Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.85/2007
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6B_85/2007 /rom

Urteil vom 3. Juli 2007
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Wiprächtiger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiber Briw.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Beutter,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld.

Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG,

Beschwerde in Strafsachen gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Thurgau vom 11. Januar 2007 (SBR.2006.48).

Sachverhalt:

A.
Am 9. September 2003 reiste der kubanische Staatsangehörige X.________
(Jahrgang 1975) in die Schweiz ein. Es wurde ihm eine bis zum 19. Juni 2004
gültige Aufenthaltsbewilligung zum Schulbesuch erteilt.

Am 15. Juni 2004 heiratete er die Schweizerin A.________. In der Folge wurde
ihm am 16. August 2004 eine ordentliche Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des
Familiennachzugs zum Verbleib bei der Ehegattin erteilt, gültig bis zum 14.
Juni 2005. Seit dem Februar 2005 lebten die Ehegatten getrennt.

Am 2. August 2005 wies das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St.
Gallen (Ausländeramt) sein Gesuch vom 6. Mai 2005 um Verlängerung seiner
Jahresaufenthaltsbewilligung ab und verfügte, er habe den Kanton St. Gallen
bis zum 31. Oktober 2005 zu verlassen. Dabei hielt das Ausländeramt fest, es
sei ihm bekannt, dass sich kubanische Staatsangehörige, denen die
Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz nicht mehr verlängert wurde, bei der
Rückkehr in den Heimatstaat mit gewissen behördlichen Problemen konfrontiert
sähen. Diese seien jedoch nicht unüberwindbar, so dass die Rückkehr nach Kuba
zumutbar sei. Diese Verfügung wurde rechtskräftig.

Am 26. September 2005 dehnte das Eidgenössische Justiz- und
Polizeidepartement (Bundesamt für Migration) die kantonale
Wegweisungsverfügung vom 2. August 2005 auf das ganze Gebiet der Schweiz
sowie auf das Fürstentum Lichtenstein aus und räumte ebenfalls eine
Ausreisefrist bis zum 31. Oktober 2005 ein. Es stellte fest, aufgrund der
Akten spreche nichts gegen den Vollzug der Wegweisung aus der Schweiz. Der
Vollzug sei zulässig, zumutbar und möglich (Art. 14a Abs. 1 des
Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer; ANAG, SR
142.20).

B.
Am 8. November 2005 teilte die italienische Staatsangehörige B.________, die
im Kanton Thurgau eine Niederlassungsbewilligung C besitzt, dem Ausländeramt
mit, X.________ wohne bei ihr. Sie wolle für ihren Verlobten eine
Aufenthaltsbewilligung. Die frühere Ehe sei geschieden. Sie erwarte ein Kind
von ihm und wolle ihn heiraten. Er wurde in der Folge am 14. Dezember 2005
inhaftiert.

Das Bezirksamt Münchwilen fand ihn mit Strafverfügung vom 4. Januar 2006 im
Sinne von Art. 23 Abs. 1 ANAG des rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz
schuldig, begangen ab dem 31. Oktober 2005 und insbesondere am 14. Dezember
2005, und bestrafte ihn mit 2 Wochen Gefängnis, bedingt mit einer Probezeit
von 2 Jahren.

Die Bezirksgerichtliche Kommission Münchwilen bestrafte ihn am 23. März 2006
mit 5 Tagen Gefängnis, bedingt mit einer Probezeit von 2 Jahren.

Das Obergericht des Kantons Thurgau verurteilte ihn am 11. Januar 2007 in
Anwendung von Art. 23 Abs. 1 ANAG zu einer Geldstrafe von 5 Tagessätzen à Fr.
30.-- und gewährte ihm den bedingten Vollzug mit einer Probezeit von 2
Jahren.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Das Obergericht liess sich nicht vernehmen. Die Staatsanwaltschaft beantragt
die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Verfahren richtet sich nach dem Bundesgesetz über das Bundesgericht vom
17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110). In diesem Verfahren legt das Bundesgericht
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Wer rechtswidrig das Land betritt oder darin verweilt, wird mit Geldstrafe
bis zu 180 Tagessätzen bestraft (Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG).

2.1 Wie die Vorinstanz feststellt, war es dem Beschwerdeführer nach dem
kubanischen Recht "im Jahre 2005 nicht mehr möglich, auf legale Weise
längerfristig nach Kuba zurückzukehren", weil er als kubanischer
Staatsangehöriger nach einem mehr als 11 Monate dauernden Auslandaufenthalt
als Emigrant gelte und damit sein Recht auf dauernden Aufenthalt in Kuba
verloren habe. Obwohl eine Rückkehr nach Kuba nicht mehr möglich gewesen sei,
habe er aber weder gegen die Wegweisungsverfügung des Bundesamtes für
Migration noch gegen die Verfügung des Ausländeramts St. Gallen ein
Rechtsmittel ergriffen. Die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens liege darin,
dass er seinen Aufenthalt nicht mit dem Status eines vorläufig Aufgenommenen
legalisiert habe. Er habe sich damit des rechtswidrigen Verweilens in der
Schweiz gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG schuldig gemacht.

2.2 Es ist somit davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer bis zum 31.
Oktober 2005 rechtmässig in der Schweiz aufgehalten hat und in diesem
Zeitpunkt wegen der kubanischen Praxis, die völkerrechtswidrig erscheint
(vgl. Art. 12 Abs. 4 UNO-Pakt II; BGE 130 II 56 E. 4.1.2; Walter Kälin/Jörg
Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel 2005, S. 474), nicht mehr in
seinen Heimatstaat zurückkehren konnte. Vom Beschwerdeführer kann nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen auch keine illegale Ausreise in einen
Drittstaat verlangt werden (zur Veröffentlichung vorgesehener BGE 2C_19/2007
vom 2. April 2007, E. 4.2.2). Hingegen wäre die Strafbarkeit gegeben, wenn
zwar nicht die zwangsweise Ausschaffung, wohl aber die freiwillige Rückkehr
in den Heimatstaat möglich gewesen wäre (vgl. BGE 130 II 56 E. 4.1.3 und
4.2.3). Soweit die Staatsanwaltschaft in der Vernehmlassung vorbringt, der
Beschwerdeführer könnte sich sehr wohl um eine formell korrekte bzw.
allenfalls faktische Einreise in seinen Heimatstaat erfolgreich bemühen, wenn
er dies nur wollte, widerspricht sie der Sachverhaltsdarstellung der
Vorinstanz, ohne aber eine offensichtliche Unrichtigkeit zu begründen (oben
E. 1). Auf die Vernehmlassung kann nicht abgestellt werden.

2.3 Während die Migrationsbehörden eine Rückkehr für möglich hielten (oben
Bst. A), verneint dies die Vorinstanz, so dass sie den Schuldspruch insoweit
nicht auf die Ausweisungsverfügung stützen konnte (zur Überprüfungsbefugnis
von Verwaltungsverfügungen BGE 129 IV 246 E. 2.1). Bei objektiver
Unmöglichkeit der legalen Ausreise (vgl. Art. 14a Abs. 2 ANAG) ist dem
Beschwerdeführer strafrechtlich nicht vorwerfbar, dass er die Schweiz nicht
verlassen hat. Denn das strafrechtliche Schuldprinzip setzt die Freiheit,
anders handeln zu können, voraus. Er hätte sich indessen in dieser Situation
mit den Migrationsbehörden (bzw. der kantonalen Fremdenpolizeibehörde, Art.
14b Abs. 1 ANAG) in Verbindung setzen und sich um die vorläufige Aufnahme
bemühen müssen (Art. 14a Abs. 1 ANAG). Dazu traf ihn eine Mitwirkungspflicht
(Art. 13f ANAG). Indem er stattdessen "untertauchte", verweilte er
rechtswidrig im Land (Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG). Denn mit dem Ablauf der
Ausreisefrist hört die Aufenthaltsberechtigung auf (Art. 9 Abs. 1 lit. d und
Art. 12 Abs. 4 ANAG). Der Schuldspruch ist somit nicht zu beanstanden.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann
gutgeheissen werden. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 64 Abs. 1
BGG). Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist aus der
Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Christian Beutter,
wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.--
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Thurgau und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Juli 2007

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Der Gerichtsschreiber: