Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.607/2007
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6B_607/2007/bri

Urteil vom 12. März 2008
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Mathys,
Gerichtsschreiber Briw.

X. ________,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach,
4001 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Verweigerung der Wiederaufnahme eines eingestellten Verfahrens,

Beschwerde gegen den Entscheid des Strafgerichts
des Kantons Basel-Stadt, Rekurskammer, vom 21. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
X. ________ und A.________ sind seit 1989 verheiratet und haben zwei
gemeinsame Kinder, eine Tochter (geb. 1990) und einen Sohn (geb. 1994). Seit
Ende 1997 leben die Ehegatten getrennt und die beiden Kinder in der Obhut der
Mutter.

X. ________ stellte 1998 Strafanzeige gegen seine Frau wegen sexueller
Handlungen vor einem Kind. Das Verfahren wurde im September 1998 wegen
Fehlens des Tatbestandes eingestellt.

A. ________ erhob 1999 ihrerseits Strafanzeige gegen ihren Mann wegen
Verdachts auf sexuelle Handlungen mit den beiden Kindern (kantonale Akten,
act. 12). Es wurden zwei aussagepsychologische Gutachten erstellt, eines im
Auftrag der Vormundschaftsbehörde von Prof. B.________ (act. 84) und das
andere im Auftrag der Staatsanwaltschaft von Prof. C.________ (act. 94). Das
Strafverfahren wurde am 24. Juli 2002 "mangels Beweises des Tatbestandes"
durch die Staatsanwaltschaft eingestellt (act. 182).

B.
Im Mai 2003 schrieb die Tochter X.________, dass sie betreffend die Vorwürfe
des sexuellen Missbrauchs die ganze Zeit über gelogen und ihn jahrelang
falsch beschuldigt habe (act. 216). Sie wiederholte dies am 30. Juni 2004 bei
der Vormundschaftsbehörde (Abteilung Kindes- und Jugendschutz; angefochtenes
Urteil S. 2). Das Strafverfahren gegen sie wegen falscher Anschuldigung wurde
durch die Jugendanwaltschaft Basel-Stadt am 3. Februar 2005 eingestellt (act.
301).

Mit Eingabe vom 18. Oktober 2004 beantragte X.________ bei der
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, dass das Verfahren gegen ihn "wieder
aufgenommen und in der Folge wegen erwiesener Unschuld eingestellt wird".
Gleichzeitig erhob er Strafanzeige gegen seine Frau wegen Anstiftung zu
falscher Anschuldigung sowie wegen Irreführung der Rechtspflege (act. 209).
In dieser Sache wurde sein Rekurs am 30. August 2006 als unbegründet
abgewiesen und die Einstellung des gegen seine Frau gerichteten Verfahrens
definitiv bestätigt (angefochtenes Urteil S. 3 f.).

Die Staatsanwaltschaft trat unter Hinweis auf § 109 Abs. 4 StPO/BS auf das
Wiederaufnahmegesuch nicht ein (act. 259). Die dagegen erhobene Einsprache
wies der Erste Staatsanwalt am 9. November 2004 ab (act. 266). Das von
X.________ angehobene Rekursverfahren wurde zunächst wegen des von ihm gegen
seine Ehefrau angestrengten und damals noch hängigen Strafverfahrens
sistiert.

Die Rekurskammer des Strafgerichts Basel-Stadt wies am 21. Februar 2007 den
Rekurs von X.________ in seinem Wiederaufnahmeverfahren als unbegründet ab
und bestätigte den Entscheid des Ersten Staatsanwalts vom 9. November 2004.

C.
X.________ führt Beschwerde mit den Anträgen, den Entscheid der Rekurskammer
aufzuheben und diese anzuweisen, das Strafverfahren gegen ihn wieder
aufzunehmen und dieses wegen erwiesener Unschuld wieder einzustellen. Weiter
beantragt er die unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde ist als Beschwerde in Strafsachen zu behandeln (Art. 78 Abs. 1
BGG). Der "Nachtrag" vom 12. Dezember 2007 ging nach Ablauf der 30-tägigen
Rechtsmittelfrist (Art. 100 Abs. 1 BGG) ein und kann nicht berücksichtigt
werden.

2.
Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss eine willkürliche Anwendung des
kantonalen Verfahrensrechts sowie eine willkürliche Beweiswürdigung.

Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem
Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die Rüge muss präzise (BGE 133
III 439 E. 3.2) und damit entsprechend den Anforderungen der früheren
Bestimmung von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG begründet werden (BGE 133 IV 286 E.
1.4). Die Anwendung des kantonalen Rechts prüft das Bundesgericht auf Willkür
hin (Art. 9 BV). Es hebt einen Entscheid wegen Willkür auf, wenn er
schlechterdings unhaltbar ist, d.h. mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder sich sachlich
in keiner Weise rechtfertigen lässt (BGE 133 III 589 E. 4.1; 131 I 217 E.
2.1, 467 E. 3.1).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des
Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 BGG). Dabei bedeutet "offensichtlich unrichtig" willkürlich (BGE 133
II 249 E. 1.2.2). Es gilt daher auch in dieser Hinsicht eine qualifizierte
Rügepflicht im Sinne der früheren Vorschrift von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG
(BGE 133 II 249 E. 1.4.2).

Schliesslich muss die Begründung in der Beschwerde selber enthalten sein.
Eine Verweisung auf andere Rechtsschriften oder die Akten genügt nicht (BGE
133 II 396 E. 3.1).

3.
3.1 Die Vorinstanz führt aus, es mache für den Angeschuldigten einen ganz
wesentlichen Unterschied, ob er nach Abschluss des Verfahrens vom ungeheuren
Vorwurf, er habe die eigenen Kinder sexuell missbraucht, infolge erwiesener
Unschuld freigesprochen und damit ohne den Rest eines Vorwurfs voll und ganz
rehabilitiert werde oder ob die Einstellung des Strafverfahrens mangels
Beweises des Tatbestands erfolge, wodurch ein Verdacht nicht restlos
ausgeräumt werde. Auch für diesen Fall müsse die Wiederaufnahme möglich sein.
§ 109 StPO/BS enthalte insoweit eine echte Lücke. Entsprechend müsse § 189
Abs. 1 lit. d StPO/BS ergänzt werden: "Ein rechtskräftig eingestelltes
Ermittlungsverfahren ist wieder aufzunehmen, wenn erhebliche Tatsachen oder
Beweismittel vorliegen, die der Behörde zur Zeit der Einstellung nicht
bekannt waren und die als geeignet erscheinen, eine Einstellung wegen
erwiesener Unschuld oder eine andere, wesentlich günstiger lautende
Einstellungsbegründung herbeizuführen."

Selbst wenn aber dem Beschwerdeführer gefolgt und grundsätzlich die
Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens bejaht werde, sei der Rekurs
dennoch abzuweisen. Dass die Tochter ihre früheren Belastungen als unwahr
zurückgenommen habe, führe nicht ohne weiteres zum Beweis seiner Unschuld.
Ihr widersprüchliches Verhalten werfe die Frage nach dem wahren Motiv für den
Meinungswechsel und einer möglichen Beeinflussung auf. Die Rücknahme der
Anschuldigungen würde nur sie selber und nicht das eingestellte Verfahren
gegen ihren Bruder betreffen. Die Revision des Verfahrens könnte zwar auch
nur bezüglich der Tochter begründet sein. Jedoch könnten die Aussagen der
Tochter nicht zu einer erwiesenen Unschuld des Beschwerdeführers führen, weil
die Aussagen der Kinder im langjährigen Scheidungs- und Besuchsrechtskrieg
der Familie nie vollkommen klar einzuordnen sein würden. Offensichtlich seien
die Kinder zwischen Vater und Mutter hin- und hergerissen. Die Unschuld des
Beschwerdeführers werde aus diesem Grund auch mit der neuen Aussage nicht
positiv zu beweisen sein. Bei Aussagen von Jugendlichen, die über Jahre im
Krieg zwischen den Eltern von einer Seite auf die andere manipuliert worden
seien, könne dieser Beweis nicht gelingen.

3.2 Damit geht die Vorinstanz mit dem Beschwerdeführer von einer Rücknahme
der Anschuldigung durch seine Tochter aus und bejaht die Möglichkeit der
Wiederaufnahme des Verfahrens.

3.3 Zu prüfen bleibt nur, ob die Vorinstanz in Willkür verfallen ist, wenn
sie im Ergebnis die Wiederaufnahme dennoch verweigert.

3.3.1 Der Beschwerdeführer weist auf die vorinstanzliche Erwägung hin, dass
die neuen Angaben der Tochter nicht zu einer erwiesenen Unschuld führen
könnten, weil die Aussagen der Kinder im langjährigen Scheidungs- und
Besuchsrechtskrieg der Familie nie vollkommen klar einzuordnen sein würden,
und macht geltend, dies sei willkürlich, weil die Vorinstanz den falschen
Untersuchungshergang nicht bedacht habe. Die Kinder seien im Zeitpunkt der
Strafanzeige acht und vier Jahre alt gewesen. Seine Frau habe die Aussagen
der Kinder "durch Bedrohung, Erpressung, Einschüchterung und Gewalteinfluss
erzwungen". Diese schwerwiegenden Vorwürfe sind nicht erstellt und können
nicht berücksichtigt werden. Das vom Beschwerdeführer gegen seine Frau
angestrengte Strafverfahren ist rechtskräftig eingestellt worden.

3.3.2 Der Beschwerdeführer verweist auf eine Vielzahl von Akten aus den
verschiedenen Verfahren. Insbesondere beruft er sich auf ein Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht
(Ausschuss) vom 9. August 2002 betreffend Besuchsrecht. Das
Appellationsgericht hatte unter Verweisung auf die Einstellung des
Strafverfahrens vom 24. Juli 2002 und die beiden aussagepsychologischen
Gutachten (oben Bst. A) festgehalten, dass sich die Aussagen der Kinder zu
den angeblichen Verfehlungen des Vaters als nicht glaubhaft erwiesen hätten.
Es nahm mit der Vormundschaftsbehörde an, dass "an der Richtigkeit der
Misshandelsvermutung (...) erhebliche Zweifel" bestünden und dass "zumindest
eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür" bestünde, dass "die Kinder ihre
Äusserungen unter starker Beeinflussung, wenn nicht gar unter Druck, gemacht
hatten" (act. 233 bzw. 341, E. 2a und c). Es sprach ferner von einem
Loyalitätskonflikt und erwähnte, dass beide Kinder ihre Ablehnung einer
Erweiterung der Besuchsrechtsregelung mit Hinweisen auf "böse" oder "falsche"
Sachen bzw. "etwas Schlimmes" begründeten, das ihr Vater gemacht habe,
weswegen sie Angst vor ihm hätten. Es kam zum Ergebnis, weil keine Gefährdung
des Kindeswohls zu befürchten sei, erscheine aber eine Erweiterung der
Besuchsregelung als gerechtfertigt (a.a.O., E. 6 und 7). Der Beschwerdeführer
weist in seinen Beschwerdebeilagen auch auf ein Schreiben des
Justizdepartements des Kantons Basel-Stadt (Vormundschaftsbehörde) vom 11.
November 2005 hin, worin diese Behörde festhielt, sie sei zur Erkenntnis
gelangt, dass das damals vorgeworfene Verhalten nicht stattgefunden habe.
Diese nicht weiter begründete Einschätzung erging nicht in einem
justizförmigen Verfahren, so dass ihr keine ausschlaggebende Bedeutung
zukommen kann. Wie diese repräsentativen Akten aufzeigen, lässt sich anhand
des verwaltungsrechtlichen Verfahrens eine "Unschuld" nicht erweisen.
Erheblich sind ferner die Protokolle der Einvernahme von Mutter und Tochter
durch die Staatsanwaltschaft vom 2. Februar 2005 (act. 291 und 296), wo die
Mutter an ihrer ursprünglichen Darstellung des Geschehens festhielt.

3.3.3 Gemäss § 109 Abs. 1 StPO/BS verfügt die Staatsanwaltschaft die
Einstellung des Verfahrens, wenn die Ermittlungen ergeben, dass zureichende
Gründe für die Erhebung einer Anklage fehlen (oder gemäss § 21 auf die
Verfolgung einer strafbaren Handlung zu verzichten ist). Die
Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen den Beschwerdeführer mit
Beschluss vom 24. Juli 2002 "mangels Beweises des Tatbestandes" ein und
führte insbesondere aus, der Beschwerdeführer bestreite die Tat vehement und
nach dem Glaubhaftigkeitsgutachten könne auf die Angaben der beiden Kinder
nicht abgestellt werden, da sich aus diesen kein sicherer Hinweis ergebe,
dass die angeblich durch ihren Vater bei ihnen vorgenommenen Handlungen auf
realen Erlebnissen beruhten (act. 182).

Beide Ehegatten prozessieren seit Jahren hartnäckig gegeneinander und ziehen
ihre Kinder in diesen Streit hinein. Für ihre gegenseitigen Strafanzeigen
beriefen sie sich auf Aussagen und Verhaltensweisen ihrer Kinder. Beide
Verfahren wurden eingestellt. So wenig nun aber im vorliegenden Verfahren die
Beschuldigungen unter den konkreten Umständen den Tatbestandsnachweis
erbringen oder zur Anklage führen konnten, so wenig vermag ihr Rückzug durch
die Tochter eine "Unschuld" nachzuweisen. Der Sachverhalt kann nicht mit der
im Strafrecht erforderlichen Beweissicherheit aufgeklärt werden. Es lässt
sich lediglich feststellen, dass "zureichende Gründe für eine Anklage
fehlen". In dieser Situation haben die Strafbehörden das Verfahren von
Gesetzes wegen einzustellen. Die vorinstanzliche Entscheidung, eine
Wiederaufnahme des Verfahrens würde nicht eine Einstellung wegen erwiesener
Unschuld oder eine andere, wesentlich günstiger lautende
Einstellungsbegründung herbeiführen (vgl. oben E. 3.1), erscheint nicht als
willkürlich. Somit ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten
werden kann.

4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit der
Beschwerde abzuweisen (Art. 64 BGG). Angesichts der geltend gemachten
finanziellen Lage des Beschwerdeführers sind die Gerichtskosten herabzusetzen
(Art. 66 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Strafgericht des Kantons Basel-Stadt,
Rekurskammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. März 2008

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Schneider Briw