Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.173/2007
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{T 0/2}
5A_173/2007 /bnm

Urteil vom 16. Mai 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Bundesrichter Meyer, Marazzi,
Gerichtsschreiber Möckli.

X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Burges,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Aargau,
Obere Vorstadt 40, 5000 Aargau

Fürsorgerische Freiheitsentziehung,

Beschwerde in Zivilsachen gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, Präsidentin der 1. Kammer, vom 23. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung des Bezirksarztes A.________ vom 21. März 2007 wurde X.________
in fürsorgerischer Freiheitsentziehung in die psychiatrische Klinik
B.________ eingewiesen.

B.
Am 17. April 2007 stellte X.________ ein Entlassungsgesuch, welches die
ärztliche Leitung der Klinik am 20. April 2007 abwies.

Mit Eingabe vom 20. April 2007 wandte sie sich mit anwaltlicher Vertretung an
das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau und verlangte im Wesentlichen die
sofortige Entlassung, ohne dies im Einzelnen materiell zu begründen.

Am 23. April 2007 verfügte die Präsidentin der 1. Kammer des
Verwaltungsgerichts, dass ein Beschwerdeverfahren nur durchgeführt werde,
wenn innert der Beschwerdefrist eine gültige Verwaltungsgerichtsbeschwerde
eingereicht werde. Sie hielt fest, bei anwaltlicher Vertretung müsse die
Beschwerdeschrift eine Begründung enthalten, wie dies § 39 Abs. 2 VRPG/AG
fordere. Die richterliche Fürsorge dürfe nicht so weit gehen, dass die
Unabhängigkeit und Neutralität des Gerichts verloren gehe und die
Prozesspartei vor unsorgfältiger Prozessführung des Rechtsvertreters
geschützt werde, da sie diesfalls nicht "unbeholfen" sei.

C.
Dagegen hat X.________ am 24. April 2007 Beschwerde eingereicht, mit der sie
im Wesentlichen die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Anordnung
verlangt, das kantonale Beschwerdeverfahren durchzuführen. Sodann ersucht sie
um unentgeltliche Rechtspflege. Das Verwaltungsgericht schliesst in seiner
Vernehmlassung vom 1. Mai 2007 auf Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Verfahren hat eine Zivilsache zum Gegenstand (Art. 72 Abs. 1
BGG), die nicht vermögensrechtlich ist und deshalb keinen Streitwert
erfordert (Art. 74 Abs. 1 BGG). Die Androhung, bei fehlender materieller
Beschwerdebegründung kein Verfahren durchzuführen, ist ein Zwischenentscheid,
der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1
lit. a BGG). Auf die Beschwerde ist folglich einzutreten.

2.
Vorliegend geht es einzig um die Frage, ob das Eintreten auf eine Eingabe,
mit der im Sinn von Art. 397d ZGB das Gericht angerufen wird, von einer
materiellen Begründung abhängig gemacht werden darf, wenn die betroffene
Person anwaltlich vertreten ist. Die Beschwerdeführerin verneint dies und
rügt eine Verletzung von Art. 397d und 397f ZGB, ferner von Art. 31 Abs. 4 BV
und Art. 5 Ziff. 4 EMRK.

2.1 Die von der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) betroffene oder
eine ihr nahestehende Person kann gegen den Entscheid über die Unterbringung
oder Zurückbehaltung in einer Anstalt innert zehn Tagen "schriftlich das
Gericht anrufen" (Art. 397d Abs. 1 ZGB). Entsprechende Begehren sind
unverzüglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten (Art. 397e Ziff. 3
ZGB).

Die gerichtliche Beurteilung setzt ein schriftliches Begehren voraus, das die
Formerfordernisse von Art. 13 ff. OR erfüllen muss. Es ist unterschriftlich
zu bezeugen, dass gerichtliche Beurteilung verlangt wird. Indes ist weder ein
formeller Antrag noch eine Begründung erforderlich. Diese bundesrechtlichen
Formvorschriften sind abschliessend; die Kantone dürfen weder sie verschärfen
noch ein mündliches Begehren genügen lassen (Entscheid 1P.793/1991, E. 4b,
publ. in: EuGRZ 1991, S. 526 ff.; Geiser, Basler Kommentar, N. 16 zu Art.
397d ZGB; Spirig, Berner Kommentar, N. 51 und 54 zu Art. 397d ZGB, N. 22 zu
Art. 397f ZGB; Imhof, Der formelle Rechtsschutz, insbesondere die
gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss.
Freiburg 1999, S. 149 f. und 152; Scherwey, Das Verfahren bei der
vorsorglichen fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Basel 2004, S. 42;
Geiser, Was haben die Bestimmungen über die fürsorgerische
Freiheitsentziehung gebracht?, in: Patient - Patientenrecht, Genf 1984, S.
188).

2.2 Die bundesrechtlich vorgegebenen Formerfordernisse sind bewusst niedrig
gehalten und sachlich gerechtfertigt: Zum einen darf die Anrufung des
Richters angesichts der Schwere des Eingriffs und der häufigen Unbeholfenheit
der davon Betroffenen nicht an formellen Hindernissen scheitern. Zum anderen
zeigt die Erfahrung, dass Einweisungs- wie auch abweisende
Entlassungsverfügungen oft kaum begründet sind, was eine materiell begründete
Anfechtung in vielen Fällen verunmöglichen oder jedenfalls unverhältnismässig
erschweren würde. Der Betroffene kann und darf sich darauf beschränken, den
Richter mit einem schriftlichen Ersuchen um Beurteilung anzurufen. Es ist
sodann Sache des zuständigen Gerichts, sich durch Beizug der einschlägigen
Akten sowie persönliche Anhörung des Betroffenen und gegebenenfalls auch der
involvierten Behörden die notwendigen Entscheidgrundlagen zu verschaffen.

2.3 Verbietet das Bundesrecht den Kantonen, weitere Formerfordernisse
aufzustellen, gilt dies einerseits auch bei anwaltlicher Vertretung, darf
doch der von FFE-Massnahmen Betroffene nicht allein aus diesem Grund
schlechter gestellt werden, und stösst andererseits der Verweis auf die in §
39 Abs. 2 VRPG/AG vorgeschriebene Begründungserfordernis von vornherein ins
Leere. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang immerhin
festgehalten, dass Art. 397f Abs. 3 ZGB zwingend die mündliche Einvernahme
der betroffenen Person vorschreibt und damit das FFE-Verfahren im Unterschied
zum verwaltungsrechtlichen bzw. -gerichtlichen Standardverfahren, das § 39
Abs. 2 VRPG/AG im Auge hat, mündlich ist, womit die Begründung an der
Verhandlung vorgetragen werden kann; überdies ist es der Sache nach ein
erstinstanzliches Verfahren, auch wenn es im Kanton Aargau formell als
Beschwerdeverfahren ausgestaltet ist. Sodann kann die anwaltliche
Verbeiständung mit Blick auf die mündliche Verhandlung ungeachtet der
fehlenden Begründungserfordernis Sinn machen; aus eben diesem Grund ist die
allfällige Bestellung eines Rechtsanwaltes in Art. 397f Abs. 2 ZGB explizit
erwähnt.

3.
Die angefochtene Verfügung verletzt nach dem Gesagten Art. 397d ZGB und ist
folglich aufzuheben. Bei diesem Verfahrensausgang ist die Gerichtsgebühr auf
die Gerichtskasse zu nehmen (Art. 66 Abs. 4 BGG), während die
Parteientschädigung vom Kanton Aargau zu tragen ist (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und die Verfügung des Verwaltungsgerichts
des Kantons Aargau vom 23. April 2007 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und der Verwaltungsgericht des
Kantons Aargau, Präsidentin der 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Mai 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: