Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.300/2007
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8C_300/2007

Urteil vom 14. Januar 2008

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Hofer.

E. ________, 1996, Beschwerdeführer,
vertreten durch seine Eltern,
und diese vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Kreso Glavas, Markusstrasse 10, 8006 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 27. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Der am 25. Juli 1996 geborene E.________ wurde durch seine Eltern am 13. Juli
2005 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Der Antrag
lautete auf Übernahme der Kosten der seit Oktober 2004 durchgeführten
Ergotherapie bei Geburtsgebrechen. Die IV-Stelle des Kantons Zürich nahm
Abklärungen zum Gesundheitszustand des Versicherten und zur durchgeführten
Therapie vor. Anschliessend lehnte sie das Leistungsbegehren mit Verfügung
vom 5. September 2005 ab. Daran hielt sie nach Beizug weiterer Unterlagen mit
Einspracheentscheid vom 7. März 2006 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. April 2007 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt E.________
beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die IV-Stelle zu
verpflichten, medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens
Ziff. 404 GgV Anhang zu übernehmen. Eventuell sei die Sache an die Verwaltung
zurückzuweisen zwecks Klärung der Identität der Diagnosen ADS
(Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) und POS (Psychoorganisches Syndrom).
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Eingabe vom 31. August 2007 beantragt der Rechtsvertreter von E.________
die Einholung einer Stellungnahme der Schweizerischen
Psychiatriegesellschaft.

Erwägungen:

1.
1.1 Weil die angefochtene Entscheidung nach dem Datum des Inkrafttretens des
Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG; SR 173.110), dem 1. Januar 2007
(AS 2006 1243), ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht
(Art. 132 Abs. 1 BGG).

1.2 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG).

1.3 Die Feststellung des Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung und die
gestützt darauf gestellte Diagnose betreffen ebenso eine Tatfrage wie die
Prognose (fallbezogene medizinische Beurteilung über die voraussichtliche
künftige Entwicklung einer Gesundheitsbeeinträchtigung im Einzelfall) und die
Pathogenese (Ätiologie) im Sinne der Feststellung der Ursache eines
Gesundheitsschadens dort, wo sie invalidenversicherungsrechtlich erforderlich
ist (z.B. bei den Geburtsgebrechen; Art. 13 IVG; BGE 132 V 393 E. 3.2
S. 398).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Vorschriften zum Anspruch auf medizinische
Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2
ATSG; Art. 1 ff. GgV), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV
Anhang), sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2 Anders als der Anspruch auf Rentenleistungen, der nicht von einer
bestimmten Diagnosestellung abhängig ist, setzt der Anspruch auf medizinische
Massnahmen bei einem Geburtsgebrechen die Existenz eines genau bezeichneten
Gebrechens voraus (vgl. Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 IVV; Urteil
I 671/03 vom 1. Dezember 2004). Eine Verdachtsdiagnose genügt
rechtsprechungsgemäss den Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang nicht (SVR
2006 IV Nr. 2 S. 7, I 508/03; Urteil I 833/04 vom 10. Juni 2005). Nach der
von der Rechtsprechung als gesetzmässig anerkannten (BGE 122 V 113; SVR 2007
IV Nr. 23 S. 81 [I 223/06], 2006 IV Nr. 2 S. 7 [I 508/03]) Ziff. 404 GgV
Anhang sind die rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres erhobene
Diagnose und der vor demselben Zeitpunkt liegende Behandlungsbeginn
Anspruchsvoraussetzungen für medizinische Massnahmen gemäss der erwähnten
Ziffer. Auf diese beiden Voraussetzungen kann nicht verzichtet werden. Sie
beruhen auf der empirischen Erfahrung, dass ein erst später diagnostiziertes
und behandeltes Leiden nicht mehr auf einem angeborenen, sondern einem
erworbenen POS beruht, welches nicht von der Invaliden-, sondern von der
Krankenversicherung zu übernehmen ist. Erfolgen Diagnose und
Behandlungsbeginn erst nach dem vollendeten 9. Altersjahr, besteht die
unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass ein erworbenes und kein angeborenes POS
vorliegt. Damit entfällt auch der nachträgliche Beweis, dass die Möglichkeit
der Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Altersjahres bestanden habe.
Selbst wenn es, objektiv betrachtet, an sich möglich gewesen wäre,
rechtzeitig eine Diagnose zu stellen, dies aber im konkreten Einzelfall - aus
welchen Gründen auch immer - nicht geschah, hat die Invalidenversicherung
unter Ziff. 404 GgV Anhang keine medizinischen Massnahmen zu erbringen.

2.3 Das POS ist ein komplexes Leiden. Damit die Voraussetzungen für dessen
Diagnose erfüllt sind, müssen kumulativ eine Reihe von Symptomen nachgewiesen
sein (BGE 122 V 113 E. 2f S. 117; Rz. 404.5 des Kreisschreibens des BSV über
medizinische Eingliederungsmassnahmen [KSME]): Störungen des Verhaltens im
Sinne krankhafter Beeinträchtigungen der Affektivität oder der
Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder
Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrations- sowie der Merkfähigkeit. Bei
allen diesen Symptomen handelt es sich um nicht leicht fass- und messbare
Elemente. Obwohl sie zu einem Geburtsgebrechen gehören können, treten sie
nicht schon bei Säuglingen, sondern erst in den nachfolgenden Lebensjahren in
unterschiedlicher Schwere und zu unterschiedlichen Zeitspannen auf. In vielen
Fällen, in welchen schlussendlich ein POS diagnostiziert wird, sind
anfänglich nur einzelne der genannten Symptome augenfällig und führen bereits
zu Behandlungen, welche mangels ausdrücklicher POS-Diagnose von der
Krankenkasse oder gegebenenfalls von der Invalidenversicherung, jedoch nicht
unter Ziff. 404 GgV Anhang, übernommen werden (SVR 2007 IV Nr. 23 S. 81,
I 223/06).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte Anspruch auf medizinische
Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang
hat. Dies ist nur dann der Fall, wenn sowohl die Diagnosestellung als auch
der Behandlungsbeginn vor dem vollendeten 9. Altersjahr, somit vor dem
25. Juli 2005, erfolgt sind.

3.1 Das kantonale Gericht hat die Akten umfassend und sorgfältig gewürdigt.
Es betrifft dies die Berichte von Frau Dr. W.________, Fachpsychologin für
Neuropsychologie FSP, vom 13. Oktober 2004, von Frau K.________, dipl.
Ergotherapeutin, vom 7. Juli 2005, des Kinderarztes Dr. med. S.________, vom
27. Juli und 25. Oktober 2005, des Instituts X.________, dass beim
Versicherten bis zum vollendeten 9. Altersjahr die Diagnose eines POS nie
ausdrücklich gestellt wurde.

3.2 Der Beschwerdeführer macht an sich nicht geltend, diese Feststellung sei
offensichtlich unrichtig, hält jedoch die von der Vorinstanz unter Hinweis
auf das Urteil I 572/03 vom 15. März 2004 vertretene Auffassung für
unhaltbar, wonach das POS nicht dem von Kinderarzt und Ergotherapeutin vor
vollendetem 9. Lebensjahr diagnostizierten ADS (englisch ADD) gleichzusetzen
sei. Bei beiden Krankheitsbildern sei die gleiche Problematik und Symptomatik
vorhanden, wobei es sich beim POS um eine früher verwendete
Begriffsbezeichnung für ein ADS handle. Er beantragt zudem eine
fachmedizinische Abklärung der streitigen Frage.

3.3 Im Urteil I 572/03 vom 15. März 2004 hat das Gericht unter Hinweis auf
Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage und die von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Internationale
Klassifikation psychischer Störungen die Auffassung verworfen, der Terminus
ADS sei die im deutschen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung für ein
kongenitales Psychoorganisches Syndrom. Daran wurde in den Urteilen I 265/04
vom 30. September 2004 und I 833/04 vom 10. Juni 2005 ausdrücklich
festgehalten. Beizufügen ist, dass in der medizinischen Literatur
(Hans-Christoph Steinhausen, Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen: Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 5. Aufl., 2002,
S. 91 ff.) festgehalten wird, die ICD-10 berücksichtige neben einer einfachen
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F 90.0) lediglich eine
hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F 90.1). Dem Konzept der
hyperkinetischen Störung gemäss ICD-10 entspreche im amerikanischen DSM-IV
die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHD bzw. ADHS). Der
Begriff sei im Vergleich zu dem der hyperkinetischen Störung stärker
verhaltensorientiert und angemessener, zumal mit Hyperkinese eigentlich ein
Symptom einer neuromotorischen Überfunktion beschrieben werde. Im Unterschied
zur ICD-10 berücksichtige das DSM-IV drei Untertypen, nämlich den Mischtypus
(ADHS), den vorwiegend unaufmerksamen Typus (Aufmerksamkeitsdefizitstörung,
ADS) und den vorwiegend impulsiven Typus (HI). Im Bild der organischen
Psychosyndrome seien Symptome der hyperkinetischen Störung häufig. Die
differenzialdiagnostische Abgrenzung einer isolierten
Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) sei ausserordentlich aufwändig, zumal
Aufmerksamkeitsdefizitstörungen in zahlreichen kinderpsychiatrischen
Störungen enthalten seien. Diese reichten von der geistigen Behinderung über
den frühkindlichen Autismus, die Psychosen, die organischen Psychosyndrome,
Lernstörungen, Belastungs- und Anpassungsstörungen bis zu den emotionalen
Störungen, den Substanzmissbrauchsstörungen, den Bindungsstörungen und den
Persönlichkeitsstörungen. Diese breite Differenzialdiagnose mache deutlich,
wie kritisch mit dem Typ der ADS umgegangen werden müsse.

3.4 Den diagnostischen Schwierigkeiten kommt die Rechtsprechung insofern
entgegen, als sie ein POS nicht nur dann als rechtzeitig diagnostiziert
gelten lässt, wenn es im entsprechenden Arztbericht unter den Diagnosen
wörtlich erwähnt wird, sondern auch dann, wenn sich diese Diagnose aus
anderen Stellen des Berichts zweifelsfrei ergibt, beispielsweise indem ein
Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 404 GgV Anhang unmissverständlich genannt
worden ist (SVR 2007 IV Nr. 23 S. 81, I 223/06; Urteil I 530/06 vom 2. März
2007). Zudem lässt es die Rechtsprechung zu, dass die beweisrechtliche Frage,
ob die rechtzeitig gestellte Diagnose eines POS zutraf, auch mit erst nach
dem 9. Altersjahr vorgenommenen ergänzenden Abklärungen beantwortet wird (BGE
122 V 113 E. 2f S. 117).

3.5 Da eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung nach dem in Erwägung 3.3 Gesagten
verschiedenen Krankheitsbildern inhärent ist, wird mit ihrer alleinigen
Erwähnung das Vorliegen des Geburtsgebrechens Ziff. 404 GgV Anhang nicht
rechtsgenüglich belegt. Mit Bezug auf den Versicherten war nach Lage der
Akten vor dem 25. Juli 2005 weder ausdrücklich von einem Geburtsgebrechen im
Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang die Rede, noch wurde erwähnt, dass mit der
Bezeichnung ADS dieses Geburtsgebrechen gemeint war. Solches ist jedoch
erforderlich, damit Ziff. 404 GgV Anhang die ihr zugedachte
Abgrenzungsfunktion erfüllen kann. Erst im neuropsychologischen Bericht vom
20. Dezember 2005 wurde bei diagnostizierter Aufmerksamkeitsstörung ohne
Hyperaktivität erstmals festgehalten, aufgrund der Befunde sei eine Anmeldung
für das infantile POS indiziert, und es wurde begründet, weshalb die
Voraussetzungen des Geburtsgebrechens Ziff. 404 GgV Anhang erfüllt seien.
Ohne dass es der beantragten fachmedizinischen Beweiserhebungen bedarf,
bleibt es daher dabei, dass dieses Geburtsgebrechen nicht rechtzeitig als
solches diagnostiziert wurde. Damit hat die Invalidenversicherung bereits aus
diesem Grund unter dem Titel von Ziff. 404 GgV Anhang keine medizinische
Massnahmen zu übernehmen.

4.
Das kantonale Gericht hat weiter geprüft, ob die Kosten der Ergotherapie von
der Invalidenversicherung gestützt auf Art. 12 IVG (Anspruch auf medizinische
Massnahmen im Allgemeinen) zu übernehmen sind. Erklärtes Ziel der
Ergotherapie ist das Angehen der visuo- und graphomotorischen Schwächen und
der visuell-räumlichen Probleme (Bericht von Frau Dr. W.________ vom
13. Oktober 2004). Anhaltspunkte dafür, dass Ergotherapie zur Vermeidung
eines stabilen Defektzustandes notwendig wäre, ergeben sich aufgrund der zur
Verfügung stehenden Unterlagen nicht. Das kantonale Gericht hat daher richtig
festgestellt, dass die Voraussetzungen zur Übernahme der Ergotherapie nicht
erfüllt sind. Beschwerdeweise wird nichts vorgebracht, das diese
Betrachtungsweise als bundesrechtswidrig erscheinen lassen würde.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 14. Januar 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Hofer