Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.715/2007
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6B_715/2007

Urteil vom 7. Februar 2008
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
Gerichtsschreiber Stohner.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Lippuner,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh., Unteres Ziel 20, 9050
Appenzell,
Beschwerdegegnerin 1.

A. ________,
Beschwerdegegnerin 2,

Kostenregelung,

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh., Abteilung
Zivil- und Strafgericht, vom 28. August 2007.
Sachverhalt:

A.
A. ________ klagte am 21. Oktober 2005 beim Vermittleramt Bezirk Appenzell
gegen X.________ wegen Beschimpfung, weil er sie als "die Alte" betitelt
habe. Dieser erschien sowohl am 17. November 2005 als auch am 5. Dezember
2005 nicht zu den anberaumten Vermittlungsvorständen. Mit Strafbefehl vom 28.
März 2006 befand die Staatsanwaltschaft Appenzell Innerrhoden X.________ der
Beschimpfung schuldig.

Gegen diesen Strafbefehl erhob X.________ Einsprache, und der Fall wurde von
der Staatsanwaltschaft dem Bezirksgericht Appenzell Innerrhoden zur
Beurteilung überwiesen. Dieses sprach X.________ mit Urteil vom 13. Dezember
2006 vom Vorwurf der Beschimpfung frei. Hingegen auferlegte es ihm die
gesamten Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 1'870.--, bestehend aus den
Kosten des Vermittlungsverfahrens von Fr. 200.--, Untersuchungskosten von Fr.
170.-- und Gerichtskosten von Fr. 1'500.--.

B.
Gegen diese Kostenverlegung reichte X.________ beim Kantonsgericht Appenzell
Innerrhoden Berufung ein (sinngemäss) mit den Anträgen, die Verfahrenskosten
seien im Umfang von Fr. 1'770.-- A.________, eventualiter dem Staat
aufzuerlegen.

Mit Urteil vom 28. August 2007 wies das Kantonsgericht die Berufung ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des
Kantonsgerichts Appenzell Innerrhoden vom 28. August 2007 sei aufzuheben und
die Verfahrenskosten seien im Betrag von Fr. 1'770.--, bestehend aus der
Hälfte der Vermittlungskosten von Fr. 100.--, Untersuchungskosten von Fr.
170.-- sowie Gerichtskosten von Fr. 1'500.--, A.________, eventualiter dem
Staat aufzuerlegen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Das Kantonsgericht hat auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde
verzichtet. A.________ hat sich innert Frist nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten, da sie unter Einhaltung der
gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42 BGG) von der mit
ihren Anträgen unterliegenden beschuldigten Person (Art. 81 Abs. 1 lit. b
Ziff. 1 BGG) eingereicht wurde und sich gegen einen von einer letzten
kantonalen Instanz (Art. 80 BGG) gefällten Endentscheid (Art. 90 und 95 BGG)
in Strafsachen (Art. 78 Abs. 1 BGG) richtet.

Soweit der Beschwerdeführer jedoch eine Verletzung der Unschuldsvermutung
rügt, weil die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil den Eindruck
erweckten, das Gericht halte ihn trotz des Freispruchs in strafrechtlicher
Hinsicht einer Beschimpfung für schuldig (Beschwerde S. 3), kann auf die
Beschwerde nicht eingetreten werden. Der Beschwerdeführer ficht damit einzig
die Begründung des erstinstanzlichen Urteils an. Anfechtungsobjekt aber
bildet das Urteil der Vorinstanz, und der Beschwerdeführer bringt insoweit zu
Recht nicht vor, dieses beinhalte einen strafrechtlich relevanten Vorwurf.

2.
2.1 Die Vorinstanz hat im Kostenpunkt erwogen, Verfahren bei Ehrverletzungen
würden im Kanton Appenzell Innerrhoden mit einem schriftlichen Antrag der
geschädigten Person beim Vermittler eingeleitet. Ehrverletzungsklagen dürften
durch die Gerichte mithin erst behandelt werden, wenn ein Versöhnungsversuch
stattgefunden habe und erfolglos geblieben sei. Das Fernbleiben des
Beschwerdeführers von den beiden anberaumten Vermittlungsvorständen habe das
Verfahren verlängert und eine gütliche Lösung a priori verunmöglicht. Das
kantonale Prozessrecht statuiere zwar keine obligatorische Pflicht zur
Teilnahme an Versöhnungsversuchen, aufgrund der kantonalen Gepflogenheiten
sei es aber nicht nur üblich, sondern eine langjährige ungeschriebene Norm
und Praxis, einer amtlichen Vorladung zum Vermittlungsvorstand Folge zu
leisten. Mit seinem Nichterscheinen habe der Beschwerdeführer gegen diese
ungeschriebene Norm verstossen, sich damit leichtfertig bzw. verwerflich und
folglich zivilrechtlich vorwerfbar verhalten. Ihm sei mithin ein so genanntes
prozessuales Verschulden im weiteren Sinne anzulasten. Hätte der
Beschwerdeführer an den Versöhnungsversuchen teilgenommen, hätte die
Möglichkeit einer Einigung bestanden, weshalb er die entstandenen
Verfahrenskosten auch kausal verursacht habe und ihm diese von der ersten
Instanz zu Recht auferlegt worden seien (angefochtenes Urteil S. 6).

2.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Bundesrecht im Sinne von
Art. 95 lit. a BGG. Er macht zusammenfassend eine qualifiziert falsche
Anwendung kantonalen Prozessrechts (Art. 120 Abs. 2 StPO/Appenzell I.Rh.)
geltend.

Er bringt insbesondere vor, eine Kostenauflage trotz Freispruchs würde
bedingen, dass er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise klar gegen eine
geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm des schweizerischen Rechts
verstossen und dadurch die Einleitung des Verfahrens verursacht oder dessen
Durchführung erschwert hätte. Dies sei aber mitnichten der Fall. Im
Prozessrecht des Kantons Appenzell Innerrhoden werde keine Pflicht zur
Teilnahme an Vermittlungsvorständen statuiert. Wenn sich die Vorinstanz
insoweit lediglich auf eine angeblich langjährige Praxis und Gepflogenheit
berufe, könne es sich nur um eine moralische oder ethische Pflicht handeln,
deren Verletzung für eine Kostenüberbindung eben gerade nicht genüge. Für ihn
sei von Beginn weg klar gewesen, dass er sich nicht strafbar gemacht habe,
weshalb er bei den Vermittlungsvorständen auch nicht von seinem Standpunkt
abgerückt wäre. Durch seine Nichtteilnahme im Vorverfahren habe er das
Hauptverfahren somit weder erschwert noch verlängert, d.h. die nachfolgenden
Kosten auch nicht kausal verursacht. Ein allfälliges prozessuales Verschulden
könnte sich mithin einzig auf sein Nichterscheinen am ersten
Vermittlungsvorstand beziehen, und nur in diesem Umfang komme denn auch eine
Kostenauflage überhaupt in Frage. Als Fazit sei festzuhalten, dass bereits
die Voraussetzung eines prozessualen Verschuldens nicht erfüllt sei.
Jedenfalls aber fehle es an dem für eine Kostenüberwälzung erforderlichen
Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und den aufgelaufenen Kosten
(Beschwerde S. 3 ff.).
2.3 Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist es mit der in Art.
32 Abs. 1 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung vereinbar,
einem nicht verurteilten Beschuldigten die Kosten zu überbinden, wenn er in
zivilrechtlich vorwerfbarer Weise - d.h. im Sinne einer analogen Anwendung
der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze - gegen eine geschriebene oder
ungeschriebene Verhaltensnorm, die aus der gesamten schweizerischen
Rechtsordnung stammen kann, klar verstossen und dadurch das Strafverfahren
veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 120 Ia 147 E. 3b, 119
Ia 332 E. 1b, 116 Ia 162 E. 2f). Dem Angeschuldigten muss mithin ein
prozessuales Verschulden angelastet werden können. Ein prozessuales
Verschulden im weiteren Sinn liegt vor, wenn der Beschuldigte durch sein
rechtswidriges und schuldhaftes Vorgehen die Einleitung des Strafverfahrens
veranlasst hat. Die Kostenauflage ist dabei nur zulässig, soweit zwischen dem
ausserstrafrechtlichen Verhalten und den verursachten Kosten ein
Kausalzusammenhang besteht. Von einem prozessualen Verschulden im engeren
Sinn wird demgegenüber gesprochen, wenn der Angeschuldigte infolge
prozesswidriger Handlungen den Fortgang des Prozesses hinausgezögert oder den
Behörden unnötige Mehrarbeiten und Kosten verursacht hat (Robert
Hauser/Erhard Schweri/Karl Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6.
Aufl., Basel/Genf/München 2005, § 108 N. 20 ff.).

Ob der Beschuldigte in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine
geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm klar verstossen und durch
sein Benehmen das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung
erschwert hat, untersucht das Bundesgericht nur unter dem Gesichtswinkel der
Willkür. Insofern steht nicht mehr der Schutzbereich der Bestimmungen von
Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK in Frage, welche den guten Ruf des
Angeschuldigten gegen den direkten oder indirekten Vorwurf einer
strafrechtlichen Schuld schützen wollen. Die Voraussetzungen der
Kostenauflage werden vielmehr durch die Vorschriften der kantonalen
Strafprozessordnungen umschrieben; insoweit greift ausschliesslich Art. 9 BV
Platz, wonach die betreffenden Gesetzesbestimmungen nicht willkürlich
angewendet werden dürfen. Diese Grundsätze gelten über die Auferlegung von
Kosten hinaus auch für die Frage der Verweigerung einer Entschädigung (vgl.
zum Ganzen Urteile des Bundesgerichts 6B_724/2007 vom 11. Januar 2008, E.
2.5; 1P.65/2005 vom 22. Juni 2005, E. 3.1).

Willkür in der Rechtsanwendung liegt dabei einzig vor, wenn der angefochtene
kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid
nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar
ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender
erscheint, genügt nicht (BGE 131 I 467 E. 3.1; 132 I 13 E. 5.1, 175 E. 1.2).
2.4 Ehrverletzungsprozesse gelten im Kanton Appenzell Innerrhoden als
prinzipale Privatstrafklageverfahren, in welchen wegen des betont
persönlichen Charakters der verletzten Rechtsgüter ein öffentliches Interesse
an der Ahndung fehlt und der Staat deshalb die Verfolgung dem Geschädigten
überlasst (vgl. hierzu Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl.,
Zürich/Basel/Genf 2004, N. 881 ff.; Niklaus Oberholzer, Grundzüge des
Strafprozessrechts, 2. Aufl., Bern 2005, S. 627 ff.).

Gemäss Art. 115 StPO/Appenzell I.Rh. sind Ehrverletzungsverfahren mit einem
schriftlichen Antrag des Geschädigten beim Vermittler einzuleiten (Abs. 1).
Dieser versucht, die Parteien zu versöhnen. Misslingt der Versuch und liegt
innert zehn Tagen kein schriftlicher Rückzug des Antrags vor, stellt der
Vermittler dem Antragsteller den Leitschein aus (Abs. 2). Zur Eröffnung einer
Strafuntersuchung ist der Leitschein der Staatsanwaltschaft einzureichen
(Abs. 3). Die Untersuchung endet mit der Einstellung des Verfahrens, der
Überweisung an das Gericht oder mit Strafbefehl (Art. 119 Abs. 1
StPO/Appenzell I.Rh.).

Die Rolle des Strafklägers ist jener des Klägers im Zivilprozessrecht
angenähert. Nach Art. 120 Abs. 2 StPO/Appenzell I.Rh. trägt daher der
Geschädigte die Kosten, wenn das Verfahren schliesslich durch Freispruch
abgeschlossen wird, wobei von dieser Regel abgewichen werden darf, wenn
besondere Umstände es rechtfertigen, wie leichtfertiges oder verwerfliches
Verhalten des Beschuldigten.

2.5 Vorliegend ist fraglich, ob der Beschwerdeführer mit seinem Ausbleiben im
Vorverfahren in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine ungeschriebene
Verhaltensnorm klar verstossen hat. Letztlich braucht diese Frage aber nicht
abschliessend beantwortet zu werden. Wie der Beschwerdeführer nämlich
zutreffend geltend macht, hat er durch sein Fernbleiben von den
Vermittlungsvorständen das Hauptverfahren weder erschwert noch verlängert und
damit diese Kosten auch nicht kausal verursacht. Es ist ohne weiteres
glaubhaft und legitim, dass er - da von seiner Unschuld überzeugt - auch bei
einer allfälligen Teilnahme an den Versöhnungsversuchen nicht zu einer
Einigung Hand geboten hätte und es daher ohnehin zum Verfahren vor dem
Bezirksgericht gekommen wäre. Dass er sich aber im Hauptverfahren
zivilrechtlich vorwerfbar verhalten hätte, wird dem Beschwerdeführer von der
Vorinstanz nicht vorgeworfen.

Es liegen mit anderen Worten somit keine besonderen Umstände im Sinne von
Art. 120 Abs. 2 StPO/Appenzell I.Rh. vor. Es ist deshalb weder willkürfrei
begründbar noch im Ergebnis haltbar, dem Beschwerdeführer trotz Freispruchs
die gesamten Verfahrenskosten zu überbinden. Es käme einzig allenfalls in
Betracht, ihn aufgrund eines prozessualen Verschuldens zur Bezahlung der
Kosten des ersten Vermittlungsvorstands zu verpflichten. Da er die
Auferlegung dieser Kosten von Fr. 100.-- nicht angefochten hat, kann diese
Frage jedoch offen gelassen werden.

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Vorinstanz Art. 120 Abs. 2
StPO/Appenzell I.Rh. willkürlich angewendet hat, indem sie dem
Beschwerdeführer sämtliche Verfahrenskosten auferlegt hat.

3.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen, soweit darauf einzutreten
ist, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Der Beschwerdegegnerin 2, welche keine Anträge gestellt hat, werden für das
bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten auferlegt. Es wird daher darauf
verzichtet, Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton
Appenzell Innerrhoden hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG).

In ihrem neuen Entscheid wird die Vorinstanz gestützt auf das kantonale
Prozessrecht darüber zu befinden haben, ob die Kosten des kantonalen
Verfahrens vom Staat oder von der Beschwerdegegnerin 2 zu tragen sind, und ob
dem Beschwerdeführer für das kantonale Verfahren eine Parteientschädigung
zusteht.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil
des Kantonsgerichts Appenzell Innerrhoden vom 28. August 2007 aufgehoben und
die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Appenzell Innerrhoden hat dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden,
Abteilung Zivil- und Strafgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Februar 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Stohner