Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.453/2007
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5A_453/2007 /blb

Urteil vom 3. Oktober 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl,
Gerichtsschreiber Möckli.

Einwohnergemeinde Luzern, 6002 Luzern,
Beschwerdeführerin,
handelnd durch die Baudirektion der Stadt Luzern, Hirschengraben 17, 6002
Luzern,

gegen

1.A.________,
2.B.________,
3.C.________,
4.D.________,
5.E.________,
6.F.________,
7.G.________,
8.H.________,
9.J.________,
Beschwerdegegner,
alle vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Rüegg.

Besitzesschutz,

Beschwerde in Zivilsachen gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, I. Kammer als Rekursinstanz, vom 20. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Einwohnergemeinde Luzern ist Eigentümerin der Liegenschaft
Geissensteinring 41 in Luzern. Sie hat dem Verein "IKU Boa" im Jahr 1995
einen Teil des darauf liegenden Gebäudes im Rahmen eines Leihvertrages zum
Gebrauch überlassen. Der Verein "IKU Boa" betreibt das alternative
Kulturzentrum Boa mit Veranstaltungen verschiedener Kultursparten, Disco und
Barbetrieb.

B.
Mit Gesuch vom 30. Dezember 2006 beantragten verschiedene Nachbarn
(Eigentümer, Stockwerkeigentümer und Mieter), es sei der Einwohnergemeinde
Luzern zu verbieten, in den Räumlichkeiten der Boa zwischen 23 und 7 Uhr
Konzerte, Veranstaltungen mit Discomusik und Veranstaltungen mit Barbetrieb
selber durchzuführen oder durch Dritte durchführen zu lassen.
Mit Entscheid vom 25. Mai 2007 sprach der Amtsgerichtspräsident III von
Luzern-Stadt ein entsprechendes Verbot aus.
Den dagegen erhobenen Rekurs der Einwohnergemeinde Luzern wies das
Obergericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 20. Juli 2007 ab.

C.
Gegen diesen Entscheid hat die Einwohnergemeinde Luzern am 23. August 2007
Beschwerde in Zivilsachen erhoben mit den Begehren um dessen Aufhebung und um
Feststellung, dass die Besitzesschutzklage verwirkt sei, eventualiter um
Rückweisung der Sache an das Obergericht wegen Verletzung des rechtlichen
Gehörs. In ihrer Vernehmlassung vom 5. September 2007 verlangen die Nachbarn
die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerde in Zivilsachen richtet sich gegen einen kantonal
letztinstanzlichen Endentscheid (Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG).
Besitzesrechtsstreitigkeiten sind - wie Sachenrechte überhaupt (vgl. etwa BGE
52 II 292 E. 1 betr. Immissionen; BGE 113 II 15 E. 1 betr. Stockwerkeigentum;
BGE 109 II 491 E. 1 betr. Dienstbarkeit) - vermögensrechtlicher Natur,
weshalb der Streitwert mindestens Fr. 30'000.-- betragen muss (Art. 74 Abs. 1
lit. b BGG).
Die Beschwerdeführerin behauptet weder eine Werteinbusse ihres Grundstückes
noch entgehenden Gewinn infolge eingeschränkter Nutzungsmöglichkeit; vielmehr
macht sie geltend, die Boa habe mögliche Schadenersatzforderungen für
entgehende Einnahmen (Barbetrieb, Eintritte, etc.) von mindestens
Fr. 48'200.-- in Aussicht gestellt. Ob solche Ansprüche gestützt auf den
Leihvertrag überhaupt erhoben werden könnten, erscheint zweifelhaft, haftet
doch der Verleiher dem Entlehner im Rahmen einer positiven Vertragsverletzung
lediglich für Sachmängel u.ä. (vgl. Honsell, Schweizerisches
Obligationenrecht, 8. Aufl., Bern 2006, S. 254); abgesehen davon legt die
Beschwerdeführerin diesbezüglich nicht mehr als ein Schreiben der Boa vom
17. August 2007 ins Recht, in welchem lose auf mögliche
Schadenersatzansprüche hingewiesen wird. Ob vor diesem Hintergrund mit Bezug
auf die Besitzesschutzklage tatsächlich von einem Fr. 30'000.--
übersteigenden Streitwert auszugehen ist, kann aber letztlich offen bleiben,
weil der Beschwerde ohnehin auch in der Sache kein Erfolg beschieden sein
kann.

2.
Die Besitzesschutzklage zielt auf die Wiederherstellung oder die
Aufrechterhaltung des früheren Zustandes. Unter Vorbehalt des Spezialfalles
von Art. 927 Abs. 2 ZGB, wo das bessere Recht nachzuweisen ist, wird im
Urteil nicht über die materielle Rechtszuständigkeit entschieden; vielmehr
wird dem Gesuchsteller vorläufiger Rechtsschutz gewährt (BGE 94 II 348 E. 3
S. 353; 113 II 243 E. 1b S. 244 oben). Beim Besitzesschutz handelt es sich
folglich - was auch in der Botschaft so festgehalten wurde (BBl 2001 IV 4336)
- um eine vorsorgliche Massnahme im Sinn von Art. 98 BGG, womit nur die
Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann und überdies das
Rügeprinzip gilt (Art. 106 Abs. 2 BGG).
Unzulässig ist demnach das Vorbringen, in Verletzung von Art. 929 Abs. 2 ZGB
habe das Obergericht eine Dauerstörung und damit die Verjährung der
Besitzesschutzansprüche verneint. Dasselbe gilt für das Vorbringen, das
Obergericht habe Art. 8 ZGB verletzt, handelt es sich doch auch bei der
Regelung der Beweislast um materielles Bundesrecht und nicht um ein
verfassungsmässiges Recht. Die Beschwerdeführerin müsste wenn schon
aufzeigen, dass und inwiefern das Obergericht diese Normen willkürlich
angewandt hätte; bloss appellatorische Ausführungen vermögen jedoch den für
Willkürrügen geltenden Substanziierungsanforderungen nicht zu genügen (BGE
125 I 492 E. 1b S. 495; 130 I 258 E. 1.3 S. 262).
Als unzulässig erweisen sich sodann die neuen Tatsachenvorbringen und
Beweismittel (Strafurteile etc.), zeigt doch die Beschwerdeführerin nicht
auf, inwiefern erst der angefochtene Entscheid dazu Anlass gegeben hätte
(Art. 99 BGG).

3.
Die Beschwerdeführerin macht im Übrigen geltend, im Befehlsverfahren nach
§ 226 ZPO/LU müssten für den Erlass eines richterlichen Befehls nicht
streitige oder sofort feststellbare tatsächliche Verhältnisse vorliegen. Mit
dem Erfordernis der sofortigen Feststellbarkeit, d.h. der Liquidität der
tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, sei es streng zu nehmen. Es wäre
Sache der Nachbarn gewesen, ihre behaupteten Besitzesrechtsansprüche strikt
zu beweisen, während sie ihre Einwendungen bloss glaubhaft zu machen habe.
Der Amtsgerichtspräsident und das Obergericht hätten sich darauf gestützt,
dass die Polizei im Zeitraum von Januar bis Mitte August 2005 insgesamt 19
Mal wegen Nachtruhestörung habe ausrücken müssen. Damit hätten es die
kantonalen Gerichte als erwiesen angesehen, dass auch im heutigen Zeitpunkt
noch übermässige Immissionen vorlägen. In diesem Zusammenhang sei ihr
rechtliches Gehör verletzt, weil der von ihr als Gegenbeweis beantragte
Augenschein nicht zugelassen worden sei.
Das Obergericht hat nicht nur auf das wiederholte Ausrücken der Polizei
verwiesen, sondern zusätzlich angeführt, diese Tatsache sei im
Stadtratsbeschluss Nr. 1012 ausdrücklich erwähnt und die Notwendigkeit der
polizeilichen Interventionen sei dabei nicht in Zweifel gezogen worden.
Vielmehr habe der Stadtrat eingeräumt, die Situation in der Umgebung der Boa
sei für die Anwohner sehr schwierig geworden, weshalb ein weiterer Betrieb
des Kulturzentrums mittel- und langfristig kaum mehr möglich und sinnvoll
sei. Es hat sodann festgehalten, die Beschwerdeführerin bestreite dies nicht,
und ebenso wenig, dass die Boa die Verpflichtungen und Auflagen wiederholt
missachtet habe und seither bis heute keine zusätzlichen Massnahmen zum
Schutz der Anwohner vereinbart oder ergriffen worden seien.
Hat das Obergericht den Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins mit
unveränderten und damit nach wie vor unhaltbaren Verhältnissen verneint, so
liegt mit Bezug auf den abgelehnten Augenschein eine antizipierte
Beweiswürdigung vor. In deren Rahmen kann der Richter weitere
Beweismassnahmen ablehnen, wenn er aufgrund bereits abgenommener Beweise
seine Überzeugung gebildet hat und zur Auffassung gelangen durfte, dass
weitere Beweisvorkehren an der Sachlage bzw. an der Würdigung der bereits
abgenommenen Beweise voraussichtlich nichts mehr ändern würden (BGE 124 I 208
E. 4a S. 211; 130 II 425 E. 2.1 S. 429). Die antizipierte Beweiswürdigung ist
ein Teil der Beweiswürdigung, die vom Bundesgericht nur auf Willkür hin
überprüft werden kann, was entsprechend substanziierte Willkürrügen
voraussetzt (BGE 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.; 130 I 258 E. 1.3 S. 262). Erweist
sich die antizipierte Beweiswürdigung als willkürfrei, liegt in ihr keine
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (BGE 115 Ia 97 E. 5b S. 101;
131 I 153 E. 3 S. 157).
Weder ruft die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der (antizipierten)
Beweiswürdigung durch das Obergericht eine Verletzung des Willkürverbots an
noch finden sich substanziierte Ausführungen, inwiefern der angefochtene
Entscheid diesbezüglich unhaltbar und damit willkürlich sein soll.
Insbesondere legt sie nicht dar, dass und inwiefern sie in der Zwischenzeit
Massnahmen zur Lärmreduktion oder zur zeitlichen Beschränkung des
Boa-Betriebes getroffen hätte bzw. die gegenteilige Aussage des Obergerichts
qualifiziert unrichtig sein soll. Ist aber mangels Willkürrügen davon
auszugehen, dass das Obergericht von einer anhaltenden Besitzesstörung
ausgehen und willkürfrei von der Durchführung eines Augenscheins absehen
durfte, bleibt für die Gehörsrüge nach dem Gesagten kein Raum.

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist, soweit auf
sie eingetreten werden kann. Damit wird die Beschwerdeführerin kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, I.
Kammer als Rekursinstanz, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: