Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.55/2007
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6B_55/2007 /hum

Urteil vom 12. Juni 2007
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Jürg Pilgrim,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau.

Widerhandlung gegen das SVG,

Beschwerde in Strafsachen gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, Strafgericht,

3. Kammer, vom 22. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Der PW-Lenker X.________ war am 6. Juli 2005 auf der Autobahn A2 unterwegs in
Richtung Basel. Auf dem Baustellenabschnitt Höhe Brittnau fuhr er auf dem
Überholstreifen der doppelspurigen Baustellen-Notfahrbahn. Versetzt vor ihm
fuhr auf dem rechten Fahrstreifen ein Autotransporter. Hinter X.________
folgte mit geringem Abstand auf dem Überholstreifen der PW-Lenker A.________.
Das Geschehen wurde von zwei Polizeibeamten beobachtet, die mit einem zivilen
Polizeifahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen dem Autotransporter folgten.

B.
Mit Urteil des Gerichtspräsidiums Zofingen vom 15. Mai 2006 wurde X.________
in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 35 Abs. 7 SVG (Nichtfreigabe
des Überholstreifens, trotz einem sich ankündigenden, schneller fahrenden
Fahrzeug) sowie Art. 34 Abs. 1 SVG und Art. 8 Abs. 1 VRV (unbegründetes
Fahren auf dem Überholstreifen bzw. unbegründetes links Fahren) zu einer
Busse von Fr. 200.--, umwandelbar in 6 Tage Haft bei Nichtbezahlung,
verurteilt. Das Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer,
bestätigte mit Urteil vom 22. Januar 2007 den erstinstanzlichen Schuldspruch,
änderte ihn aber dahingehend, dass es für den Fall der schuldhaften
Nichtbezahlung den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen anordnete.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 22. Januar 2007 sei aufzuheben, und er
sei von Schuld und Strafe freizusprechen, eventualiter sei die Sache zur
neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Weil die angefochtene Entscheidung nach dem Datum des Inkrafttretens des
Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG, SR 173.110), dem 1. Januar 2007
(AS 2006, 1242) ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht (Art.
132 Abs. 1 BGG).

2.
Auf die Beschwerde kann grundsätzlich eingetreten werden, da sie unter
Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42
BGG) von der in ihren Anträgen unterliegenden beschuldigten Person (Art. 81
Abs. 1 lit. b BGG) eingereicht wurde und sich gegen einen von einer letzten
kantonalen Instanz gefällten Endentscheid (Art. 90 BGG) in Strafsachen (Art.
80 Abs. 1 BGG) richtet.

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Feststellungen des Obergerichts, dass
kein dichter Verkehr geherrscht habe und dass sich ein nachfolgender
schnellerer Autofahrer angekündigt habe, verletze das verfassungsmässige
Recht auf Beweis und sei deshalb willkürlich. Weiter rügt er eine Verletzung
seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Er habe insgesamt dreimal die
Zeugeneinvernahmen von B.________, C.________ und D.________ betreffend die
Verkehrsverhältnisse verlangt. Diese Personen seien zu keinem Zeitpunkt
einvernommen worden. In den Akten befänden sich lediglich zwei Fotos, so dass
eine antizipierte Beweiswürdigung nicht zulässig sei.

3.1 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung ist die
Kognition des Bundesgerichts auf Willkür beschränkt. Dies gilt auch nach dem
Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Bundesgericht. Gemäss Art. 105 Abs.
1 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat. Es kann diese Sachverhaltsfeststellung  nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid
von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41).

3.2 Das Obergericht stellte im Rahmen der Beweiswürdigung auf den
Polizeirapport ab. Darin wird festgehalten, dass der Beschwerdeführer auf dem
Überholstreifen in gebührendem Abstand leicht versetzt hinter einem auf dem
rechten Fahrstreifen fahrenden Autotransporter gefahren sei. Der auf dem
Überholstreifen nachfolgende PW-Lenker habe schneller fahren und den
Beschwerdeführer überholen wollen. Dieser habe sich offensichtlich nicht
getraut, den teils schwankenden Autotransporter zu überholen. Gleichwohl habe
er den Überholstreifen im Baustellenbereich über eine Strecke von mehr als
sechs Kilometern nicht freigegeben, obschon ihm dies möglich gewesen wäre und
der von hinten nahende PW-Lenker ihn habe überholen wollen (angefochtenes
Urteil S. 4).

3.3 Dem Polizeirapport ist zu entnehmen, dass sich direkt neben dem
Beschwerdeführer kein Fahrzeug befand. Zudem ist aus den zwei Fotos
ersichtlich, dass zum fraglichen Zeitpunkt kein dichter Verkehr herrschte.
Die diesbezügliche Feststellung der Obergerichts ist somit nicht willkürlich.
Entsprechendes gilt für die Feststellung, dass sich ein nachfolgender
schnellerer Autofahrer angekündigt hatte. Dieser Lenker anerkannte nämlich
anlässlich seiner Einvernahme vom 6. Juli 2006, dem Beschwerdeführer während
rund zwei Kilometern mit ungenügendem Abstand gefolgt zu sein. Dadurch hat er
sich zum einen selber belastet, zum anderen entspricht seine Aussage dem
Polizeirapport und den dokumentierten Fotos. Bei der Aussage des
Beschwerdeführers, er habe das nachfolgende Fahrzeug nicht bemerkt, durfte
das Obergericht ohne Willkür annehmen, es handle sich um eine
Schutzbehauptung. Der Beschwerdeführer hat im Übrigen den im Polizeirapport
geschilderten Sachverhalt, wonach er in gebührendem Abstand leicht versetzt
hinter dem Autotransporter gefahren sei und der nachfolgende PW-Lenker habe
schneller fahren und ihn überholen wollen, nicht bestritten. Die
Feststellungen des Obergerichts, dass kein dichter Verkehr geherrscht und
dass sich ein nachfolgender schnellerer Autofahrer angekündigt hatte, welcher
den Beschwerdeführer überholen wollte, sind somit weder offensichtlich
unrichtig, noch beruhen sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
BGG.

3.4 Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV umfasst unter
anderem das Recht des Betroffenen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu
werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder
sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den
Entscheid zu beeinflussen (BGE 126 I 15 E. 2a/aa; 124 I 49 E. 3a, 241 E. 2,
je mit Hinweisen). Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt, dass der
Richter rechtzeitig und formrichtig angebotene erhebliche Beweismittel
abzunehmen hat (BGE 122 I 53 E. 4a, mit Hinweisen). Dies verwehrt es ihm
indessen nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn er ohne Willkür in
freier, antizipierter Würdigung der beantragten zusätzlichen Beweise zur
Auffassung gelangen durfte, dass weitere Beweisvorkehren an der Würdigung der
bereits abgenommenen Beweise voraussichtlich nichts mehr ändern würden (BGE
124 I 208 E. 4a; 122 II 464 E. 2a; 122 III 219 E. 3c; 122 IV 157 E. 1d, je
mit Hinweisen).

3.5 Wie das Obergericht willkürfrei festgestellt hat, herrschte zum
fraglichen Zeitpunkt kein dichter Verkehr und hat sich das nachfolgende
Fahrzeug angekündigt. Daran hätte die Durchführung der Zeugeneinvernahmen
nichts geändert. Bei den genannten Zeugen handelt es sich zum einen um die
Beifahrerin des Beschwerdeführers selber und zum anderen um den Lenker eines
vor ihm fahrenden Fahrzeuges und dessen Beifahrerin. Diese beiden konnten die
Verkehrsverhältnisse, welche hinter ihnen herrschten, schlecht beurteilen.
Das Obergericht hat somit nicht in willkürlicher Weise auf die
Zeugeneinvernahmen verzichtet. Die antizipierte Beweiswürdigung verletzte den
Anspruch des Beschwerdeführers aufs rechtliche Gehör nicht.

4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, dass dichter Verkehr geherrscht habe und
damit das Fahren in parallelen Kolonnen im Sinne von Art. 8 Abs. 2 VRV
gestattet gewesen sei. Die Verurteilung wegen unbegründeten Fahrens auf dem
Überholstreifen bzw. unbegründeten links Fahrens verstosse gegen Bundesrecht.

4.1 Nach Art. 34 Abs. 1 SVG und Art. 7 Abs. 1 VRV müssen Fahrzeuge rechts
fahren. Gemäss Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VRV ist auf Strassen mit mehreren
Fahrstreifen in der gleichen Richtung der äusserste Streifen rechts zu
benützen. Auch auf Autobahnen muss im Interesse der Sicherheit und
Flüssigkeit des Verkehrs an der Regel des Rechtsfahrens festgehalten werden.
Insbesondere auf Autobahnen mit nur einem Überholstreifen vermindert dies die
Gefahr von Auffahrkollisionen und die Verleitung zu verbotenem
Rechtsüberholen. Das Gebot des Rechtsfahrens gehört zu den grundlegenden
Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts nicht nur in der Schweiz, sondern
auch in zahlreichen anderen Ländern (BGE 105 IV 55 E. 3 und 5 S. 57 ff.).
Ausnahmen vom Gebot des Fahrens auf der äussersten rechten Spur gelten u.a.
beim Überholen und beim Fahren in parallelen Kolonnen (Art. 8 Abs. 1 Satz 2
VRV). Das Fahren in parallelen Kolonnen ist bei dichtem Verkehr gestattet,
wenn die rechte Fahrbahnhälfte dafür genügend Raum bietet (Art. 8 Abs. 2
VRV). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts liegt dichter Verkehr bei
"längerem Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung
bewegenden Fahrzeugreihen" vor (BGE 115 IV 244 E. 3a S. 246, mit Hinweisen).

4.2 Aufgrund der willkürfreien Feststellung im angefochtenen Entscheid ist
davon auszugehen, dass kein dichter Verkehr und auch kein Kolonnenverkehr
herrschte. Der Beschwerdeführer war mithin nicht gestützt auf Art. 8 Abs. 2
VRV berechtigt, über eine Strecke von rund sechs Kilometern im
Baustellenbereich den linken Fahrstreifen zu benützen.

4.3 Der Beschwerdeführer wagte nach eigenen Aussagen nicht, den gelegentlich
schwankenden Autotransporter, der vor ihm fuhr, zu überholen. In dieser
Situation war er verpflichtet, auf den rechten Fahrstreifen zu wechseln. Dazu
bestand auf der Strecke von sechs Kilometern reichlich Gelegenheit, zumal der
Abstand zwischen dem Autotransporter und dem diesem auf dem rechten
Fahrstreifen folgenden zivilen Polizeifahrzeug ausreichend war, wie sich auch
aus den Fotos (kantonale Akten p. 011) ergibt.

5.
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich aufgrund des Schildes
"Versetzt Fahren = mehr Sicherheit" zu seiner Fahrweise berechtigt und
verpflichtet gefühlt. Sollte diese Auffassung irrig gewesen sein, sei ihm ein
Rechtsirrtum im Sinne von Art. 21 StGB zuzubilligen. Sollte der Irrtum
vermeidbar gewesen sein, sei die Busse zu reduzieren. Der Beschwerdeführer
bemängelt, dass sich das Obergericht mit dem bereits im Berufungsverfahren
geltend gemachten Rechtsirrtum nicht auseinander gesetzt habe.

5.1 Wer bei Begehung der Tat nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich
rechtswidrig verhält, handelt nicht schuldhaft. War der Irrtum vermeidbar, so
mildert das Gericht die Strafe (Art. 21 StGB). Nach der Rechtsprechung zu
Art. 20 aStGB kann sich auf Rechtsirrtum nur berufen, wer zureichende Gründe
zur Annahme gehabt hatte, er tue überhaupt nichts Unrechtes, und nicht schon,
wer die Tat bloss für straflos hielt (BGE 104 IV 217 E. 2 S. 218).

5.2 Die Tafel "Versetzt Fahren = mehr Sicherheit" (siehe kantonale Akten p.
051), die in der Strassenverkehrsgesetzgebung nicht vorgesehen ist, statuiert
offensichtlich weder ein Überholverbot noch eine Ausnahme vom
Rechtsfahrgebot. Die Tafel empfiehlt bloss, beim Fahren in parallelen
Kolonnen in dichtem Verkehr nach Möglichkeit nicht nebeneinander, sondern
versetzt zu fahren. Der Beschwerdeführer hatte keine zureichenden Gründe zur
Annahme, er tue überhaupt nichts Unrechtes, und kann sich somit nicht auf
Rechtsirrtum berufen. Im Übrigen hat sich das Obergericht mit dem vom
Beschwerdeführer im Berufungsverfahren sinngemäss geltend gemachten
Rechtsirrtum auseinandergesetzt, indem es ausführt, dass das Schild eine
Empfehlung enthalte, wie auf Baustellen im Kolonnenverkehr zu fahren sei, und
dass das erwähnte Schild nichts am Gebot des Rechtsfahrens ändere, wenn kein
Kolonnenverkehr herrsche (angefochtenes Urteil S. 5 E. 3.1).

6.
Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Verletzung von Verkehrsregeln im
Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 34 Abs. 1 SVG und Art. 8 Abs. 1 VRV
ist somit nicht zu beanstanden.

7.
Der Beschwerdeführer ficht auch seine Verurteilung wegen Verletzung von
Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 35 Abs. 7 SVG an.
Nach Art. 35 Abs. 7 SVG ist dem sich ankündigenden, schneller fahrenden
Fahrzeug die Strasse zum Überholen freizugeben. Der dem Beschwerdeführer in
sehr geringem Abstand auf dem Überholstreifen folgende Fahrzeuglenker wollte
gemäss dem verbindlichen Sachverhalt den Beschwerdeführer überholen. Dieser
war daher verpflichtet, den Überholstreifen freizugeben und auf den rechten
Fahrstreifen zu wechseln, was gemäss den vorstehenden Erwägungen (siehe E.
4.3 hiervor) ohne weiteres möglich gewesen wäre. Das angefochtene Urteil ist
daher auch in diesem Schuldpunkt nicht zu beanstanden.

8.
Demgemäss ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Die
Gerichtskosten werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 4'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Juni 2007

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: