Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.433/2007
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5A_433/2007 /bnm

Urteil vom 18. September 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber Möckli.

X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Marcel Grass,

gegen

Y.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Marc R. Bercovitz,

Vorsorgliche Beweisführung durch den Willensvollstrecker,

Beschwerde in Zivilsachen gegen den Entscheid des Gerichtskreis II
Biel-Nidau, Gerichtspräsident 5, vom 6. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Gesuch vom 2. April 2007 verlangte Y.________ als Willensvollstrecker des
Nachlasses von Z.________ im Rahmen einer vorsorglichen Beweisführung gemäss
Art. 222 ZPO/BE die Herausgabe verschiedener privater und geschäftlicher
Unterlagen (Bankauszüge sowie Steuererklärungen und -veranlagungen;
Gründungsakten und Bilanzen der Firma; Finanzierungsbelege für Grundstücke).

Mit Entscheid vom 6. Juli 2007 gab der Gerichtspräsident 5 des
Gerichtskreises II Biel-Nidau diesem Begehren statt.

B.
Gegen diesen Entscheid hat X.________ Beschwerde in Zivilsachen und
subsidiäre Verfassungsbeschwerde erhoben mit den Begehren um dessen Aufhebung
und Abweisung des Gesuchs um vorsorgliche Beweisführung, eventualiter um
Rückweisung an die Vorinstanz. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegen den die vorsorgliche Beweisführung anordnenden Entscheid steht auf
kantonaler Ebene kein Rechtsmittel zur Verfügung (Leuch/
Marbach/Kellerhals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5.
Aufl., Bern 2000, N. 2 zu Art. 227), weshalb sich der angefochtene Entscheid
als kantonal letztinstanzlich erweist (Art. 75 Abs. 1 BGG). Er beschlägt eine
Zivilsache im Sinn von Art. 72 Abs. 1 BGG. Dem Gesuch liegt der Sachverhalt
zugrunde, dass der Erblasser zwischen Mai 2004 und August 2005
unbestrittenermassen die Summe von insgesamt Fr. 900'000.-- abgehoben hat und
der Willensvollstrecker geltend macht, der Erblasser habe in derart kurzer
Zeit unmöglich einen solchen Betrag für sich verbrauchen können, sondern das
Geld zum grössten Teil der Beschwerdeführerin zufliessen lassen. Vor diesem
Hintergrund übersteigt der Streitwert für die vorsorgliche Beweismassnahme
die bei vermögensrechtlichen Angelegenheiten geltende Schwelle von Fr.
30'000.-- (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG; zur Frage der vermögensrechtlichen
Natur von Beweismassnahmen bzw. Auskunftsbegehren im Zusammenhang mit einer
Erbteilung vgl. BGE 127 III 396 E. 1b/cc S. 398). Die vorsorgliche
Beweisführung ergeht in einem eigenständigen Verfahren (Kummer, Grundriss des
Zivilprozessrechts, 4. Aufl., Bern 1984, S. 183), das mit dem angefochtenen
Entscheid seinen Abschluss gefunden hat (vgl. angefochtener Entscheid, E.
14); dieser ist folglich ein Endentscheid gemäss Art. 90 BGG. Die Beschwerde
in Zivilsachen ist somit vom Grundsatz her zulässig.

2.
Bei der vorsorglichen Beweisführung handelt es sich um eine vorsorgliche
Massnahme im Sinn von Art. 98 BGG, womit nur die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann. Die Beschwerdeführerin macht
denn auch ausschliesslich eine Verletzung des Prinzips der derogatorischen
Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) sowie der Grundrechte der
persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und der Privatsphäre (Art. 13 Abs.
1 BV) geltend.

Das Bundesgericht wendet das Recht in der Regel von Amtes wegen an (iura
novit curia; Art. 106 Abs. 1 BGG). Für bestimmte Vorbringen gilt indes das
Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG). Soweit dieses zum Tragen kommt, gelten die
gleichen Begründungsanforderungen, wie sie gestützt auf Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG für die staatsrechtliche Beschwerde gegolten haben (BGE 133 II 249 E.
1.4.2 S. 254). Nach den Ausführungen in der Botschaft soll überdies auch der
Anwendungsbereich des Rügeprinzips der bisherigen Praxis zur
staatsrechtlichen Beschwerde entsprechen (BBl 2001 IV 4344). Entgegen dem
strikten Wortlaut von Art. 106 Abs. 2 BGG gilt es deshalb nicht nur für die
Grundrechte im eigentlichen Sinn, sondern für die verfassungsmässigen Rechte
überhaupt, folglich auch für das Prinzip der derogatorischen Kraft des
Bundesrechts, das als verfassungsmässiges Individualrecht anerkannt ist (BGE
123 I 221 E. 3d S. 238).

