Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.315/2007
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6B_315/2007 /rom

Urteil vom 12. November 2007
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
Gerichtsschreiberin Binz.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hermann Näf,

gegen

Staatsanwaltschaft I des Kantons Uri, Postfach 933, 6460 Altdorf UR.

Kostenauflage,

Beschwerde in Strafsachen gegen den Entscheid des Landgerichtspräsidiums Uri
vom 25. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
Am 9. September 2004 stellten die Gemeindewerke A.________ Strafantrag gegen
Unbekannt wegen Sachbeschädigung im Sinne von Art. 144 Abs. 1 StGB, nachdem
in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2004 ein Schaufenster ihres
Verkaufsgeschäfts beschädigt worden war. Eine am Tatort sichergestellte
Blutspur konnte gestützt auf einen DNA-Vergleich X.________ zugeordnet
werden. Nachdem die Gemeindewerke A.________ den Strafantrag gegen X.________
zurückgezogen hatten, stellte die Staatsanwaltschaft Uri mit Verfügung vom
11. April 2007 das Strafverfahren ein und auferlegte X.________ die
Verfahrenskosten.

B.
Den von X.________ erhobenen Rekurs gegen den Kostenentscheid in der
Einstellungsverfügung wies das Landgerichtspräsidium Uri mit Entscheid vom
25. Mai 2007 ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, der Entscheid des
Landgerichtspräsidiums Uri sei aufzuheben und die Sache sei zum Entscheid im
Kostenpunkt an die Staatsanwaltschaft Uri als erste Instanz zurückzuweisen.
Zudem ersucht X.________ um unentgeltliche Rechtspflege. Das
Landgerichtspräsidium Uri und die Staatsanwaltschaft Uri verzichten auf
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Weil die angefochtene Entscheidung nach dem Datum des Inkrafttretens des
Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG, SR 173.110), dem 1. Januar 2007
(AS 2006, 1242), ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht
(Art. 132 Abs. 1 BGG).

2.
Auf die Beschwerde kann grundsätzlich eingetreten werden, da sie unter
Einhaltung der gesetzlichen Frist (Art. 100 Abs. 1 BGG) und Form (Art. 42
BGG) von der in ihren Anträgen unterliegenden beschuldigten Person (Art. 81
Abs. 1 lit. b BGG) eingereicht wurde und sich gegen einen von einer letzten
kantonalen Instanz gefällten Endentscheid (Art. 90 BGG) in Strafsachen (Art.
80 Abs. 1 BGG) richtet.

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Kostenauflage im angefochtenen
Entscheid verletze die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs.1 BV und Art. 6 Ziff.
2 EMRK), den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 und Art. 32
Abs. 2 BV) sowie das Willkürverbot (Art. 9 BV).

3.1 Gemäss Art. 67 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Uri (StPO UR)
entscheidet bei einem Rückzug des Strafantrages die Behörde oder Amtsstelle,
die das Verfahren zu erledigen hat, je nach Beweislage über die Tragung der
aufgelaufenen Kosten, es sei denn, dass zwischen den Parteien die
Kostentragung vergleichsweise geregelt worden ist.

3.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst eine Kostenauflage
bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens gegen den Grundsatz der
Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK), wenn dem
Angeschuldigten in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt
vorgeworfen wird, er habe sich strafbar gemacht bzw. es treffe ihn ein
strafrechtliches Verschulden. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention
vereinbar, einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten zu überbinden,
wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen
Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, gegen eine
geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm, die sich aus der Gesamtheit
der schweizerischen Rechtsordnung ergeben kann, klar verstossen und dadurch
das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 120
la 147 E. 3b S. 155; 119 la 332 E. 1b S. 334; 116 la 162 E. 2e S. 175, je mit
Hinweisen).

3.3 Wird eine Kostenauflage wegen Verletzung des Grundsatzes der
Unschuldsvermutung angefochten, so prüft das Bundesgericht frei, ob die
Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt den Vorwurf einer
strafrechtlichen Schuld enthält. Nur auf Willkür hin untersucht es dagegen,
ob der Angeschuldigte in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine
geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm klar verstossen und durch
dieses Benehmen das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung
erschwert hat. Es geht hier nicht mehr um den Schutzbereich von Art. 32 Abs.
1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK, welche Bestimmungen den guten Ruf des
Angeschuldigten gegen den direkten oder indirekten Vorwurf schützen wollen,
ihn treffe trotz Freispruchs oder Einstellung des Verfahrens eine
strafrechtlich relevante Schuld. Die Voraussetzungen der Kostenauflage werden
demgegenüber durch die kantonalen Strafprozessordnungen umschrieben. Deren
Anwendung überprüft das Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt einer
Verletzung des Willkürverbots (BGE 116 la 162 E. 2f S. 175 f., mit Hinweis).

4.
4.1 Das Landgerichtspräsidium hält im angefochtenen Entscheid fest, eine
Kostenauflage im Rahmen einer Einstellungsverfügung sei aufgrund eines
zivilrechtlichen Verschuldens zulässig, soweit zwischen dem
ausserstrafrechtlichen Verhalten und den staatlichen Auslagen ein
Kausalzusammenhang bestehe. Betreffend die Sachbeschädigung führt das
Landgerichtspräsidium aus, die DNA-Probenahme sei rechtmässig erfolgt, so
dass deren Übereinstimmung mit dem DNA-Profil der Tatortspur berücksichtigt
werden dürfe. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass ein Anwohner zur Tatzeit
einen heftigen Knall gehört habe. Dies weise darauf hin, dass das massive
Schaufenster der Gemeindewerke A.________ mit einem Gegenstand eingeschlagen
worden sei. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass sich der Beschwerdeführer an
der zuvor von einem allfälligen Dritten beschädigten Schaufensterscheibe
verletzt haben könnte. Angesichts des entstandenen erheblichen finanziellen
Schadens sei anzunehmen, dass die Gemeindewerke A.________ den Strafantrag
erst zurückgezogen hätten, nachdem sie sich mit dem Beschwerdeführer gütlich
geeinigt hätten. Eine gütliche Einigung wäre kaum zustande gekommen, wenn der
Beschwerdeführer seine Verantwortung nicht anerkannt hätte. Aus diesen
Gründen sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer für die Beschädigung
des Schaufensters verantwortlich sei und gegen die zivilrechtliche
Haftungsnorm von Art. 41 OR verstossen habe. Zwischen dem Verhalten des
Beschwerdeführers und den daraus folgenden Untersuchungshandlungen bestehe
ein klarer Kausalzusammenhang. Der Beschwerdeführer hätte die
Untersuchungshandlungen und die damit verbundenen Verfahrenskosten verhindern
können, wenn er sofort mit den Geschädigten Kontakt aufgenommen hätte,
anstatt zwei Jahre zuzuwarten. Die Annahme eines zivilrechtlichen
Verschuldens verstosse nicht gegen die Unschuldsvermutung, weil diese nur vor
der (unzulässigen) Zuschreibung eines strafrechtlichen Verschuldens schütze.
Werde ein Beschuldigter freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn
eingestellt, so sei es hingegen nicht zulässig, bei der Begründung oder bei
der Beurteilung der Nebenfolgen durchblicken zu lassen, der Betroffene sei im
Grunde genommen doch schuldig. Die Staatsanwaltschaft führe in ihrer
Einstellungsverfügung aus, dass es nach der Beweislage zu einer Verurteilung
des Beschwerdeführers wegen Sachbeschädigung gekommen wäre. Mit dieser
alleinigen Begründung hätte die Staatsanwaltschaft wahrscheinlich gegen die
Unschuldsvermutung verstossen. Indem sie jedoch auch darauf hinweise, der
Beschwerdeführer habe in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine
geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm des schweizerischen Rechts
verstossen und somit die Einleitung des Verfahrens verursacht, sei die
Kostenverlegung weder unangemessen noch rechtswidrig.

4.2 Der Beschwerdeführer macht im Einzelnen geltend, in der
Einstellungsverfügung sei die Kostenauflage mit Hinweis auf Art. 67 Abs. 1
StPO UR einzig damit begründet worden, dass es nach der Beweislage im
Zeitpunkt der Einstellung zu einer Verurteilung wegen Sachbeschädigung
gekommen wäre, wenn der Strafantrag nicht zurückgezogen worden wäre. Das
Landgerichtspräsidium habe bestätigt, dass die Unschuldsvermutung bei
alleinigem Hinweis auf die wahrscheinliche Verurteilung im Falle der
Forstsetzung des Verfahrens verletzt worden wäre. Es habe den Rekurs dennoch
abgewiesen, weil die Staatsanwaltschaft auf die zivilrechtliche Haftung des
Beschwerdeführers hingewiesen habe. Das Landgerichtspräsidium habe jedoch
nicht beachtet, dass sich der Hinweis auf die zivilrechtliche Haftung
erstmals in der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum Rekurs befinde. Ein
Rekurs könne nicht gestützt auf eine erst im Beschwerdeverfahren
nachgeschobene Begründung abgewiesen werden, weshalb der Entscheid des
Landgerichtspräsidiums überdies willkürlich sei. Die Unschuldsvermutung wäre
im Übrigen auch verletzt worden, wenn in der Einstellungsverfügung die
Kostenauflage zusätzlich mit der zivilrechtlichen Haftung begründet worden
wäre. Der Angeschuldigte, gegen den das Verfahren eingestellt werde, habe
einen absoluten Anspruch darauf, dass nicht der Eindruck vermittelt werde, er
habe eine strafbare Handlung begangen.

4.3 Die Staatsanwaltschaft führt in der Einstellungsverfügung zur
Kostenauflage aus: "Über die Kostentragung besteht in casu keine
Vereinbarung. Aufgrund der vorgefundenen DNA-Spur, welche mit dem DNA-Profil
von Musliu Halim übereinstimmt, wäre es nach derzeitiger Beweislage zu einer
Verurteilung von Musliu Halim wegen Sachbeschädigung gekommen, wenn der
Strafantrag nicht zurückgezogen worden wäre. Die Prozesskosten gehen daher
zulasten von Musliu Halim. Eine Entschädigung gemäss Art. 71 Abs. 1 StPO wird
unter diesen Umständen nicht gesprochen." (Einstellungsverfügung Ziff. 10 S.
3). Das Landgerichtspräsidium räumt ein, dass diese alleinige Begründung
wahrscheinlich gegen die Unschuldsvermutung verstossen würde. Dennoch schützt
es die Auferlegung der Verfahrenskosten an den Beschwerdeführer, weil die
Staatsanwaltschaft zudem begründet habe, der Beschwerdeführer habe in
zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine Verhaltensnorm des
schweizerischen Rechts verstossen und dadurch die Einleitung des Verfahrens
verursacht (vgl. E. 4.1 hiervor). Wie der Beschwerdeführer vorbringt, hat die
Staatsanwaltschaft erst in ihrer Vernehmlassung zum Rekurs auf die dem
Zivilrecht angenäherte Haftung bzw. auf das prozessuale Verschulden
hingewiesen (Vernehmlassung zu Ziff. 9 S. 2). Das Landgerichtspräsidium hätte
jedoch lediglich die in der Einstellungsverfügung enthaltene Begründung und
nicht jene der Vernehmlassung beurteilen dürfen. Durch die Abweisung des
Rekurses ist die Einstellungsverfügung unverändert bestehen geblieben. Indem
das Landgerichtspräsidium in seinem Entscheid die Begründung der
Vernehmlassung herangezogen hat, hat es die Kostenauflage der
Einstellungsverfügung willkürlich geschützt.

4.4 Demzufolge hält der angefochtene Entscheid vor der grundrechtlich
geschützten Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK) nicht
stand. Die Rüge erweist sich somit als begründet. Nach dem Gesagten braucht
nicht zusätzlich geprüft zu werden, ob der angefochtene Entscheid den
Parteirechten des Beschwerdeführers, insbesondere dem Anspruch auf das
rechtliche Gehör, genügend Rechnung trägt.

5.
Zusammenfassend erweist sich die Beschwerde als begründet. Sie ist daher
gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur
neuen Entscheidung an die Staatsanwaltschaft als erste Instanz zurückzuweisen
(Art. 107 Abs. 2 BGG).
Ausgangsgemäss sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Dem
Beschwerdeführer ist eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen (Art.
68 Abs. 2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64
Abs. 1 und 2 BGG) gegenstandslos. Die Entschädigung ist jedoch dem Vertreter
des Beschwerdeführers zuzusprechen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Landgerichtspräsidiums
des Kantons Uri vom 25. Mai 2007 aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Staatsanwaltschaft I des Kantons Uri zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Uri hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Hermann
Näf, eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons
Uri und dem Landgerichtspräsidium Uri schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. November 2007

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: