Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.176/2007
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8C_176/2007

Urteil vom 25. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin
Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Bundesamt für Sozialversicherungen, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Z.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Emil Nisple,
Oberer Graben 26, 9000 St. Gallen,

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen vom 27. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1953 geborene Z.________ bezieht seit November 1998 eine halbe und seit
Oktober 2002 eine ganze Invalidenrente. Nachdem der IV-Stelle des Kantons St.
Gallen mitgeteilt worden war, dass sich Z.________ seit 14. Oktober 2005 in
Untersuchungshaft befinde, sistierte diese mit Verfügung vom 28. Oktober 2005
die Invalidenrente ab sofort. Einspracheweise liess Z.________ die
rückwirkende vollständige Ausrichtung der Invalidenrente bis zu einer
allfälligen rechtsgültigen Verurteilung beantragen. Am 26. Januar 2006
ordnete die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen per 30. Januar 2006 die
Entlassung des Versicherten aus der Untersuchungshaft und dessen Einweisung
in den vorzeitigen Strafvollzug an. Die IV-Stelle wies die gegen die
Rentensistierung erhobene Einsprache mit Entscheid vom 27. März 2006 ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher Z.________ die rückwirkende
Ausrichtung der Invalidenrente bis zu einer allfälligen rechtsgültigen
Verurteilung, eventualiter die rückwirkende Ausrichtung der Rente für die
Dauer der Untersuchungshaft bis und mit Januar 2006 beantragen liess, hiess
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Februar
2007 teilweise gut, hob den angefochtenen Einspracheentscheid auf und wies
die Angelegenheit zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die
IV-Stelle zurück.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des
Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Februar
2007.

Z. ________ lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen und um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen. Die IV-Stelle schliesst auf
Gutheissung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Weil der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes
über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) auf den 1. Januar
2007 (AS 2006 1242) ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht
(Art. 132 Abs. 1 BGG).

1.2 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff.
BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist die Rechtsfrage, ob die Ausrichtung der
Invalidenrente des Beschwerdegegners während der Dauer der Untersuchungshaft
und des vorzeitigen Strafvollzuges sistiert werden kann.

3.
Die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter kann gemäss Art.
21 Abs. 5 ATSG ganz oder teilweise eingestellt werden, solange sich die
versicherte Person im Straf- oder Massnahmenvollzug befindet; ausgenommen
sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Art. 21 Abs. 3 ATSG. In
BGE 133 V 1 wurde entschieden, dass Art. 21 Abs. 5 ATSG an der bisherigen
Rechtsprechung (BGE 116 V 323), wonach Untersuchungshaft von gewisser Dauer
in gleicher Weise Anlass zur Rentensistierung gibt wie jede andere Form des
von einer Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges, nichts geändert hat.
Das Gericht hat in diesem Urteil eine Auslegung der seit 1. Januar 2003
anwendbaren Gesetzesbestimmung vorgenommen und dargelegt, dass die
teleologische und die Rechtsgleichheit miteinbeziehende Betrachtungsweise den
Rechtssinn des Art. 21 Abs. 5 ATSG aufzeigt, weshalb vom Wortlaut der Norm
abzuweichen ist und auch die Untersuchungshaft von gewisser Dauer, in
Anlehnung an die gemäss Art. 88a IVV revisionsrechtlich massgebende
Zeitspanne von einer Dauer von mehr als drei Monaten, Anlass zu einer
Rentensistierung gibt. Ratio legis ist nämlich die Gleichbehandlung der
invaliden mit der validen inhaftierten Person, welche durch einen
Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Entscheidend ist, dass eine
verurteilte Person wegen der Verbüssung einer Strafe an einer
Erwerbstätigkeit verhindert ist. Nur wenn die Vollzugsart der verurteilten
versicherten Person die Möglichkeit bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben
und somit selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet es sich,
den Rentenanspruch zu sistieren (BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6).

4.
4.1 Was die Ausrichtung der Invalidenrente während der Untersuchungshaft
anbelangt, befolgt die Vorinstanz die Rechtsprechung des Bundesgerichts und
lässt die Sistierung der Rente durch die IV-Stelle als grundsätzlich zulässig
gelten. Bezüglich des vorzeitigen Strafvollzuges hält das kantonale Gericht
fest, dass dieser, gleich wie die Untersuchungshaft, vom Wortlaut des Art. 21
Abs. 5 ATSG nicht erfasst werde, insgesamt aber doch näher beim Strafvollzug
als bei der Untersuchungshaft anzusiedeln und daher im Anwendungsbereich
dieser Bestimmung ersterem gleichzustellen sei. Bei Art. 21 Abs. 5 ATSG
handle es sich indessen - so die Vorinstanz - um eine Kann-Vorschrift,
weshalb durch eine einzelfallbezogene Prüfung abzuklären sei, ob durch die
weitere Rentenausrichtung eine geradezu stossende Besserstellung des
invaliden gegenüber dem validen Gefangenen resultieren würde. Insbesondere
sei zu prüfen, ob dem invaliden - wie dem validen - Gefangenen eine Arbeit
nach Art. 81 Abs. 1 StGB möglich sei, inwiefern er dadurch ein Startkapital
ersparen könne (Art. 83 Abs. 2 StGB) und ob er an den Vollzugskosten
beteiligt werde (Art. 380 StGB).

4.2 Wie das kantonale Gericht zutreffend erkannt hat, ist Art. 21 Abs. 5 ATSG
auf die Untersuchungshaft und erst recht auf den vorzeitigen Strafvollzug,
der näher beim in der Bestimmung erwähnten Straf- und Massnahmenvollzug
anzusiedeln ist als die Untersuchungshaft, grundsätzlich anwendbar. Ebenfalls
richtig ist, dass es sich bei Art. 21 Abs. 5 ATSG um eine Kann-Vorschrift
handelt. In BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6 wurde indessen klargestellt, dass
sich eine Sistierung der Rentenleistungen lediglich dort nicht rechtfertigt,
wo die Vollzugsart der verurteilten versicherten Person die Möglichkeit
bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und somit selber für die
Lebensbedürfnisse aufzukommen. So erlaubt es die Kann-Vorschrift, den
besonderen Umständen Rechnung zu tragen, wenn eine gesunde Person trotz
Straf- oder Massnahmenvollzug einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte wie in
der Halbgefangenschaft oder Halbfreiheit (vgl. Kieser, ATSG-Kommentar, N 78
zu Art. 21 ATSG). Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen vorbringt, fällt
die von der Vorinstanz diesbezüglich angeführte Arbeitspflicht gemäss Art. 81
Abs. 1 StGB nicht unter diese Erwerbstätigkeit, handelt es sich dabei doch um
einen Arbeitseinsatz in einem geschlossenen System, welcher mit der Arbeit im
Erwerbsleben auch lohnmässig nicht vergleichbar ist. Soweit die Vorinstanz
die eine Abweichung von Art. 21 Abs. 5 ATSG rechtfertigende
Schlechterstellung des invaliden Gefangenen darin sieht, dass sich dieser
kein Startkapital im Sinne von Art. 83 Abs. 2 StGB aufbauen könne, ist mit
dem beschwerdeführenden Bundesamt darauf hinzuweisen, dass dieses -
regelmässig bescheidene - Startkapital eine Rücklage für die Zeit nach der
Entlassung darstellt, in welcher sich ein gesunder Gefangener, der entlassen
wird, um eine Erwerbsmöglichkeit kümmern muss. Dieser Rücklage bedarf der
invalide Gefangene nach Beendigung des Straf- oder Massnahmenvollzuges nicht,
da er seine Rente wieder ausbezahlt erhält. Eine gänzliche oder teilweise
Weiterauszahlung der Rente während des vorzeitigen Straf- und
Massnahmenvollzuges würde vielmehr zu einer stossenden Besserstellung des
invaliden Gefangenen führen. Mit einer Beteiligung an den Kosten des Straf-
und Massnahmenvollzuges nach Art. 380 StGB schliesslich ist bei einem
invaliden Gefangenen nicht zu rechnen, da die Voraussetzungen gemäss Art. 380
Abs. 2 lit. a-c StGB in der Regel nicht erfüllt sind. So fallen, wenn der
invalide Gefangene nicht arbeitsfähig ist und nicht arbeitet, eine
Verrechnung mit seinem Arbeitsentgelt während des Vollzugs (lit. a), eine
Beteiligung nach Massgabe seines Einkommens und Vermögens bei Verweigerung
einer zugewiesenen Arbeit (lit. b) sowie ein Abzug vom Einkommen aus einer
Tätigkeit im Rahmen der Halbgefangenschaft, des Arbeitsexternats oder des
Wohn- und Arbeitsexternats ausser Betracht.

5.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Gleichzeitig wird ihm die unentgeltliche Rechtspflege
(Prozessführung und Verbeiständung; Art. 64 BGG) gewährt, da die hiefür
erforderlichen Voraussetzungen (Bedürftigkeit, Gebotenheit einer
Verbeiständung) gegeben sind (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S.
372, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 27. Februar 2007 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege werden sie einstweilen auf
die Gerichtskasse genommen.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Emil
Nisple, St. Gallen, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der
Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Neuverlegung
der Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zugestellt.

Luzern, 25. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
i.V.

U. Widmer Kopp Käch