Die Botschaft hält weiter fest, dass bei vorsorglichen Massnahmen im Sinn von
Art. 98 BGG - wo das Recht nach dem Gesagten nicht von Amtes wegen angewandt
wird, sondern das Rügeprinzip gilt - der Grundsatz von Treu und Glauben
verbietet, bekannte rechtserhebliche Einwände der Vorinstanz vorzuenthalten
und diese erst nach dem Ergehen eines ungünstigen Entscheides im
anschliessenden Rechtsmittelverfahren zu erheben (BBl 2001 IV 4345 oben). Sie
verweist damit auf die entsprechende Praxis zur staatsrechtlichen Beschwerde
(z.B. BGE 119 Ia 221 E. 5a S. 228 f.; 124 I 121 E. 2 S. 123) und in einem
weiteren Sinn auf den Grundsatz, wonach bei dieser nicht nur neue
tatsächliche, sondern auch neue rechtliche Vorbringen unzulässig waren (BGE
118 Ia 20 E. 5a S. 26; 128 I 354 E. 6c S. 357). Dieser Grundsatz ergibt sich
auch aus dem Erfordernis der Letztinstanzlichkeit des angefochtenen
Entscheides (Prinzip der relativen Subsidiarität) und fusst auf dem Gedanken,
dass der Instanzenzug nicht nur prozessual durchlaufen, sondern auch
materiell erschöpft sein muss. Zwar trat das Bundesgericht ausnahmsweise auf
Rügen ein zu Gesichtspunkten, die sich aufdrängten und deshalb von der
kantonalen Instanz hätten berücksichtigt werden müssen, oder zu denen erst
die Begründung des angefochtenen Entscheides Anlass gab (BGE 99 Ia 113 E. 4a
S. 122), ferner im Zusammenhang mit Sachverhaltsabklärungen oder wenn die
letzte kantonale Instanz volle Überprüfungsbefugnis besass und das Recht von
Amtes wegen anzuwenden hatte (BGE 107 Ia 187 E. 2b S. 191). All diese
Ausnahmen standen aber unter dem Vorbehalt - worauf die eingangs zitierte
Botschaft verweist -, dass mit den entsprechenden Rügen nicht in gegen den
Grundsatz von Treu und Glauben verstossender Weise zugewartet wurde (Zitate
vorstehend). Dies setzte voraus, dass der Beschwerdeführer den Mangel nicht
gekannt hat (zum Ganzen: BGE 128 I 354 E. 6c S. 357 f.; Kälin, Das Verfahren
der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 369 f.).

3.
Nach Art. 222 ZPO/BE kann eine Partei jederzeit über Tatsachen, die sie in
einem bereits hängigen oder zukünftigen Prozess geltend machen will,
vorsorglichen Beweis führen. Das Vorbringen, diese Regelung verstosse
einerseits gegen das Prinzip der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art.
49 Abs. 1 BV) und andererseits gegen die Grundrechte der persönlichen
Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und der Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV), wird
erstmals vor Bundesgericht erhoben; es stellt folglich ein rechtliches Novum
dar.

Die Beschwerdeführerin stellt letztlich das Institut der vorsorglichen
Beweisführung in Frage und hält jedenfalls die bernische Regelung als solche
für verfassungswidrig. Dies hätte sie nach Treu und Glauben bereits im
kantonalen Verfahren vorbringen müssen, zumal sie anwaltlich vertreten ist.
Insbesondere lässt sich nicht sagen, erst der angefochtene Entscheid habe zu
den nunmehr vorgetragenen Rügen Anlass gegeben, und ebenso wenig handelt es
sich um Fragen, die sich aufdrängten und deshalb im kantonalen Verfahren von
Amtes wegen hätten aufgegriffen werden müssen, finden sich doch in der
Literatur keine Vorbehalte im Sinn der vorgebrachten Rügen; vielmehr trifft
das Gegenteil zu: Nach dem einschlägigen Kommentar, der auch im angefochtenen
Entscheid zitiert wird, dient das Institut wegen der fehlenden Voraussetzung
der Beweisgefährdung u.a. zur Klärung der Prozessaussichten, wovon in der
Praxis allerdings wenig Gebrauch gemacht werde
(Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, a.a.O., N. 1a zu Art. 222 ZPO/BE). Auch an
anderen Orten wird ausdrücklich auf diesen Umstand hingewiesen und im Übrigen
festgehalten, dass die prozessuale Editionspflicht im Unterschied zur
materiellen nicht auf den betreffenden Anwendungsbereich beschränkt ist
(Spühler/Vock, Urkundenedition nach den Prozessordnungen der Kantone Zürich
und Bern, in: SJZ 1999, S. 41 ff.; Gessler, Informationsbeschaffung mit den
Mitteln des Zivilprozessrechts, in: SJZ 2004, S. 433 ff.).

Vor diesem Hintergrund verstösst es gegen Treu und Glauben, wenn die
Beschwerdeführerin in ihrer kantonalen Vernehmlassung vom 29. Mai 2007 - bei
der vorsorglichen Beweisführung handelt es sich um ein kontradiktorisches
Zweiparteienverfahren, bei welchem die Gegenpartei gemäss Art. 227 ZPO/BE
Widerspruch erheben und geltend machen kann, dass der Beweisführer kein
rechtliches Interesse an der Beweisführung habe - lediglich die
Aktivlegitimation des Willensvollstreckers angezweifelt, Sicherstellung der
Parteikosten im Sinn von Art. 228 ZPO/BE verlangt und die Voraussetzungen für
den Durchgriff auf ihre Firma bestritten, jedoch mit ihren grundsätzlichen
Vorbringen gegen das Institut der vorsorglichen Beweisführung bzw. gegen
deren Regelung in der bernischen Zivilprozessordnung zugewartet und diese
erst im Anschluss an den zu ihren Ungunsten ausgefallenen Entscheid erhoben
hat.

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass auf die Beschwerde in Zivilsachen nicht
einzutreten ist. Ebenso wenig ist auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde
einzutreten, auf welche die vorstehenden Ausführungen und Grundsätze
ebenfalls Anwendung finden (Art. 116 und 117 BGG).

Zufolge Nichteintretens ist die Gerichtsgebühr der Beschwerdeführerin
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Gegenpartei ist kein
entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde in Zivilsachen und auf die subsidiäre
Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Gerichtskreis II Biel-Nidau,
Gerichtspräsident 5, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. September 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: