Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.111/2007
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2007
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2007


6B_111/2007 /bri

Urteil vom 4. Juni 2007
Strafrechtliche Abteilung

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Ferrari, Zünd,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Reto Leiser,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau.

Strafverfahren betreffend mehrfachem ungenügenden Abstand beim
Hintereinanderfahren,

Beschwerde in Strafsachen gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 23. März 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Strafbefehl vom 26. Oktober 2005 verurteilte das Bezirksamt Muri
X.________ wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 34 Abs. 4 SVG,
Art. 12 Abs. 12 VRV i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 SVG) zu einer Busse von 600
Franken. Es hielt auf Grund der Zeugenaussage des Polizeibeamten A.________
für erwiesen, dass er am 30. August 2005, um ca. 7:30 Uhr, mit seinem
Personenwagen von Boswil in Richtung Wohlen fuhr und dabei ausgangs Boswil
während rund 500 m bis auf max. 2 m auf den vor ihm fahrenden Personenwagen
aufschloss, und, nachdem er diesen überholt hatte, erneut bis auf max. 2 m
auf den Vordermann aufschloss und diesen Abstand während einer längeren
Strecke beibehielt.

Auf Einsprache des X.________ hin kam der Präsident des Bezirksgerichts Muri
in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 zum Schluss, die Aussage des
Polizeibeamten A.________, X.________ habe auf längere Strecken einen Abstand
von maximal 2 m zu seinem Vordermann eingehalten, sei problematisch, da das
Schätzen von Distanzen erfahrungsgemäss schwierig sei, umso mehr als der
Zeuge hinter X.________ gefahren sei und sich in der zweiten Phase des
Vorfalls noch ein anderes Fahrzeug zwischen ihnen befunden habe. Ein derart
geringer Abstand sei auch fahrtechnisch nur schwer einzuhalten. Offenbar
neige der Zeuge dazu, Distanzen zu unterschätzen; so habe er seinen eigenen
Abstand mit 10 bis 15 m angegeben, was bei einer gefahrenen Geschwindigkeit
um die 80 km/h zu wenig gewesen wäre. Als erfahrener Automobilist habe der
Zeuge indessen intuitiv erkennen können, dass der Abstand zu klein gewesen
sei, auch wenn es schwierig sei, diese Feststellung in präzise Längenangaben
umzusetzen. Es könne indessen kein Zweifel daran bestehen, dass der
Polizeibeamte festgestellt habe, dass X.________ zu nahe zum Vordermann
aufgeschlossen habe. Als er direkt hinter dem Fahrzeug des X.________
gefahren sei, hätte er auch aus seinem ungünstigen Blickwinkel sicher
erkannt, wenn dieser mehr als eine Autolänge Abstand gehalten hätte. Beim
zweiten Auffahren, als sich ein anderes Fahrzeug zwischen ihm und X.________
befand, hätte er mit Sicherheit erkannt, wenn dieser mehr als zwei Autolängen
Abstand gehalten hätte. Es könne daher ausgeschlossen werden, dass X.________
einen Abstand von mehr als 6 Metern im ersten und mehr als 12 Metern im
zweiten Fall eingehalten habe. Angesichts dieser Unsicherheiten in Bezug auf
den effektiv eingehaltenen Abstand und auch in Bezug auf die gefahrenen
Geschwindigkeiten - es sei möglich, dass die innerorts und ausserorts
erlaubten Geschwindigkeiten von 50 bzw. 80 km/h nicht ganz erreicht worden
seien - könne indessen nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass
X.________ mit seiner Fahrweise eine ernsthafte Gefahr für die übrigen
Verkehrsteilnehmer geschaffen habe, weshalb nur eine einfache
Verkehrsregelverletzung vorliege. Dementsprechend verurteilte der
Gerichtspräsident X.________ wegen mehrfachen ungenügenden Abstandhaltens
beim Hintereinanderfahren (Art. 34 Abs. 4 SVG, Art. 12 Abs. 1 VRV i.V.m. Art.
90 Ziff. 1 SVG) zu einer Busse von 400 Franken.

Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung des X.________ am 23.
März 2007 vollumfänglich ab, hob indessen das Urteilsdispositiv von Amtes
wegen auf, um es an die Bestimmungen des neuen Rechts anzupassen.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, dieses obergerichtliche
Urteil aufzuheben und ihn freizusprechen; eventuell sei die Sache an die
Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er, seiner
Beschwerde aufschiebende Wirkung beizulegen.

Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der angefochtene Entscheid des Obergerichts erging am 23. März 2007 und damit
nach dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (BGG),
weshalb sich das Verfahren nach dessen Bestimmungen richtet (Art. 132 Abs. 1
BGG).

Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid in Strafsachen,
gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80
Abs. 1, Art. 90 BGG). Der Beschwerdeführer ist durch seine Verurteilung in
seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit befugt, sie zu
erheben (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht (Art. 9
BV) sowie von Völkerrecht (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) geltend, was zulässig ist
(Art. 95 lit. a und b BGG). In tatsächlicher Hinsicht geht das Bundesgericht
vom Sachverhalt aus, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat, es sei denn,
dieser erweise sich als offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer
Verletzung von Bundesrecht (Art. 105 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). "Offensichtlich
unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4338). Will der
Beschwerdeführer eine tatsächliche Feststellung der Vorinstanz angreifen,
muss er nachweisen, dass diese offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung beruht und die Behebung des Mangels geeignet ist, den
Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an, wobei es allerdings die
Verletzung von Grundrechten nur auf begründete Rüge hin prüft (Art. 106 BGG).
An die Parteibegehren ist es gebunden (Art. 107 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen
und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der
angefochtene Entscheid dazu Anlass gibt; neue Begehren sind gänzlich
ausgeschlossen (Art. 99 BGG).

2.
Der Beschwerdeführer wurde einzig auf Grund der Aussage des Polizeibeamten
A.________ verurteilt. Er rügt, das Obergericht habe diese willkürlich
gewürdigt und die Rechtsregel "in dubio pro reo" verletzt.

2.1 Aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Unschuldsvermutung wird die Rechtsregel "in dubio pro reo" abgeleitet (vgl.
dazu BGE 127 I 38 E. 2a S. 41 f.; 124 IV 86 E. 2a S. 88; 120 Ia 31 E. 2c und
d S. 36).

Als Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich
der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt
überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob
sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (vgl. BGE 127 I 38 E. 2a mit
Hinweisen). Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des
Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und
theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und
absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche
und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach
der objektiven Sachlage aufdrängen.

2.2 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht
den kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der
Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen
oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich
der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist;
eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je
mit Hinweisen).

3.
3.1 Nach der Darstellung des Polizeibeamten A.________, wie sie sich aus
seinem Rapport und seiner Zeugenaussage ergibt, hat sich der fragliche
Vorfall wie folgt abgespielt: A.________ wollte zur fraglichen Zeit mit
seinem Personenwagen von Kallern über Boswil nach Wohlen zur Arbeit fahren.
Als er in Boswil in die Hauptstrasse nach Wohlen einbiegen wollte, musste er
zwei vortrittsberechtigte Fahrzeuge abwarten, wobei er feststellte, dass die
beiden sehr nahe aufeinander fuhren. Er sei hinter den beiden Fahrzeugen in
die Hauptstrasse eingebogen und den beiden gefolgt, wobei er einen Abstand
von zwei bis drei Fahrzeuglängen bzw. 10 - 15 m eingehalten habe. Es habe
fliessender Kolonnenverkehr geherrscht. Der Fahrer vor ihm habe zu nahe auf
seinen Vordermann aufgeschlossen und sei immer wieder versetzt gefahren,
vermutlich um zu schauen, ob er überholen könne. Er habe dann auch überholt,
ohne andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden, und sei dann wiederum bis auf
maximal 2 m zum vorderen Fahrzeug aufgeschlossen, welches er im Gebiet
Büelisacker überholt habe. Er habe anschliessend wiederum zu den vor ihm
fahrenden Fahrzeug aufgeschlossen, wobei er den Abstand aber nicht mehr habe
einschätzen können. Beim "Boll-Kreisel" habe er das Fahrzeug aus den Augen
verloren.

3.2 Der Beschwerdeführer hat in seiner polizeilichen Einvernahme rund einen
Monat nach dem Vorfall bestätigt, am fraglichen Morgen von Boswil nach Wohlen
gefahren zu sein und dabei Fahrzeuge überholt zu haben. Er bestritt jedoch,
zu nahe auf vor ihm fahrende Fahrzeuge aufgeschlossen zu sein. Er sei der
Meinung, sein Abstand zum Vordermann habe jeweils 50 m betragen.

3.3 Das Obergericht erwägt im angefochtenen Entscheid, das genaue Schätzen
von Distanzen sei schwierig, und der hinter dem Beschwerdeführer her fahrende
Zeuge habe dies auch nicht aus einer guten Position getan. Der von ihm
festgestellte Abstand von 2 m des Beschwerdeführers auf die vor ihm fahrenden
Fahrzeuge erscheine unglaubhaft tief; er scheine Mühe zu haben, die von ihm
festgestellten Abstände in Metern anzugeben. Daraufhin deute auch seine
Aussage, er selber habe einen ausreichendem Abstand zu den jeweils vor ihm
fahrenden Fahrzeugen eingehalten, nämlich 10 - 15 m. Ausreichend sei indessen
bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 70 - 80 km/h ein Abstand von 35 - 40
m. Die Distanzangabe des Zeugen sei daher um rund den Faktor 3 zu tief. Die
Kernaussage des A.________, der Beschwerdeführer habe einen (viel) zu
geringen Abstand zu seinen Vorderleuten eingehalten, erscheine durch diese
Schätzfehler indessen keineswegs unglaubhaft.

3.4 Die Darstellung des A.________ ist klar und widerspruchsfrei. Sie wirkt
auch deshalb glaubhaft, weil sie die Fahrweise des Beschwerdeführers
differenziert wiedergibt und etwa ausdrücklich festhält, dass dieser bei
seinen beiden Überholmanövern niemanden gefährdete. Es werden denn auch keine
Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen erhoben, sondern einzig an dessen
Fähigkeit, Distanzen einschätzen zu können. Dieser sagte indessen in Bezug
auf seinen eigenen Abstand zum Vordermann aus, es habe Kolonnenverkehr
geherrscht, in welchem "man" - also auch er - generell weniger Abstand halte,
und dieser sei zudem durch das Bremsmanöver des ersten der vom
Beschwerdeführer überholten Fahrzeuge - der Zeuge spricht von einem
Handorgeleffekt - verkleinert worden. Die vom Beschwerdeführer übernommene
Einschätzung des Bezirks- und des Obergerichts, die Distanzschätzungen des
Zeugen seien mit einer Unschärfe von 300 % behaftet, steht damit auf einer
wackeligen Grundlage. Dies ist indessen ohnehin nicht rechtserheblich. Selbst
unter der Annahme, dass sich der Zeuge in diesem Umfang verschätzt haben
sollte und der Abstand des Beschwerdeführers zum jeweiligen Vordermann
demnach rund 6 m betrug (oder sogar 12 m, wie das Bezirksgericht für das
zweite Aufschliessen annimmt, indem es den möglichen Schätzfehler auf Grund
der weiteren Beobachtungsdistanz nochmals verdoppelt), war dieser Abstand bei
dem ausserorts gefahrenen Tempo zwischen 70 und 80 km/h bei weitem
ungenügend. Selbst wenn sich der Zeuge also - was keineswegs erstellt ist -
derart grob verschätzt haben sollte, könnte dies die Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen einfacher Verkehrsregelverletzung nicht in Frage
stellen. Diese ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

4.
Die Beschwerde erweist sich damit als unbegründet und ist abzuweisen. Mit dem
Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung
gegenstandslos. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer
die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 4. Juni 2007

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: