Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.317/2007
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8C_317/2007

Urteil vom 4. März 2008

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Grunder.

H. ________, 1968, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin
Ursula Engelberger-Koller, Winkelriedstrasse 35, 6003 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 11. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1968 geborene H.________ leidet seit Jahren an multiplen gesundheitlichen
Beschwerden (rezidivierende Schübe einer Colitis, schweres chronisches
Lumbovertebralsyndrom, depressive reaktive Verstimmung, chronischer Schwindel
bei Cervikalsyndrom, möglicherweise im Zusammenhang mit der Colitis stehende
Polyarthralgien, rezidivierende supraventrikuläre Tachykardie; vgl. Bericht
des Dr. med. T.________, Allgemeine Medizin, vom 30. Dezember 2002). Für den
Zeitraum von August 2000 bis Oktober 2002 gewährte die Invalidenversicherung
berufliche Eingliederungsmassnahmen (berufsbegleitende Umschulung zum
technischen Kaufmann) und vergütete Taggelder. Mit unangefochten gebliebener
Verfügung vom 10. Dezember 2003 sprach die IV-Stelle Luzern dem Versicherten
ab 1. Juli bis 31. August 2000 aufgrund eines ermittelten Invaliditätsgrades
von 45 % und unter Bejahung eines Härtefalls eine halbe Invalidenrente (nebst
Zusatzrente für die Ehefrau und zwei Kinderrenten) zu, welche sie ab 1.
Oktober 2002 weiter ausrichtete (Verfügungen vom 27. Januar, 24. Februar und
6. Oktober 2004). Am 4. November 2004 setzte sie die halbe Invalidenrente
verfügungsweise auf einen Viertel herab. Die gegen diese Verfügungen
erhobenen Einsprachen wies die IV-Stelle Luzern ab, wobei sie den
Invaliditätsgrad neu auf 49 % festlegte (Einspracheentscheid vom 31. August
2005).

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern ab (Entscheid vom 11. Mai 2007).

C.
Mit Beschwerde lässt H.________ beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei ihm eine unbefristete halbe Invalidenrente
zuzusprechen. Weiter wird um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren ersucht.

Die IV-Stelle Luzern schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an
(Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann
eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es
kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der
Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass
der Beschwerdeführer nach der von der Invalidenversicherung gewährten
Umschulung in einer Tätigkeit, wie er sie im für die gerichtliche Beurteilung
massgeblichen Zeitpunkt bei Erlass des Einspracheentscheids ausübte, zu 50 %
arbeitsfähig gewesen ist. Streitig und zu prüfen ist aufgrund der
letztinstanzlichen Vorbringen einzig die Festlegung des Invalideneinkommens
als einer weiteren Voraussetzung zur Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art.
16 ATSG). Das kantonale Gericht hat hiezu die statistischen
Durchschnittswerte der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) für das Jahr 2000 herangezogen.
Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, es sei auf seinen
tatsächlich erzielten Verdienst bei der Firma N.________ AG abzustellen, bei
welcher er seit 1. Oktober 2002 arbeite. Sollten dennoch die Tabellenlöhne
heranzuziehen sein, seien die Werte im Anforderungsniveau 4 heranzuziehen und
es sei ein leidensbedingter Abzug von mindestens 15 % zuzulassen.

2.2 Nach der Praxis charakterisieren sich auf der nichtmedizinischen
beruflich-erwerblichen Stufe der Invaliditätsbemessung als Rechtsfragen die
gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des
Einkommensvergleichs (BGE 130 V 348 E. 3.4, 128 V 30 E. 1, 104 V 136 E. 2a
und b), einschliesslich derjenigen über die Anwendung der LSE (BGE 129 V 475
f. E. 4.2.1, 126 V 77 E. 3b/bb, 124 V 322 f. E. 3b/aa) und der Dokumentation
von Arbeitsplätzen/DAP (BGE 129 V 472 ff.). In dieser Sicht stellt sich die
Feststellung der beiden hypothetischen Vergleichseinkommen als Tatfrage dar,
soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage,
soweit sich der Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet.
Letzteres betrifft etwa die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches
die massgebliche Tabelle ist und ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig
begründeter) Leidensabzug vorzunehmen sei. Demgegenüber beschlägt der Umgang
mit den Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle und in den
Arbeitsplatznachweisen der DAP Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Diese
noch unter der Herrschaft des OG entwickelte Rechtsprechung zur Abgrenzung
von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung kann auch im
vorliegenden Fall, welcher nach den Regeln des am 1. Januar 2007 in Kraft
getretenen BGG zu beurteilen ist, angewendet werden.

2.3
2.3.1 Zu fragen ist im vorliegenden Zusammenhang, ob ein besonders stabiles
Arbeitsverhältnis vorliegt, das den Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
erübrigt und welches die Ausschöpfung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit
zumutbar und vollständig erscheinen lässt (vgl. BGE 117 V 8 E. 2c/aa S. 18
mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat zutreffend erwogen, dass der
Beschwerdeführer sein Arbeitspensum bei der Firma N.________ AG mehrmals
gewechselt hat, weshalb die genannten Voraussetzungen nicht vorliegen und zur
Bestimmung des Invalideneinkommens auf die Tabellenlöhne abzustellen ist. Das
Vorbringen in der letztinstanzlichen Beschwerde, die Firma N.________ AG sei
"vor kurzem von der Firma S.________" übernommen worden, bei welcher er "als
selbständigererwerbender Mitarbeiter im Stundenlohn" angestellt sei, ändert
offensichtlich an dieser Beurteilung nichts.

2.3.2 Das kantonale Gericht hat weiter die statistischen Durchschnittswerte
der LSE 2000 im Wirtschaftszweig "Kredit- und Versicherungsgewerbe" (TA1, Rz
65-67) herangezogen, was ebenfalls nicht zu beanstanden ist. Richtig ist
weiter, dass dem Beschwerdeführer Tätigkeiten auf der Stufe
"Anforderungsniveau 3" der LSE, welche Berufs- und Fachkenntnisse
voraussetzt, möglich und zumutbar sind. Immerhin hat der Versicherte im
Rahmen der Umschulung zum Technischen Kaufmann im Oktober 2002 die einjährige
Bürofachschule VSH und den Lehrgang Technischer Kaufmann BVS erfolgreich
abgeschlossen. Er hat zwar die Berufsprüfung für Technische Kaufleute mit
eidgenössischem Fachausweis nicht bestanden, indessen können bei der
Bestimmung des Invalideneinkommens ohne weiteres Berufs- und Fachkenntnisse
vorausgesetzt werden.

2.3.3 Weiter ist der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Einwände gegen den
vorinstanzlich vorgenommenen behinderungsbedingten Abzug (vgl. dazu BGE 129 V
472 E. 4.2.3 S. 481 mit Hinweisen) von 5 % vom ermittelten Tabellenlohn
darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine typische Ermessensfrage
handelt, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nurmehr dort
zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft
ausgeübt hat, also Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung
vorliegt (BGE 132 V 393 E. 3.3 in fine S. 399). Der Beschwerdeführer macht
einen solchen Rechtsfehler nicht geltend, rügt er doch einzig die
Unangemessenheit des vorinstanzlich vorgenommenen Abzugs von 5 %.
Schliesslich ist festzustellen, dass sich aus dem in der letztinstanzlichen
Beschwerde zitierten Urteil I 239/01 vom 5. Juni 2002 E. 2b hinsichtlich der
vorliegend zu beurteilenden Fragen nichts ableiten lässt.

2.4 Insgesamt betrachtet ist der vorinstanzliche Entscheid nicht zu
beanstanden. Aus dem Einkommensvergleich resultiert ein Invaliditätsgrad von
(aufgerundet) 47 %, welcher Anspruch auf eine Viertelsrente gibt.

3.
3.1 Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG).
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG).

3.2 Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (vorläufige Befreiung von den
Gerichtskosten und Bewilligung einer unentgeltlichen Rechtsverbeiständung)
kann stattgegeben werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die
Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch eine
Rechstanwältin oder einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG;
BGE 125 V 371 E. 5b S. 372 mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf
Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Ursula Engelberger-Koller, Luzern, wird als unentgeltliche
Anwältin des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das
bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr.
2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. März 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Grunder