Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.10/2007
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


8C_10/2007

Urteil vom 28. August 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön,
Gerichtsschreiber Flückiger.

L. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7,   6004 Luzern,

gegen

Allianz Suisse Leben, Rechtsdienst, Laupenstrasse 27, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 22. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene L.________ war ab 1. Mai 1991 mit einem Pensum von 50% bei
der Firma L.________ angestellt und damit bei der Berner Allgemeine
Versicherungsgesellschaft (nachfolgend: Berner) obligatorisch
unfallversichert. Am Morgen des 22. Mai 1992 wurde sie laut Unfallmeldung vom
26. Mai 1992 als Passagierin im Personaltransportbus wegen einer abrupten
Bremsung nach vorne geschleudert und schlug unter anderem den Kopf an einer
Schachtel an. Bei diesem Vorfall zog sich die Versicherte gemäss Arztzeugnis
UVG des am Folgetag erstmals aufgesuchten Dr. med. X.________, Allgemeine
Medizin FMH, eine Kontusion des rechten Oberschenkels und ein (fragliches)
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) zu. Nachdem die Arbeit ab dem 9.
Juni 1992 mit dem bisherigen Pensum wieder aufgenommen worden war (wobei eine
Handverletzung vom 31. August 1992 zu erneuter Arbeitsunfähigkeit bis 11.
Oktober 1992 führte), meldete Dr. med. X.________ der Berner am 6. November
1992, der Zustand der Patientin habe sich verschlimmert und sie könne das
gewohnte Arbeitstempo nicht mehr erbringen. Im September 1993 meldete sich
die Versicherte bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung an, welche ihr
schliesslich eine ganze Rente (Invaliditätsgrad 100%) für die Zeit ab 1. Mai
1993 zusprach (Verfügung vom 26. November 1996). Die Berner und ihre
Rechtsnachfolgerin, die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, richteten
Taggelder aus und kamen für die Kosten der Heilbehandlung auf. Zudem nahm der
Versicherer medizinische und erwerbliche Abklärungen vor. Insbesondere wurden
Gutachten des Universitätsspitals A.________, Neurologische Poliklinik, vom
18. September 2000 (mit Ergänzung vom 14. August 2003), des Dr. med.
S.________, Chirurgie FMH, vom 23. Januar 2002 sowie des Dr. med. T.________,
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 24. Juni 2004 eingeholt.
Anschliessend stellte die Allianz mit Verfügung vom 18. Oktober 2004 ihre
Leistungen per 30. September 2004 ein. Daran wurde mit Einspracheentscheid
vom 23. Mai 2005 festgehalten.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern ab (Entscheid vom 22. Januar 2007).

C.
L. ________ lässt Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei die
Allianz zu verpflichten, für das Unfallereignis vom 22. Mai 1992 über den 30.
September 2004 hinaus Leistungen zu erbringen. Insbesondere habe der
Versicherer Taggelder ab 1. April 1996 bei einer Arbeitsunfähigkeit von 100%
nachzuzahlen und die Beschwerdeführerin ab 1. September 2000 bei einem
Invaliditätsgrad von 100% zu berenten sowie eine Integritätsentschädigung bei
einem Integritätsschaden von 30% zu entrichten.
Vorinstanz und Allianz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt
für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann
insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a
BGG). Da sich das Rechtsmittel gegen einen Entscheid über die Zusprechung
oder Verweigerung von Geldleistungen (Art. 15 ATSG) der obligatorischen
Unfallversicherung richtet, kann überdies auch jede unrichtige oder
unvollständige Feststellung des Sachverhalts gerügt werden (Art. 97 Abs. 2
BGG). Dementsprechend ist das Bundesgericht nicht an die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat - unter Verweis auf den Einspracheentscheid vom 23.
Mai 2005 - die Grundsätze über den für die Leistungspflicht des
obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG) vorausgesetzten
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfall und eingetretenem Schaden (BGE
129 V 177 E. 3.1 S. 181, 402 E. 4.3.1 S. 406, 119 V 335 E. 1S. 337, 118 V 286
E. 1b S. 289, je mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur überdies erforderlichen
Adäquanz des Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181,
402 E. 2.2 S. 405, 125 V 456 E. 5a S. 461) sowie bei Unfällen mit
Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) oder gleichgestellter Verletzung im
Besonderen (BGE 117 V 359, 369).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Allianz für die Folgen des Unfalls vom 22.
Mai 1992 über den 30. September 2004 hinaus leistungspflichtig bleibt.

3.1  Das kantonale Gericht gelangte zum Ergebnis, die Beschwerdeführerin habe
am 22. Mai 1992 neben der folgenlos abgeheilten Oberschenkelkontusion ein
Schleudertrauma bzw. eine diesem äquivalente Verletzung erlitten. Für die
fortbestehenden Beschwerden (insbesondere Kopfschmerzen und
Konzentrationsstörungen) liege kein eindeutig objektivierbarer somatischer
Befund vor. Der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und diesen
Symptomen sei mindestens im Sinne einer Teilkausalität zu bejahen. Im Rahmen
der Adäquanzbeurteilung habe das Ereignis vom 22. Mai 1992 als leichter
Unfall zu gelten, weshalb die Adäquanz zu verneinen sei; auch bei einer
Qualifikation als mittelschwerer, im Grenzbereich zu den leichten liegender
Unfall ändere sich diese Beurteilung nicht.

3.2  Die Beschwerdeführerin lässt demgegenüber geltend machen, auf Grund der
massiven Verletzungsfolgen sei zumindest auf ein mittelschweres, wenn nicht
gar ein schweres Unfallereignis zu erkennen. Da mehrere der von der
Rechtsprechung entwickelten unfallbezogenen Kriterien erfüllt seien, müsse
die Adäquanz des Kausalzusammenhangs bejaht werden.

3.3  Nach Lage der Akten ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt,
dass die Versicherte am 22. Mai 1992 ein Schleudertrauma der HWS oder eine
äquivalente Verletzung erlitten hat, wobei innerhalb relativ kurzer Zeit
Nackenschmerzen auftraten, welche am nächsten Tag zur Konsultation des
Hausarztes führten. Für die Folgezeit sind verschiedene Symptome des für eine
spezifische HWS-Verletzung typischen Beschwerdebildes dokumentiert. Die
Adäquanzbeurteilung hat daher nach der mit BGE 117 V 359 respektive BGE 117 V
369 begründeten Praxis zu erfolgen. Dies ist denn auch unbestritten.

3.4  Zum Hergang des Unfalls vom 22. Mai 1992 ist den Akten zu entnehmen,
dass die Versicherte als Mitfahrerin im Personaltransportbus der
Arbeitgeberin unterwegs war. Weil der Fahrer unverhofft abrupt bremsen
musste, wurde sie innerhalb des Wagens nach vorne geschleudert, wobei sie
gemäss ihren im Neurologischen Gutachten vom 18. September 2000
festgehaltenen Angaben mit dem rechten Arm und dem rechten Bein gegen eine
Kiste prallte, ohne den Kopf anzuschlagen. Mit Blick auf den augenfälligen
Geschehensablauf ist dieses Ereignis im Rahmen der für die
Adäquanzbeurteilung vorzunehmenden Einteilung (BGE 117 V 359 E. 6a S. 366)
höchstens als mittelschwerer Unfall im Grenzbereich zu den leichten zu
qualifizieren. Diese Beurteilung bliebe unverändert, wenn man entsprechend
den Angaben in der Unfallmeldung und der letztinstanzlichen Beschwerdeschrift
annehmen wollte, es habe sich nicht um eine Kiste, sondern einen Stapel von
Schachteln gehandelt und die Versicherte habe den Kopf angeschlagen. Die
Adäquanz des Kausalzusammenhangs ist demzufolge zu bejahen, wenn entweder ein
einzelnes der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien (BGE 117 V 359 E.
6a S. 367) besonders ausgeprägt vorliegt oder die Kriterien insgesamt in
gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind (BGE 117 V 359 E. 6b S. 368
oben).

3.5  Das Unfallereignis vom 22. Mai 1992 war weder von besonderer
Eindrücklichkeit noch ereignete es sich unter dramatischen Begleitumständen.
Die Beschwerdeführerin erlitt keine Verletzungen von besonderer Art oder
Schwere. Die letztinstanzlich erneut vorgebrachte Behauptung, sie habe am
Unfalltag den Notfallarzt Dr. med. K.________ aufgesucht, wird durch den als
Beweismittel angerufenen Bericht des       Dr. med. X.________ vom 26. Juni
1996 nicht gestützt, denn dieser bezieht sich auf ein anderes, hier nicht zur
Diskussion stehendes Ereignis vom 3. Mai 1996, welches keine längerfristigen
Folgen zeitigte. Zu bejahen sind dagegen, wie die Vorinstanz mit Recht
erkannt hat, die Kriterien der körperlichen Dauerschmerzen und einer nach
Grad und Dauer erheblichen Arbeitsunfähigkeit (vgl. zur diesbezüglichen
Praxis RKUV 2001 Nr. U 442 S. 544 f., U 56/00), wobei jedoch beide Merkmale
nicht in einem Ausmass vorliegen, welches für sich allein genommen die
Adäquanz zu begründen vermöchte. Zu einer ärztlichen Fehlbehandlung, welche
die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hätte, kam es nicht. Gleiches gilt,
wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, bezüglich der Dauer der
ärztlichen Behandlung: Nach dem Aufenthalt in der Rehaklinik M.________,
welcher bis Mitte September 1993 dauerte, fand nach Lage der Akten keine
kontinuierliche, mit einer gewissen Planmässigkeit auf die Verbesserung des
Gesundheitszustandes gerichtete ärztliche Behandlung (vgl. Urteil U 479/05
vom 6. Februar 2007, E. 8.3) mehr statt. Die Kontrolluntersuchungen bei Dr.
med. X.________, die Verabreichung von Schmerzmitteln sowie gelegentliche
Physio- und Ergotherapie genügen für die Bejahung des Kriteriums nicht (vgl.
RKUV 2005 Nr. U 549 S. 236 E. 5.2.4 S. 238 f., U 380/04, mit Hinweisen).
Ebenso wenig kann unter den gegebenen Umständen von einem schwierigen
Heilungsverlauf oder erheblichen Komplikationen gesprochen werden, da die
hierfür über das Fortbestehen der Beschwerden hinaus verlangten besonderen
Gründe (Urteil U 479/05 vom 6. Februar 2007, E. 8.5) nicht gegeben sind.

3.6  Bei nur zwei erfüllten Kriterien und einem Unfall, welcher höchstens als
mittelschwer im Grenzbereich zu den leichten Ereignissen zu qualifizieren
ist, haben Allianz und Vorinstanz die Adäquanz des Kausalzusammenhangs mit
Recht verneint. Die Beschwerde ist abzuweisen.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten sind der
Beschwerdeführerin als unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1
BGG). Die Beschwerdegegnerin hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung
(Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 28. August 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: