Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.326/2007
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_326/2007

Urteil vom 7. Mai 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Holzer.

Parteien
S.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Massimo Aliotta, Obergasse 20, 8400 Winterthur,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom
9. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene S.________ war als Strassenbauer der Firma X.________ bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen
versichert, als er am 30. März 2003 einen Auffahrunfall erlitt. Die SUVA
erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld). Nach
medizinischen Abklärungen stellte die SUVA ihre Leistungen mit Verfügung vom
20. Juni 2005 und Einspracheentscheid vom 10. April 2006 per 30. Juni 2005 ein.

B.
Die von S.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Glarus mit Entscheid vom 9. Mai 2007 ab.

C.
Mit Beschwerde beantragt S.________, die Beschwerdegegnerin sei unter Aufhebung
des Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides zu verpflichten, ihre
gesetzlichen Leistungen auch über den 30. Juni 2005 hinaus zu erbringen und sie
sei zudem zu verpflichten, zur Prüfung der Rentenfrage ein
verwaltungsunabhängiges polydisziplinäres Gutachten einzuholen. In prozessualer
Hinsicht beantragt er, ihm sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und
es sei eine öffentliche Parteiverhandlung durchzuführen.

Während die SUVA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Verfügung vom 11. Februar 2008 wies das Bundesgericht das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege mangels Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ab.

E.
Mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 hat das Bundesgericht die sog.
Schleudertrauma-Praxis bei organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden
präzisiert. Die Parteien hielten im Rahmen des ihnen zu dieser Präzisierung
gewährten rechtlichen Gehörs an ihren Rechtsbegehren fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht prüft
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt der Beschwerdeführer eine
öffentliche Verhandlung gemäss Art. 57 i.V.m. Art. 59 BGG. Nach der zu Art. 6
Ziff. 1 EMRK ergangenen und unter der Herrschaft von Art. 57 BGG
fortzuführenden Rechtsprechung (Urteil 8C_408/2007 vom 12. November 2007), ist
die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geforderte öffentliche Verhandlung - in
Übereinstimmung mit der Praxis der Konventionsorgane - primär im
erstinstanzlichen Rechtsmittelverfahren zu gewährleisten (BGE 122 V 47 E. 3 S.
54 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer begründet in seinem Antrag nicht,
inwiefern im vorinstanzlichen Verfahren seinem Anspruch auf öffentliche
Verhandlung nicht hätte Genüge getan werden können. Der Antrag ist daher
abzuweisen.

3.
3.1 Im kantonalen Entscheid und im Einspracheentscheid vom 10. April 2006
werden die nach der Rechtsprechung für den Anspruch auf Leistungen der
obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 UVG) geltenden
Voraussetzungen des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem
versicherten Unfall und dem Gesundheitsschaden (BGE 129 V 177 E. 3.1 und 3.2 S.
181) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Entsprechendes gilt für die
von der Judikatur entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten
Kausalzusammenhangs bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) und bei den
Folgen eines Unfalles mit Schleudertrauma der HWS oder äquivalenten
Verletzungen ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle (BGE 117 V 359; RKUV
2000 Nr. U 359 S. 29 [U 264/97] mit Hinweisen).

3.2 Mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 hat das Bundesgericht die sog.
Schleudertrauma-Praxis bei organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden
präzisiert. Im genannten Urteil wurde zunächst der Grundsatz bestätigt, dass
der Fallabschluss und damit verbunden die Adäquanzprüfung im Hinblick auf die
Rentenleistungen in dem Zeitpunkt zu erfolgen hat, in dem von der Weiterführung
der medizinischen Massnahmen keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes
mehr zu erwarten ist (zitiertes Urteil, E. 4). Hinsichtlich der Beurteilung des
natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den geklagten
organisch nicht hinreichend nachweisbaren Beschwerden wurde festgehalten, dass
diese aufgrund einer eingehenden medizinischen Abklärung zu erfolgen hat
(zitiertes Urteil, E. 9.4 und 9.5). Schliesslich wurden in E. 10 des zitierten
Urteils die Kriterien, welche zur Beurteilung der Adäquanz bei mittelschweren
Unfällen (vgl. dazu insbesondere SVR 2008 UV Nr. 8 S. 26, E. 5.3.1 [U 2/07])
dienen, neu gefasst. Der Katalog der adäquanzrelevanten Kriterien lautet
nunmehr:

- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des
Unfalls;
- die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen;
- fortgesetzt spezifische, belastende ärztliche Behandlung;
- erhebliche Beschwerden;
- ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert;
- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen;
- erhebliche Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen.

Weiterhin gilt, dass nicht in jedem Fall der Einbezug sämtlicher Kriterien in
die Gesamtwürdigung erforderlich ist. Je nach den konkreten Umständen kann für
die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs ein einziges Kriterium
genügen. Dies trifft einerseits dann zu, wenn es sich um einen Unfall handelt,
welcher zu den schwereren Fällen im mittleren Bereich zu zählen oder sogar als
Grenzfall zu einem schweren Unfall zu qualifizieren ist. Anderseits kann im
gesamten mittleren Bereich ein einziges Kriterium genügen, wenn es in besonders
ausgeprägter Weise erfüllt ist. Kommt keinem Einzelkriterium besonderes bzw.
ausschlaggebendes Gewicht zu, so müssen mehrere unfallbezogene Kriterien
herangezogen werden. Handelt es sich beispielsweise um einen Unfall im
mittleren Bereich, der aber dem Grenzbereich zu den leichten Unfällen
zuzuordnen ist, müssen die weiteren zu berücksichtigenden Kriterien in
gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sein, damit die Adäquanz bejaht wird.
Diese Würdigung des Unfalles zusammen mit den objektiven Kriterien führt zur
Bejahung oder Verneinung des adäquaten Kausalzusammenhangs (BGE 117 V 359 E. 6b
S. 367).

3.3 Rechtsprechungsgemäss ist eine Änderung oder Präzisierung einer
bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht nur auf zukünftige Fälle anwendbar,
sondern auch auf jene Fälle, die im Zeitpunkt der Änderung oder der
Präzisierung der Praxis bereits beim Bundesgericht hängig waren (BGE 120 V 128
E. 3a 131 mit Hinweisen).

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob die über den 30. Juni 2005 hinaus anhaltend
geklagten Beschwerden des Versicherten noch in einem natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang zum Unfallereignis vom 30. März 2003 standen.

5.
5.1 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer am 30. März 2003 eine
Auffahrkollision mit Distorsion der Halswirbelsäule erlitten hat. Er beklagte
sich schon nach kurzer Latenzzeit über das Auftreten von Nackenbeschwerden;
später traten auch Kopfschmerzen, Schwindelbeschwerden und ein Tinnitus auf.
Die Fachpersonen der Klinik Y.________ diagnostizierten am 29. August 2003
zudem eine Anpassungsstörung mit leichter depressiver Verstimmung, innerer
Anspannung und Dysphorie; allerdings standen die psychischen Beschwerden zu
diesem Zeitpunkt nicht im Vordergrund, so dass auf weitere stützende Gespräche
verzichtet wurde. Zu einer wesentlichen Ausweitung der psychischen Symptomatik
kam es erst nach dem Scheitern des Arbeitsversuches im November 2003 (vgl. den
Bericht des Dr. med. A.________, FMH für Psychiatrie/Psychotherapie, vom 17.
Mai 2004). Somit kann nicht davon gesprochen werden, dass die psychischen
Beschwerden schon bald nach dem Unfall im Vordergrund standen; die Adäquanz
eines allfälligen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den
geklagten Beschwerden ist daher aufgrund der Schleudertrauma-Praxis und nicht
aufgrund der Rechtsprechung von BGE 115 V 133 zu beurteilen. Ob zwischen den
über den 30. Juni 2005 hinaus anhaltend geklagten Beschwerden und dem
Unfallereignis ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, kann vorliegend
offenbleiben, da - wie nachfolgende Prüfung zeigt - ein solcher
Kausalzusammenhang jedenfalls nicht adäquat wäre. Aus demselben Grund kann auf
eine polydisziplinäre Begutachtung verzichtet werden.

5.2 Vorinstanz und Verwaltung haben das Unfallereignis zu Recht als
mittelschweren Unfall im Grenzbereich zu den leichten Unfällen betrachtet;
damit folgten sie der Praxis, welche einfache Auffahrkollisionen in der Regel
entsprechend qualifiziert (RKUV 2005 Nr. U 549 S. 236 E. 5.1.2 S. 237 [U 380/
04]). Weder die in der biomechanischen Kurzbeurteilung vom 26. Januar 2004
angegebene kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v) von 10-15 km/h
(vgl. Urteil 8C_579/2007 vom 12. Februar 2008, E. 3.2), noch der Bericht der
Experten der Haftpflichtversicherung vom 15. April 2003 mit Fotos des
Unfallwagens geben zu einer abweichenden Beurteilung Anlass.

5.3 Hinsichtlich der einzelnen Adäquanzkriterien ist Folgendes festzuhalten:
5.3.1 Der Beschwerdeführer macht zu Recht nicht geltend, das Kriterium der
Schwere oder der besonderen Art der erlittenen Verletzungen oder jenes einer
ärztlichen Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmerte,
seien erfüllt. Entgegen seinen Vorbringen sind auch keine besonders
dramatischen Begleitumstände oder eine besondere Eindrücklichkeit des Unfalles
aktenkundig, weshalb auch dieses Kriterium zu verneinen ist.
5.3.2 Der Versicherte führt nicht näher aus, inwiefern das Kriterium des
schwierigen Heilungsverlaufs und der erheblichen Komplikationen erfüllt sein
soll; nachdem dieses sowohl von der SUVA als auch von der Vorinstanz verneint
wurde und er das Vorliegen erst im Rahmen des rechtlichen Gehörs zur
Präzisierung der Schleudertrauma-Praxis geltend gemacht hat, kann nicht
ernsthaft behauptet werden, das Kriterium sei unbestrittenermassen erfüllt.
Insgesamt erscheint der Verlauf der Beschwerden im Rahmen des bei
HWS-Distorsionen Üblichen.
5.3.3 Gemäss der Präzisierung des Kriterienkatalogs ist nicht mehr die lange
Dauer der ärztlichen Behandlung massgebend, entscheidend ist nunmehr, ob eine
fortgesetzte, spezifische, belastende ärztliche Behandlung stattgefunden hat.
Der Beschwerdeführer hat sich einer stationären Behandlung in der Zeit vom 24.
April bis 20. Mai 2005 in der Klinik B.________ unterzogen; auf eine
Weiterführung dieser Therapie wurde indessen bereits nach weniger als einem
Monat aufgrund mangelhafter Compliance verzichtet. Das Kriterium ist somit
nicht erfüllt.
5.3.4 Gemäss dem Austrittsbericht der Klinik B.________ vom 7. Juni 2005 sind
die vom Versicherten geklagten erheblichen Beschwerden glaubhaft, so dass
dieses Kriterium als erfüllt zu betrachten ist.
5.3.5 Der Beschwerdeführer hat im November 2003 während sechzehn Tagen einen
ernsthaften Arbeitsversuch in seinem angestammten Beruf unternommen. Ob
hierdurch genügende Anstrengungen ausgewiesen sind, damit der Versicherte das
Kriterium der erheblichen Arbeitsunfähigkeit überhaupt erfüllen kann, mag
vorliegend offenbleiben, da das Kriterium jedenfalls nicht in einem Masse
erfüllt ist, dass - auch unter Berücksichtigung des erfüllten Kriteriums (E.
5.3.4 hievor) - die Adäquanz eines allfälligen Kausalzusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis und den geklagten Beschwerden zu bejahen wäre.

5.4 Da somit weder eines der massgeblichen Kriterien in besonders ausgeprägtem
Masse erfüllt ist, noch die zu berücksichtigenden Kriterien in gehäufter und
auffallender Weise erfüllt sind, haben Vorinstanz und Beschwerdegegnerin die
Adäquanz eines allfälligen Kausalzusammenhangs zwischen dem Ereignis vom 30.
März 2002 und den über den 30. Juni 2005 hinaus anhaltend geklagten Beschwerden
im Ergebnis zu Recht verneint. Die Beschwerde ist abzuweisen.

6.
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. Mai 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V. Leuzinger Holzer