Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.768/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B_768/2007 /hum

Urteil vom 27. Juni 2008
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Borner.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Meier,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Fristwiederherstellung (ANAG-Widerhandlung),

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, vom 25. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl auferlegte X.________ am 20. April 2007
wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4
und 5) eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 30.--, wovon 24 Tagessätze
durch Haft erstanden sind, und eine Busse von Fr. 300.--. Sie schob den Vollzug
der Geldstrafe bei einer Probezeit von 2 Jahren bedingt auf.

Gestützt auf einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid wurde X.________ am 2.
April 1998 und letztmals am 1. Mai 2007 aufgefordert, das Land unverzüglich zu
verlassen. Dieser Aufforderung leistete er keine Folge.

B.
Mit Strafbefehl vom 14. Juni 2007 erkannte die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl
X.________ schuldig der Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1 al. 4 des
Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG). Sie
widerrief den bedingten Vollzug der erwähnten Geldstrafe und belegte ihn mit
einer Gesamtstrafe von 30 Tagen Freiheitsstrafe.

Nach Ablauf der 10-tägigen Frist erhob X.________ Einsprache und ersuchte unter
anderem um Wiederherstellung der Einsprachefrist. Der Einzelrichter in
Strafsachen des Bezirkes Zürich wies das Gesuch am 20. August 2007 ab. Den
Rekurs ans Obergericht des Kantons Zürich wies dieses am 25. Oktober 2007 ab,
soweit es darauf eintrat.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben, und er sei mit einer milden Geldstrafe zu bestrafen.
Eventualiter sei die Frist zur Einsprache gegen den Strafbefehl vom 14. Juni
2007 wiederherzustellen und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Obergericht beantragt in seiner Vernehmlassung sinngemäss, die Beschwerde
sei abzuweisen (act. 10). Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat auf
eine Vernehmlassung verzichtet (act. 11).
Erwägungen:

1.
Gemäss § 199 Abs. 1 GVG/ZH kann das Gericht auf Antrag der säumigen Partei eine
Frist wiederherstellen und eine Verhandlung neu ansetzen.

1.1 Eine Wiederherstellung ist nur möglich, wenn eine Frist wider den Willen
der Partei verpasst wurde. Ob die Partei die Frist absichtlich verstreichen
liess, hängt davon ab, ob ihre Willensbildung fehlerfrei zu Stande gekommen
ist. Wurde sie von ihrem Anwalt über die Aussichten eines Rechtsmittels falsch
beraten und befand sie sich demzufolge hinsichtlich der Aussichten eines
Rechtsmittels in einem wesentlichen Irrtum, der sie zum Verzicht auf das
Rechtsmittel veranlasste, so muss ihr die Möglichkeit der Wiederherstellung
offen stehen; denn es wäre mit dem Ziel der materiellen Gerechtigkeit
unverträglich, die Partei einen derartigen Fehler ihres Anwalts entgelten zu
lassen (ZR 86 Nr. 90 E. 3).

1.2 Nachdem der Beschwerdeführer den Strafbefehl vom 14. Juni 2007 erhalten
hatte, suchte er die offene Rechtsberatung der "Rechtsauskunft
Anwaltskollektiv" auf. Dort riet ihm ein Rechtsanwalt - nachdem dieser
Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl genommen hatte - davon ab,
gegen den Strafbefehl Einsprache zu erheben.

Nach Ablauf der Einsprachefrist konsultierte der Beschwerdeführer seinen
jetzigen Rechtsvertreter, der die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels positiv
einschätzte, weil es an einer gesetzlichen Grundlage für die Ausfällung einer
Freiheitsstrafe fehle. Dementsprechend focht er den Entscheid nachträglich an
und ersuchte um Wiederherstellung der Einsprachefrist.

1.3 Die Vorinstanz begründet die Anwendbarkeit von Art. 41 Abs. 1 StGB auf das
ANAG wie folgt:

Weil das ANAG an die Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches
angepasst worden sei, sei dieser grundsätzlich nicht anwendbar. Eine Ausnahme
bilde allerdings Art. 333 Abs. 4 StGB, welcher unter anderem einen
ausdrücklichen Vorbehalt der Anwendbarkeit von Art. 41 StGB statuiere. Damit
werde die rechtliche Grundlage für die Anwendbarkeit von Art. 41 StGB auch für
jene Bundesgesetze begründet, deren Strafnormen an die revidierten allgemeinen
Bestimmungen des StGB angepasst wurden und für die der Allgemeine Teil des StGB
somit grundsätzlich nicht gelte. Die Botschaft führe dazu aus, dass dieser
Vorbehalt gewährleisten solle, "dass im Nebenstrafrecht die Strafrahmen
grundsätzlich nicht geändert und nur die Strafarten angepasst werden". Art. 41
Abs. 1 StGB sei folglich auch auf das ANAG anwendbar (angefochtener Entscheid
S. 7 Ziff. 5.3).

1.4 Der Beschwerdeführer verweist zu Recht auf weitere Erläuterungen der
Botschaft:

"Es wäre - und sei es auch nur für eine Übergangszeit - viel zu umständlich,
wenn bei der Anwendung dieser Gesetze (aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass
folgende Gesetze gemeint sind: SVG, ANAG und BetmG) immerzu ein
Umrechnungsschlüssel aus dem StGB herangezogen werden müsste. Deshalb soll in
diesen Erlassen von herausragender praktischer Bedeutung die wirklich
verhängbare Strafe schon selber angedroht werden. Eine Anpassung dieser
Nebenstrafrechtserlasse soll deshalb im Rahmen der vorliegenden AT-Revision
vorgenommen werden.
...

Für die Strafdrohungen derjenigen Erlasse, die nicht im Rahmen der vorliegenden
Revision angepasst werden, soll in Artikel 333 Absätze 3-5 E ein
Umrechnungsschlüssel vorgesehen werden. ...

... Die allgemeinen Bestimmungen des StGB finden ausnahmsweise keine Anwendung
dann, wenn ein Nebenstrafrechtserlass eigene einschlägige Vorschriften
aufstellt. Diese Ausnahme gilt auch bei der Transformation der Strafdrohungen
des Nebenstrafrechts" (Botschaft zur Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches ... vom 21. September 1998, S. 2153 f.).

Diese Ausführungen unterscheiden klar zwischen SVG, ANAG und BetmG einerseits,
die parallel zur Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches angepasst
werden sollen, und den übrigen Nebenstrafrechtserlassen anderseits, für welche
in Art. 333 Abs. 3-5 StGB Umrechnungsschlüssel vorgesehen sind. Dass Abs. 4
letzterer Bestimmung auch auf SVG, ANAG und BetmG anwendbar sein soll, geht aus
der Botschaft nicht hervor. Vielmehr wird dort ausdrücklich festgehalten, dass
die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches nicht anwendbar sind, wenn
ein Erlass eigene Normen aufstellt, und zwar auch solche hinsichtlich der
Transformation.

1.5 Der Beschwerdeführer hielt sich vom 2. April 1998 bis 13. Juni 2007
rechtswidrig in der Schweiz auf.

Bis Ende 2006 drohte das Ausländerstrafrecht bei illegalem Aufenthalt eine
Freiheitsstrafe von maximal sechs Monaten an (Art. 23 Abs. 1 ANAG in der
Fassung gemäss BG vom 8. Oktober 1948, AS 1949 I 225). Diese Strafe wurde bei
der Einführung des neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches am 1. Januar
2007 durch 180 Tagessätze Geldstrafe ersetzt (AS 2006, 3536). Diese
Strafandrohung ist milder als die frühere und daher auch auf das rechtswidrige
Verweilen vor dem 1. Januar 2007 anwendbar (Art. 2 Abs. 2 StGB).

Soweit der Beschwerdeführer für das ausländerrechtliche Delikt mit
Freiheitsstrafe belegt wurde, fehlt es an einer expliziten Gesetzesgrundlage in
Art. 23 Abs. 1 ANAG (in der Fassung des BG vom 13. Dezember 2002, AS 2006,
3459, 3536), weshalb der angefochtene Entscheid gegen Bundesrecht (Art. 1 und
Art. 41 Abs. 1 StGB) verstösst (BGE 134 IV 60 E. 8.4).

1.6 Indem die kantonalen Gerichte im Fall des Beschwerdeführers von einer
falschen Rechtsauffassung bezüglich der Anwendbarkeit von Art. 41 Abs. 1 StGB
ausgingen, verweigerten sie ihm willkürlich die Wiederherstellung der
Einsprachefrist (§ 199 Abs. 1 GVG/ZH). Deshalb ist seinem diesbezüglichen
Antrag stattzugeben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107
Abs. 2 BGG).

1.7 Bei diesem Ausgang des Verfahrens erübrigen sich Ausführungen zur amtlichen
Verteidigung des Beschwerdeführers (Beschwerdeschrift S. 5 f. Ziff. 2.2;
angefochtener Entscheid S. 5 Ziff. 4).

2.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da er
obsiegt, ist sein Gesuch gegenstandslos. Sein Rechtsvertreter ist vom Kanton
Zürich angemessen zu entschädigen. Eine Gerichtsgebühr entfällt (Art. 68 Abs. 1
und Art. 66 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Einsprachefrist gegen den Strafbefehl der
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 14. Juni 2007 wiederhergestellt und die
Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos
abgeschrieben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Kanton Zürich hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. Juni 2008
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Borner