Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.779/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_779/2007 /hum

Urteil vom 24. April 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Zünd, Mathys,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.

Parteien
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
9001 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Werner Bodenmann.

Gegenstand
Mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom
24. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Das Kreisgericht Gaster-See erklärte X.________ am 12. April 2006 der
mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, u.a. mit A.________, schuldig und
verurteilte ihn zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von sieben Monaten. Als
massgebliche Entscheidgrundlage diente dem Kreisgericht das psychiatrische
Gutachten der Universitätsklinik Zürich aus dem Jahre 1989.

B.
X.________ legte Berufung beim Kantonsgericht St. Gallen ein. Anlässlich der
Verhandlung vom 24. Januar 2007 wurde beschlossen, ihn erneut begutachten zu
lassen. Nach Eingang des psychiatrischen Gutachtens vom 16. Juli 2007 und der
hierzu erfolgten Stellungnahmen der Parteien sprach das Kantonsgericht
X.________ am 24. Oktober 2007 wegen fehlender Schuldfähigkeit von der Anklage
der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern frei (Ziff. 1 des Dispositives)
und ordnete eine ambulante psychiatrische Massnahme und für die Dauer der
Behandlung Bewährungshilfe an (Ziff. 2 des Dispositives).

C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erhebt Beschwerde in Strafsachen
an das Bundesgericht mit den Anträgen, Ziff. 1 des Urteils des Kantonsgerichts
sei aufzuheben und die Strafsache an dieses zur Verurteilung und angemessener
Bestrafung von X.________ wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern
zurückzuweisen.

D.
Das Kantonsgericht St. Gallen stellt in seiner Stellungnahme vom 4. März 2008
keinen Antrag. Der Beschwerdegegner beantragt in seiner Vernehmlassung vom 18.
April 2008 die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf überhaupt einzutreten
sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Kantonsgericht eine willkürliche
Beweiswürdigung (Art. 9 BV) sowie eine unrichtige Anwendung der Art. 20 und 50
StGB vor. Diese Rügen sind zulässig (Art. 95 BGG), und die Staatsanwaltschaft
ist befugt, sie zu erheben (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG; BGE 134 IV 36 E.
1).

2.
Das Kantonsgericht erachtet das psychiatrische Gutachten vom 16. Juli 2007 als
überzeugend. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerde.
Nach ihrem Dafürhalten ist das fragliche Gutachten - welches die
Staatsanwaltschaft bereits vor dem Kantonsgericht der Sache nach beanstandete,
so dass auf ihre diesbezüglichen Einwendungen vor Bundesgericht einzutreten ist
(siehe Vernehmlassung des Beschwerdegegners, S. 5, 6) - in verschiedener
Hinsicht mangelhaft. Insbesondere sind ihrer Ansicht nach die gutachterlichen
Ausführungen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Beschwerdegegners
sowohl grundsätzlich als auch unter Berücksichtigung des Gutachtens der
psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom 13. Februar 1989 weder schlüssig
noch sachgerecht begründet (vgl. Beschwerdeschrift, insbesondere Ziffern 14 und
15). Es sei deshalb willkürlich, wenn sich das Kantonsgericht bei der
Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne nähere Begründung einfach auf das
fragliche Gutachten vom 16. Juli 2007 stütze.

3.
3.1 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen
Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Bei der Beweiswürdigung steht dem
kantonalen Gericht ein weiter Ermessens-spielraum zu. Willkürlich ist ein
Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar
erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst, wenn er offensichtlich
unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine
Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in
stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur
vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das
Ergebnis unhaltbar ist (BGE 132 I 13 E. 5.1; 127 I 38 E. 2a, 54 E. 2b; 124 IV
86 E. 2a, mit Hinweisen).

3.2 Wie jedes andere Beweismittel haben Gerichte Gutachten grundsätzlich frei
zu würdigen. In Fachfragen dürfen sie aber nicht ohne triftige Gründe von
Gutachten abweichen und müssen Abweichungen begründen. Umgekehrt kann das
Abstellen auf nicht schlüssige Gutachten gegen das Verbot willkürlicher
Beweiswürdigung (Art. 9 BV) verstossen. Dies ist namentlich der Fall, wenn
gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die
Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern (BGE 130 I 337 E. 5.4.2;
129 I 49 E. 4; 128 I 81 E. 2).

4.
Gemäss Gutachten vom 16. Juli 2007 leidet der im Jahre 1948 geborene
Beschwerdegegner seit 1974 an einer bipolaren Affektstörung II (ICD-10 F31) mit
depressiven und submanischen bzw. hyperthymen Phasen. In solchen Phasen fehlt
es zufolge den weiteren Ausführungen des Gutachters regelmässig an der
Krankheitseinsicht, weshalb die Betroffenen eine allfällige psychiatrische
Therapie häufig ab- resp. unterbrächen. Es komme dabei sehr oft auch zu einer
sexuellen Enthemmung. Bei der Manie handle es sich um eine schwere psychische
Erkrankung, welche zu einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit und
zur Zerreissung von sinngesetzlichen seelischen Vorgängen und Handlungsabläufen
führe. Gegen diese psychotischen Erlebnisqualitäten und Impulse könnten
rationale Steuerungsmechanismen nur noch sehr bedingt eingesetzt werden. Auch
bei Straftaten im Rahmen von hypomanischen Zuständen sei praktisch stets die
Vollexkulpierung gerechtfertigt. Beim Beschwerdegegner liege keine Pädophilie
oder Pädosexualität vor, vielmehr handle es sich um eine prägenitale Sexualität
mit dem Wunsch nach Zuwendung und Zärtlichkeit. Anlässlich der ihm zur Last
gelegten Delikte habe mit hoher Wahrscheinlichkeit eine hypomanische Phase
seiner bipolaren Störung II vorgelegen. Die Fähigkeit zur Einsicht in das
Unrecht seines Tuns sei dabei kaum herabgemindert gewesen. Jedoch habe diese
Einsicht nicht mehr handlungsbestimmend wirken können, d.h. die
Steuerungsfähigkeit sei praktisch aufgehoben gewesen, so dass von einer
fehlenden Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt auszugehen sei (Gutachten, S. 18
ff.).

5.
Die Diagnose der bipolaren Affektstörung II wird im fraglichen Gutachten
nachvollziehbar hergeleitet und umfassend erläutert. Dass der Beschwerdegegner
weder an einer schweren Persönlichkeitsstörung leidet, wovon im psychiatrischen
Gutachten der Universitätsklinik Zürich vom 13. Februar 1989 im Sinne einer
Hauptdiagnose ausgegangen wird, noch an einer Triebstörung (Pädophilie,
Pädosexualität), begründet der Sachverständige mit triftigen Argumenten
(Gutachten, S. 17 und 19). Die ärztliche Befunderhebung leuchtet insoweit ein.
Die Staatsanwaltschaft erhebt hiegegen denn auch zu Recht keine Einwendungen.

Demgegenüber erweist sich ihre Kritik an der weiteren gutachterlichen
Einschätzung, insbesondere an der Schuldfähigkeitsbeurteilung, entgegen der
Auffassung des Beschwerdegegners (siehe dessen Vernehmlassung, S. 7 ff.) als
berechtigt. So äussert sich der Sachverständige - abgesehen von der
Feststellung, dass der Beschwerdegegner in den letzten Jahren dank der
Lithiumprophylaxe symptomfrei gewesen sein soll (Gutachten, S. 23) - nicht
konkret zum Schweregrad, zum Ausmass und zur Ausprägung des von ihm
festgestellten Befundes. Er beschränkt sich insofern vielmehr darauf, aus dem
Grundsatzwerk "Psychiatrische Begutachtung" von Venzlaff/Foerster zu zitieren,
etwa dahin, dass es sich bei der Manie um eine schwere psychische Erkrankung
mit tiefgreifender Veränderung der Persönlichkeit handle, ohne aber in der
Folge den erhobenen psychischen Befund auch mit Blick auf die andauernde
medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung des Beschwerdegegners konkret
zu quantifizieren. Aus dem Gutachten ergibt sich demnach nicht, ob der
Beschwerdegegner - unter Berücksichtigung der grundsätzlich als adäquat
eingestuften Behandlungsmassnahmen - an einer eher einfachen Störung bzw. an
mittelgradigen oder gar schweren manischen (und depressiven) Episoden leidet.
Insoweit erweist sich das Gutachten als unzulänglich.

Nicht anders verhält es sich mit der darin vorgenommenen Einschätzung der
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, d.h. der Auswirkungen der psychischen
Erkrankung auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschwerdegegners. Die Umstände,
die vorliegend einerseits für eine weitgehend erhaltene Einsichtsfähigkeit,
andererseits aber für eine praktisch aufgehobene Steuerungsfähigkeit zur
Tatzeit sprechen sollen, werden im Gutachten nicht sachgerecht und fallbezogen
begründet, zumal sich (auch) hierzu nur Erwägungen pauschaler Natur finden,
beispielsweise dahin, dass auch bei Straftaten im Rahmen von hypomanischen
Zuständen die Vollexkulpierung praktisch stets gerechtfertigt sei. Insoweit
entsteht der Eindruck, dass im Gutachten unter alleiniger Berücksichtigung des
festgestellten psychischen Befundes in unzulässiger Weise direkt auf die
beinahe aufgehobene Steuerungsfähigkeit und damit fehlende Schuldfähigkeit des
Beschwerdegegners geschlossen wird. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn
mit keinem Wort darauf eingegangen wird, weshalb die Steuerungsfähigkeit des
Beschwerdegegners praktisch beseitigt gewesen sein soll, wiewohl er mit Lithium
behandelt wurde. Die Frage, ob die medikamentöse Behandlung mit Blick auf die
Steuerungsfähigkeit als geradezu wirkungslos bezeichnet werden muss, hätte sich
aber aufgedrängt und einer eingehenden Begründung durch den Sachverständigen
bedurft.

Schliesslich erfolgt im Gutachten vom 16. Juli 2007 auch keine
Auseinandersetzung mit der Beurteilung der Schuldfähigkeit, wie sie im
Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom 13. Februar 1989
vorgenommenen wird. Darin wurde dem Beschwerdegegner eine bloss im mittleren
Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiert. Dies obschon auch die
damaligen psychiatrischen Sachverständigen davon ausgingen, dass der
Beschwerdegegner neben einer schweren Persönlichkeitsstörung an einer bipolaren
Affektpsychose leidet (Gutachten der psychiatrischen Universitätsklinik, S. 37
und 38). Vor diesem Hintergrund hätte es sich aufgedrängt, die Gründe und
Umstände, die den aktuellen Sachverständigen zu einer Neubeurteilung der
Schuldfähigkeit des Beschwerdegegners veranlassten, unter Würdigung des
früheren Gutachtens transparent und nachvollziehbar aufzuzeigen, zumal das
Krankheitsbild offensichtlich gleichbleibend seit 1974 besteht. Solches kann
dem Gutachten vom 16. Juli 2007 indessen nicht entnommen werden.

Unter diesen Umständen hätte das Kantonsgericht bei seiner Entscheidfindung,
wie die Staatsanwaltschaft zu Recht geltend macht, nicht unbesehen auf das
fragliche Gutachten vom 16. Juli 2007 abstellen dürfen. Indem es dies dennoch
tat, ist es entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners in Willkür verfallen.
Die Beschwerde erweist sich insofern als begründet. Die weiteren Rügen
betreffend die unrichtige Anwendung von Art. 20 und 50 StGB müssen vor diesem
Hintergrund nicht behandelt werden.

6.
Damit ist die Beschwerde gutzuheissen, die Dispositiv-Ziffer 1 des
angefochtenen Entscheids aufzuheben und die Sache antragsgemäss zur neuen
Entscheidung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Dieses wird im Sinne der
obigen Erwägungen den Schweregrad, das Ausmass und die Intensität der
psychischen Erkrankung des Beschwerdegegners sowie deren Auswirkungen auf
dessen Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit abklären lassen müssen, wobei
insbesondere zu berücksichtigen sein wird, dass der Beschwerdegegner bereits
dannzumal nicht nur psychotherapeutisch, sondern medikamentös mit Lithium
behandelt wurde.

7.
Gemäss Verfahrensausgang hat der Beschwerdegegner die bundesgerichtlichen
Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende beschwerdeführende
Staatsanwaltschaft hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68
Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen
Entscheids des Kantonsgerichts St. Gallen vom 24. Oktober 2007 aufgehoben und
die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer,
sowie A.________ schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 24. April 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Schneider Arquint Hill