Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.232/2007
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_232/2007

Urteil vom 4. September 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Parteien
D.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Regula Schmid, Engelgasse 2/
Marktplatz, 9004 St. Gallen,

gegen

"Zürich" Versicherungs-Gesellschaft,
Generaldirektion Schweiz, 8085 Zürich,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Eugen Mätzler, Poststrasse 23, 9000 St. Gallen.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 14. März 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene D.________ ist seit 1978 bei der Gemeinde X.________
angestellt (zuletzt als Leiterin einer Abteilung) und damit bei der "Zürich"
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) obligatorisch gegen
Unfallfolgen versichert. Am 8. Mai 2003 war sie von einem Unfall betroffen, als
ein nachfolgender Personenwagen auf das von ihr gelenkte, in einem
Rechtsabbiegemanöver begriffene Fahrzeug auffuhr. Die Versicherte klagte in der
Folge über Kopf- und Nackenschmerzen mit Ausstrahlung bis in die Hand. Gemäss
Unfallschein mit Eintragungen der am Unfalltag konsultierten Dr. med.
S.________ und des Dr. med. B.________, Allgemeine Medizin FMH, war sie
zunächst zu 100 %, ab 26. Mai 2003 zu 75 % und ab 10. Juni 2003 zu 50 %
arbeitsunfähig. Die Zürich holte weitere Auskünfte von Dr. med. B.________ ein
und zog Berichte des Neurologen Dr. med. J.________ vom 16. September und 20.
Oktober 2003 sowie des Radiologen Dr. med. P.________, Röntgeninstitut
O.________, vom 29. September 2003 bei. Anschliessend stellte sie - nach
Gewährung des rechtlichen Gehörs - mit Verfügung vom 26. Februar 2004 ihre
Leistungen auf den 31. Oktober 2003 ein. Zur Begründung wurde erklärt, die über
dieses Datum hinaus fortbestehenden Beschwerden stünden in keinem natürlichen
Kausalzusammenhang mit dem Ereignis vom 8. Mai 2003.

Nachdem die Versicherte Einsprache erhoben hatte, holte die Zürich Gutachten
des Kantonsspitals Y.________, Neurologische Klinik, vom 4. Juli 2005 sowie der
Rehaklinik A.________ vom 29. September 2005 ein. Zudem liess sie eine
Unfallanalyse vom 4. Mai 2005 erstellen. Anschliessend hielt der Versicherer
mit Einspracheentscheid vom 7. März 2006 an der Einstellung der Leistungen per
31. Oktober 2003 fest mit der Begründung, die darüber hinaus andauernden
Beschwerden stünden zwar wohl in einem natürlichen, aber nicht in einem
adäquaten Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen ab (Entscheid vom 14. März 2007).

C.
D.________ lässt Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale
Entscheid und der Einspracheentscheid seien aufzuheben und die Zürich sei zu
verpflichten, ihr weiterhin Versicherungsleistungen aus der Unfallversicherung
zu erbringen.

Die Zürich schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 hat das Bundesgericht die sog.
Schleudertrauma-Praxis bei organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden
präzisiert. Die Parteien hielten im Rahmen des ihnen zu dieser Präzisierung
gewährten rechtlichen Gehörs an ihren Rechtsbegehren fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst
voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht.
Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne
deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht
als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht
werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des
natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die
alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt,
dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche
oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall
mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene
gesundheitliche Störung entfiele (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181, 402 E. 4.3.1 S.
406, 119 V 335 E. 1 337, 118 V 286 E. 1b S. 289, je mit Hinweisen).

Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein
natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die
Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden
Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines
Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE
129 V 177 E. 3.1 S. 181, 119 V 335 E. 1 S. 338, 118 V 286 E. 1b S. 289, je mit
Hinweisen).

1.2 Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt im Weiteren voraus, dass
zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein adäquater
Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als
adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen
Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses
Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V
177 E. 3.2 S. 181, 402 E. 2.2 S. 405, 125 V 456 E. 5a S. 461 mit Hinweisen).

1.3 Zur Beurteilung der Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen einem
Unfallereignis und einer psychischen Fehlentwicklung mit Krankheitswert hat die
Rechtsprechung (BGE 115 V 133) spezielle Regeln entwickelt. Eine besondere
Ausgestaltung erfährt die Adäquanzprüfung auch bei Unfällen mit einem
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS), einem diesem äquivalenten
Verletzungsmechanismus oder einem Schädel-Hirntrauma ohne organisch
nachweisbare Unfallfolgen (BGE 117 V 359 und 369; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E.
2, U 183/93). Die diesbezüglichen Regeln hat das Bundesgericht mit dem Urteil
BGE 134 V 109 präzisiert.

2.
Streitig ist, ob die Beschwerdegegnerin als obligatorischer Unfallversicherer
für das Ereignis vom 8. Mai 2003 über den 31. Oktober 2003 hinaus Leistungen zu
erbringen hat.

3.
3.1 Nachdem sie den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis
und den nach dem 31. Oktober 2003 fortbestehenden Beschwerden zunächst verneint
hatte, holte die Zürich im Verlauf des Einspracheverfahrens zur Klärung dieser
Frage zwei Expertisen ein.
3.1.1 Im Gutachten des Kantonsspitals Y.________, Neurologische Klinik (Dr.
med. W.________, Oberärztin; Prof. Dr. med. U.________, Chefarzt), vom 4. Juli
2005 wird ausgeführt, im Zeitpunkt der Untersuchung vom 9. März 2005 seien
Schmerzen rechtsbetont mit Ausstrahlung in den rechten Arm und nach oben in den
Hinterkopf sowie Missempfindungen im Nacken im Vordergrund gestanden. Die
Schmerzen seien eindeutig belastungsabhängig. In Abhängigkeit vom Ausmass der
Schmerzsymptomatik würden auch eine verminderte Konzentrationsfähigkeit, eine
Beeinträchtigung der psychischen Befindlichkeit sowie eine vermehrte
Tagesmüdigkeit angegeben. Die aktuelle Arbeitsfähigkeit als Beamtin betrage bei
Persistenz dieser Beschwerden 50 %. In der aktuellen klinischen Untersuchung
zeigten sich myofasciale Befunde mit muskulärem Hartspann im Nacken- und
Schultergürtelbereich beidseits und eine leicht eingeschränkte Beweglichkeit
der HWS nach rechts, insbesondere der oberen HWS-Segmente. Diese Befunde seien
vereinbar mit einem Status nach cranio-cervicalem Beschleunigungstrauma. Die
Beschwerden stünden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in einem
Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis vom 8. Mai 2003. Aufgrund der
belastungsabhängigen Schmerzsymptomatik und der dadurch verminderten
Leistungsfähigkeit der Versicherten sei aktuell von einer 50%-igen
Arbeitsunfähigkeit auszugehen. Von einer weiteren ärztlichen Behandlung der
Unfallfolgen könne noch eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes
erwartet werden. Die Tätigkeit als Leiterin einer Abteilung sei sicher
geeignet, um die aktuelle Arbeitsfähigkeit trotz persistierendem Beschwerdebild
aufrecht zu erhalten und auch eine mögliche Steigerung im Verlauf zu
ermöglichen. Nicht geeignet seien Arbeiten mit schwerer körperlicher Belastung
und Verharren in einseitiger Körperposition. Zur Optimierung der
Arbeitsfähigkeit sollten ergonomische Verhaltensweisen, z.B. häufiges Wechseln
der Körperpositionen, umgesetzt werden.
3.1.2 Laut dem rheumatologischen Gutachten der Rehaklinik A.________ (Dr. med.
T.________, Leitender Arzt) vom 29. September 2005 klagte die Versicherte über
Schmerzen im Nackenbereich rechts mit Ausstrahlung gegen den Oberarm und gegen
den Hinterkopf bei meist belastungsabhängiger Schmerzzunahme im Verlauf des
Nachmittags. Im Weiteren leide sie an Missempfindungen im Nackenbereich.
Abhängig von der Schmerzsymptomatik habe sie Mühe mit der Konzentration. In der
aktuellen klinischen Untersuchung fänden sich eine leichte
Bewegungseinschränkung der HWS sowie myofasziale Befunde im Schulter-/
Nackenbereich mit muskulären Verspannungen und rechtsbetonter Druckdolenz. Die
von der Versicherten geklagten belastungsabhängigen Beschwerden im Schulter-/
Nackenbereich rechtsbetont seien glaubhaft, mit den klinischen und
radiologischen Befunden vereinbar und entsprächen der Symptomatik eines
chronischen zervikospondylogenen Syndroms. Aufgrund des zeitlichen Auftretens,
des Unfallmechanismus und des Beschwerdemusters seien die geklagten
belastungsabhängigen Beschwerden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das
Unfallereignis vom 8. Mai 2003 zurückzuführen. Die radiologisch nachgewiesenen,
unfallfremden Degenerationen (leichte Osteochondrose und kleine mediane
Diskushernie C5/6) seien demgegenüber asymptomatisch. Die Frage, ob von einer
weiteren ärztlichen Behandlung der Unfallfolgen eine namhafte Besserung des
Gesundheitsschadens zu erwarten sei, wird bejaht.

3.2 Gestützt auf die beiden Gutachten haben die Zürich im Einspracheentscheid
vom 7. März 2006 und die Vorinstanz im Entscheid vom 14. März 2007 den
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis vom 8. Mai 2003 und
den über den 31. Oktober 2003 hinaus fortbestehenden belastungsabhängigen
Beschwerden im Schulter- und Nackenbereich zu Recht bejaht.

3.3 Das Bundesgericht hat sich im bereits erwähnten Urteil BGE 134 V 109 auch
zum Zeitpunkt des Fallabschlusses geäussert. Demnach sind Heilbehandlung und
Taggeld nur solange zu gewähren, als von der Fortsetzung der ärztlichen
Behandlung noch eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet
werden kann. Trifft dies nicht mehr zu, ist der Fall unter Einstellung der
vorübergehenden Leistungen mit gleichzeitiger Prüfung des Anspruchs auf eine
Invalidenrente und auf eine Integritätsentschädigung abzuschliessen (BGE 134 V
109 E. 4.1 S. 113 f.).

3.4 Im Zeitpunkt der Begutachtungen im Kantonsspital Y.________ (Untersuchung
vom 9. März 2005) und in der Rehaklinik A.________ (Untersuchung vom 5.
September 2005) war gemäss der Beurteilung der an der jeweiligen Expertise
beteiligten Ärztinnen und Ärzte von einer weiteren ärztlichen Behandlung der
Unfallfolgen noch eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes zu erwarten.
Der Moment für den Fallabschluss unter Einstellung von Taggeld und
Heilbehandlung war somit am 31. Oktober 2003 noch nicht erreicht. Die
Beschwerdeführerin hat daher über dieses Datum hinaus Anspruch auf die
erwähnten Leistungen, welche einer Kürzung wegen mitwirkender unfallfremder
Ursachen nicht zugänglich sind (Art. 36 Abs. 1 UVG).

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten sind der Beschwerdegegnerin als der unterliegenden Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 14. März 2007 und der Einspracheentscheid vom 7. März
2006 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin auch
nach dem 31. Oktober 2003 Anspruch auf Versicherungsleistungen hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. September 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Flückiger