Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.449/2007
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5A_449/2007 /blb

Urteil vom 25. Oktober 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber Möckli.

X. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Pietruszak,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marco Lanter.

Erbrechtliche Klage, Prozessüberweisung,

Beschwerde in Zivilsachen gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Zivilkammer, vom 18. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Am 15. Oktober 2003 erhob die in den USA wohnhafte Y.________, Bürgerin von
S.________, beim Bezirksgericht Zürich eine erbrechtliche Klage gegen ihre in
Israel wohnhafte Halbschwester X.________, Bürgerin von T.________. Die Klage
bezieht sich auf den Nachlass der Ehegatten E.________ und F.________, Bürger
von T.________, die lange Jahre in S.________ lebten und 2002 bzw. 1998 in
Israel verstarben.
Das Bezirksgericht Zürich kam zum Schluss, die Erblasser hätten ihren letzten
Wohnsitz nicht in S.________, sondern in Israel gehabt. Es beschloss deshalb,
mangels örtlicher Zuständigkeit auf die Klage nicht einzutreten, und setzte
der Klägerin Frist zur Nennung des Gerichts, an welches die Klage zu
überweisen sei.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies den gegen diesen Beschluss erhobenen
Rekurs ab und überwies das Verfahren gestützt auf § 112 Abs. 1 ZPO/ZH an das
Richteramt Thal-Gäu.
Am 28. August 2006 fällte das Amtsgericht Thal-Gäu einen Eintretensentscheid,
den das Obergericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 18. Juni 2007
bestätigte.

B.
Gegen das obergerichtliche Urteil hat die Beklagte Beschwerde in Zivilsachen
erhoben mit den Begehren, dieses sei aufzuheben und das Verfahren sei nicht
anhand zu nehmen, eventualiter sei es zu sistieren, bis in dem vor dem Tel
Aviv Family Court hängigen Verfahren in derselben Angelegenheit ein
rechtskräftiges Urteil ergangen sei, subeventualiter sei die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Es wurde keine Vernehmlassung eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die zugrunde liegende Erbstreitigkeit ist zivilrechtlicher Natur (Art. 72
Abs. 1 BGG) und das angefochtene Urteil ist kantonal letztinstanzlich
(Art. 75 Abs. 1 BGG). Es handelt sich um einen selbständigen Vor- bzw.
Zwischenentscheid, mit welchem in Annahme einer Gesetzeslücke die
interkantonale passive Prozessüberweisung bejaht und auf die Klage
eingetreten wurde. Dagegen steht die Beschwerde in Zivilsachen offen, weil
mit ihrer Gutheissung und damit der Klagerückweisung sofort ein Endentscheid
herbeigeführt und - umso mehr als die gleiche Streitsache zwischenzeitlich in
Israel anhängig gemacht worden ist - ein weitläufiges Beweisverfahren erspart
werden kann (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Der Streitwert beträgt rund
Fr. 10 Mio.; die erforderliche Mindestsumme für vermögensrechtliche
Zivilrechtsstreitigkeiten ist damit erreicht (Art. 74 Abs. 1 lit. b OG). Es
steht die Anwendung kantonalen Prozessrechts zur Diskussion, weshalb nur die
Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann (Art. 95 lit. a und
c BGG).

2.
Das Obergericht hat erwogen, die Zivilprozessordnung des Kantons Solothurn
regle weder die aktive noch die passive Prozessüberweisung explizit;
insbesondere enthalte sie keine Bestimmungen zur passiven interkantonalen
Prozessüberweisung. In den Materialien zur ZPO/SO finde sich kein Hinweis,
dass damals die Frage diskutiert und die Übernahme des Instituts abgelehnt
worden wäre; es liege folglich kein qualifiziertes Schweigen vor. Sodann
prüfe der Instruktionsrichter nach § 133 Abs. 1 ZPO/SO, ob die Klage den
Anforderungen von § 129 ZPO/SO entspreche und die Prozessvoraussetzungen
gegeben seien. Bei verbesserlichen Mängeln setze er eine Frist von zehn
Tagen, wobei sich der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für die verbesserte
Klage nach dem Eingang der ursprünglichen Klage bestimme. Das solothurnische
Prozessrecht kenne also immerhin den Grundsatz, dass die Rechtshängigkeit im
innerkantonalen Bereich bestehen bleibe. Diese Wertung des Gesetzgebers
beruhe auf der Überlegung, dass das Prozessrecht der Verwirklichung des
materiellen Rechts diene und prozessuale Fehler möglichst nicht zu einem
Rechtsverlust führen sollen. Dies erlaube es, die interkantonale passive
Prozessüberweisung lückenfüllend zuzulassen. Der von den zürcherischen
Gerichten überwiesene Zivilprozess sei demnach ohne Unterbrechung der
Rechtshängigkeit weiterzuführen, womit sich die Einrede der Litispendenz
infolge der zwischenzeitlich angehobenen Klage in Israel als unbegründet
erweise.
Die Beklagte sieht mit der Annahme einer Lücke den Grundsatz der
Gesetzmässigkeit (Art. 5 Abs. 1 BV, Art. 5 Abs. 1 KV/SO), den Grundsatz der
Gewaltenteilung (Art. 58 Abs. 1 KV/SO) und das Willkürverbot (Art. 9 BV)
verletzt. Dem Obergericht stünden keine Rechtsetzungsbefugnisse zu, weshalb
es sich nicht durch Lückenfüllung als Gesetzgeber gebärden dürfe. Es sei
anzunehmen, dass man bei Erlass der ZPO/SO auf das Institut der
Prozessüberweisung gestossen sei und man dieses bewusst nicht übernommen
habe. Ohnehin könne nicht von einer planwidrigen Unvollständigkeit der
Zivilprozessordnung gesprochen werden, da sie für den vorliegenden Fall eine
- negative - Antwort bereithalte und dies auch nicht stossend sei: Aufgrund
der analogen Anwendung von Art. 139 OR hätte die Klägerin binnen 60 Tagen von
sich aus eine neue Klage im Kanton Solothurn anhängig machen können. Als
willkürlich erweise sich im Übrigen die Annahme, die Überweisung stelle eine
Klageanhebung im Sinn von § 56 ZPO/SO dar, seien doch nicht nur die
Klageschrift, sondern die ganzen Verfahrensakten überwiesen worden. Ebenso
wenig lasse sich aus § 133 Abs. 2 ZPO/SO etwas ableiten; dass für
verbesserliche Mängel eine Frist von zehn Tagen zur Behebung gewährt werden
könne, schliesse vielmehr eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit bis zum
16. Oktober 2003 aus.

3.
Aktive Prozessüberweisung bedeutet, dass das unzuständige Gericht die
gesamten Verfahrensakten von Amtes wegen oder auf Antrag an das von der
betroffenen Partei als zuständig bezeichnete Gericht überweist. Passive
Prozessüberweisung bedeutet, dass dieses Gericht die Akten und den Prozess
übernimmt.
Abgesehen von punktueller Normierung - vgl. etwa den vorliegend wegen des
internationalen Bezuges nicht anwendbaren Art. 36 Abs. 2 GestG - hat der
Bundesgesetzgeber keine Regelung zur Prozessüberweisung getroffen, und es
gibt von Bundesrechts wegen auch keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach
das zuständige Gericht die von einem unzuständigen Gericht vorgenommenen
Prozesshandlungen anzuerkennen und zu übernehmen hätte (Urteil 4P.48/2002,
E. 2a), obwohl es in der Lehre dahingehende Meinungsäusserungen gibt (vgl.
Walther, Die Prozessüberweisung im nationalen und internationalen Verhältnis,
in: Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung, Bern 2005, S. 422). Der
Bundesgesetzgeber ist zu einer allgemeinen Regelung auch nicht berufen, so
lange die Ordnung des Verfahrensrechts grundsätzlich in die Kompetenz der
Kantone fällt bzw. die schweizerische Zivilprozessordnung noch nicht
verabschiedet und in Kraft ist. Die Kantone sind bei der Ausgestaltung ihres
Prozessrechts im Übrigen frei. Immerhin dürfen sie keine Normen erlassen,
welche die Verwirklichung des Bundeszivilrechts verunmöglichen oder seinem
Sinn und Geist widersprechen (Prinzip der derogatorischen Kraft des
Bundesrechts); insofern hat das kantonale Zivilprozessrecht eine der
Durchsetzung des Bundesprivatrechts dienende Funktion (BGE 104 Ia 105 E. 4a
S. 108; 116 II 215 E. 3 S. 218; 118 II 479 E. 2d S. 482 f.).
Weist ein unzuständiges kantonales Gericht die Klage aufgrund des anwendbaren
Zivilprozessrechts ab, vereitelt es kein Bundesrecht; dessen Durchsetzung
hängt mit anderen Worten nicht vom Institut der Prozessüberweisung ab. Es
steht deshalb im Belieben der Kantone, ob sie für das inner- oder auch für
das interkantonale Verhältnis die aktive wie passive Prozessüberweisung
vorsehen wollen (Dubs, Die Prozessüberweisung im zürcherischen
Zivilprozessrecht, Diss. Zürich 1981, S. 69); sie sind diesbezüglich selbst
dort frei, wo der Bundesgesetzgeber gewisse Regelungen betreffend die
Fristwahrung bei Eingaben an eine unzuständige Behörde getroffen hat (vgl.
BGE 130 III 515 E. 5 S. 519 f. mit Bezug auf Art. 32 SchKG).
Während sich in den Zivilprozessordnungen älteren Datums durchwegs keine
Bestimmungen zur Prozessüberweisung finden, haben in jüngerer Zeit
verschiedene Kantone das Institut ausdrücklich geregelt (vgl. Vogel/Spühler,
Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 2006, Kap. 9, N. 116). Für die
Zivilprozessordnung des Kantons Solothurns trifft dies nicht zu, und das
Obergericht ist von einer Lücke ausgegangen.

4.
Der Bundeszivilgesetzgeber hat sich ausdrücklich zur Lückenhaftigkeit des
Gesetzes bekannt (vgl. Art. 1 Abs. 2 ZGB). Die Lückenfüllung ist nicht strikt
auf das Gebiet des Bundeszivilrechts beschränkt; unter Vorbehalt der
jeweiligen Besonderheiten kann sie auch in anderen Rechtsgebieten zum Tragen
kommen (Meier-Hayoz, Berner Kommentar, N. 48 zu Art. 1 ZGB), so insbesondere
im Bereich des Zivilprozessrechts (BGE 122 I 253 E. 6a S. 254; Guldener,
Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Zürich 1979, S. 53).
Indem Art. 1 Abs. 2 ZGB den Richter anweist, im Fall einer Gesetzeslücke nach
der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, verweist
er ihn auf eine Rechtsfortbildung modo legislatoris (Honsell, Basler
Kommentar, N. 34 zu Art. 1 ZGB); es geht mit anderen Worten weniger um eine
Aussage zur Zuständigkeit als vielmehr zur Methode (Dürr, Zürcher Kommentar,
N. 478 zu Art. 1 ZGB). Die Rüge, das Obergericht habe sich aufgrund seiner
Lückenfüllung als Gesetzgeber gebärdet und gegen das Gewaltenteilungsprinzip
verstossen, geht deshalb an der Sache vorbei; es ist der Lückenfüllung
geradezu inhärent, dass der Richter wie ein Gesetzgeber entscheidet.
Es bleibt die Prüfung der weiteren Rüge, das Obergericht sei in willkürlicher
Weise von einer Gesetzeslücke ausgegangen.

5.
Aus den Materialien zur ZPO/SO ergibt sich nach den Feststellungen des
Obergerichts nichts zur Frage der Prozessüberweisung; insbesondere kann kein
qualifiziertes Schweigen vorliegen, wenn zu diesem Institut überhaupt keine
Kundgebung des kantonalen Gesetzgebers bzw. der mit dem Erlass der
Prozessordnung befassten Organe ersichtlich ist. Auch den diesbezüglichen
Verweisen der Beklagten lässt sich nichts Konkretes entnehmen, soweit es sich
dabei nicht ohnehin um unzulässige Noven handelt (Art. 99 Abs. 1 BGG).
Die Auslegung des Prozessrechts folgt im Übrigen den allgemeinen Regeln (BGE
122 I 253 E. 6a S. 254), so dass keiner der anerkannten Auslegungsmethoden
eine vorrangige Bedeutung zukommt (BGE 127 III 318 E. 2b S. 323 und 415 E. 2
S. 416). Aus dem Sinn und Zweck des Prozessrechts ergibt sich immerhin, dass
im Zweifel eine Auslegung zu bevorzugen ist, welche die Durchsetzung des
materiellen Rechts erleichtert und es dem Gericht ermöglicht, auf einfachstem
und kürzestem Weg zu einem der materiellen Rechtslage entsprechenden Urteil
zu gelangen (Guldener, a.a.O., S. 52 f.).
Für den vorliegenden Fall ergibt sich, dass die Lehre, soweit sie sich zur
interessierenden Problematik äussert, explizit auf die Lückenfüllung
verweist, sei es in allgemeiner Weise (Vogel/Spühler, a.a.O., Kap. 9,
N. 116), sei es spezifisch für den Fall - der hier gegeben ist und worauf das
Obergericht auch ausdrücklich verweist -, dass die Verbesserung von Mängeln
innert einer bestimmten Nachfrist von der betreffenden Zivilprozessordnung
zugelassen wird (Dubs, a.a.O., S. 69 ff., insb. S. 70 und 74 f.); sodann
spricht sich eine weitere Lehrmeinung gar für die Annahme eines allgemeinen
Rechtsgrundsatzes aus (dazu oben, E. 3). Die gegenteilige Meinung, wonach
eine Lückenfüllung unzulässig wäre, wird hingegen, soweit ersichtlich,
nirgends vertreten und von der Beklagten jedenfalls auch nicht genannt.
Vor dem Hintergrund, dass der Richter bei der Lückenfüllung bewährter Lehre
und Überlieferung zu folgen hat (Art. 1 Abs. 3 ZGB), in Anbetracht der
dienenden Funktion des Prozessrechts und angesichts der Regelungsfreiheit der
Kantone im fraglichen Bereich ist das Obergericht mit der Annahme einer Lücke
und der Bejahung der interkantonalen passiven Prozessüberweisung nicht in
Willkür verfallen, zumal solche nicht schon vorliegt, wenn eine andere Lösung
ebenfalls vertretbar erscheint oder sogar vorzuziehen wäre, sondern erst,
wenn ein Entscheid auf einem offensichtlichen Versehen beruht, mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; 132 III 209
E. 2.1 S. 211), was vorliegend nicht der Fall ist.

6.
Es entspricht gerade dem Wesen der Prozessüberweisung, dass die gesamten
Verfahrensakten dem als zuständig bezeichneten Gericht übermacht werden;
erweist sich die lückenfüllende Anerkennung des Instituts der interkantonalen
Prozessüberweisung nach dem Gesagten als willkürfrei, geht deshalb die Rüge,
die Überweisung sämtlicher Akten sei über eine blosse Klageanhebung im Sinn
von § 56 ZPO/SO hinausgegangen, an der Sache vorbei.
Ferner wird das auf Art. 9 IPRG gestützte Eventualbegehren um Sistierung bis
zur rechtskräftigen Erledigung des zwischenzeitlich in Israel anhängig
gemachten Prozesses gegenstandslos, weil Folge der Prozessüberweisung der
Fortbestand der Rechtshängigkeit bzw. der Rückbezug auf das Datum der
ursprünglichen Klage ist (Frank/Sträuli/ Messmer, Kommentar zur zürcherischen
Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 1997, N. 15 zu § 112;
Ruggle/Tenchio-Kuzmic, Basler Kommentar, N. 52 zu Art. 36 GestG).

7.
Zufolge Beschwerdeabweisung ist der Beschwerdeführerin die Gerichtsgebühr
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Gegenpartei ist kein
entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 20'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn,
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Oktober 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: