkte dafür bestanden hätten, dass sich die
strittige Verfügung nicht in der Sendung Nummer ...  befunden habe. Intensive
Nachforschungen bei der Y.________ hätten ergeben, dass die genannte Sendung
eine Verfügung betreffend G.M. enthielt. Die entsprechenden Unterlagen seien
beigelegt. Durch die Verletzung dieser fundamentalen Beweislastregel habe die
Vorinstanz ihren Entscheid auf einen unrichtigen Sachverhalt gestützt. Zudem
habe die IV-Stelle für den ausserordentlichen Suchaufwand der Y.________ von
40 Stunden zur Eruierung der Sendung Nummer ...  (Durchsicht von 4857
Dossiers) aufzukommen, da die IV-Stelle nicht in der Lage sei, ihre
eingeschriebenen Sendungen den hängigen Dossiers zuzuordnen.

4.
4.1 Nach der Rechtsprechung obliegt der Beweis der Tatsache sowie des
Zeitpunktes der Zustellung einer Verfügung der Verwaltung. Weil der
Sozialversicherungsprozess von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird,
handelt es sich dabei nicht um die subjektive Beweisführungslast (Art. 8
ZGB), sondern in der Regel nur um die so genannte objektive Beweislast in dem
Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener
Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte
ableiten wollte (Urteil U 378/01 vom 5. April 2002, E. 1c mit Hinweis,
publiziert in plädoyer 2002/5 S. 61). Geben konkrete Anhaltspunkte Anlass zu
Zweifeln hinsichtlich des Inhalts einer erwiesenermassen zugestellten
Sendung, gilt die Vermutung, dass diese tatsächlich die auf dem Umschlag
angegebenen Aktenstücke enthielt, als umgestossen, womit die Beweislast für
deren Inhalt deren Urheber trifft (BGE 124 V 400 mit Hinweisen).

4.2 Wie der Versicherte zutreffend geltend macht, ist die Verwaltung - wenn
auch nicht gestützt auf Art. 8 ZGB - beweispflichtig für den Inhalt einer
Sendung, sofern Anhaltspunkte bestehen, dass sich eine andere als die geltend
gemachte Verfügung im strittigen Couvert befand (E. 4.1). Zum Nachweis
solcher Anhaltspunkte hat er vor Bundesgericht die in der Sendung mit der
Nummer ... enthaltene Verfügung vom 19. Januar 2007 betreffend G.M. und das
entsprechende Zustellcouvert sowie weitere Unterlagen eingereicht. Da erst
durch den Nichteintretensentscheid der Vorinstanz vom 11. Juni 2007
Veranlassung bestand, anstelle der IV-Stelle den Inhalt der strittigen
Sendung zu eruieren, handelt es sich bei diesen Akten um zulässige Noven im
Sinne von Art. 99 Abs. 2 BGG.

4.3 Die Bestätigung der Post vom 3. April 2007 beweist die Zustellung der
strittigen Sendung an die Y.________ am 19. Januar 2007, nicht aber die
Tatsache, dass sich die angefochtene Verfügung in dieser Sendung befand.
Ausser identischem Empfänger lässt sich der Bestätigung diesbezüglich nichts
entnehmen. Da die Y.________ die Interessen mehrerer Verfügungsempfänger
vertritt, hätte die Vorinstanz nicht annehmen dürfen, dass sich unter den
dreizehn entgegen genommenen Sendungen auch die angefochtene Verfügung
befand, zumal der Versicherte verschiedene Umstände (fehlender Hinweis für
den Versand als eingeschriebene Sendung auf der Verfügung sowie
Eingangsstempel der Y.________ vom 22. Januar 2007) dargetan hatte, welche
Zweifel am Inhalt der Sendung Nummer ... aufkommen liessen. Insbesondere der
Umstand, dass auch das vom Versicherten aufgelegte Originalcouvert keinen
Code mit entsprechender Nummer ... aufwies, hätte bei der Vorinstanz Zweifel
wecken müssen. Denn jede eingeschriebene Sendung muss einen solchen Code
aufweisen, weil sie ohne Nummerncode gar nicht zurückverfolgt werden kann.
Die Vorinstanz durfte auch nicht annehmen noch wurde geltend gemacht, dass
die Verfügung dem Rechtsvertreter zweimal zugestellt worden war (einmal als
eingeschriebene Sendung, einmal als B-Post). Sie wäre somit gehalten gewesen,
von der Verwaltung den Nachweis zu verlangen, dass sich in der Sendung Nummer
... auch tatsächlich die an den Versicherten gerichtete Verfügung befand.
Dies hat sie in Verletzung der bundesrechtlichen Beweislastregeln
unterlassen, weshalb der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben ist.

4.4 Gestützt auf die vor Bundesgericht erstmals eingereichten Unterlagen
steht fest, dass die angefochtene Verfügung nicht in der Sendung Nummer ...
enthalten war. Die Zustellung am 19. Januar 2007 ist nicht erstellt, weshalb
von der Zustellung am 22. Januar 2007 auszugehen ist. Damit ist die
Beschwerde vom 21. Februar 2007 rechtzeitig eingereicht worden und es ist die
Sache zur materiellen Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

5.
5.1 Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die IV-Stelle hat als unterliegende
Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

5.2 Die IV-Stelle hat dem Versicherten eine Parteikostenentschädigung für die
anwaltliche Vertretung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) sowie
für die notwendigen Kosten des Suchaufwandes der Y.________ in der von der
IV-Stelle nicht bestrittenen und auch nicht zu beanstandenden Höhe von Fr.
6000.- (40 Stunden à Fr. 150.-) zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG in Verbindung
mit Art. 1 lit. b des Reglements über die Parteientschädigung vom 31. März
2006 [SR 173.110.210.3]; vgl. auch die bisherige Rechtsprechung zur
Entschädigung von notwendigen Parteigutachten BGE 115 V 62 sowie RKUV 2000
Nr. U 362 S. 41 E. 3b).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 11. Juni 2007
aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie über
die Beschwerde gegen die Verfügung vom 18. Januar 2007 materiell entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 8500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Februar 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Riedi Hunold