Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.100/2007
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5A_100/2007 /bnm

Urteil vom 4. Juli 2007
II. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Gerichtsschreiber Möckli.

X.________ (Ehemann),
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Kathrin Thomann,

gegen

Y.________ (Ehefrau),
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Andrea Metzler,

Ehescheidung,

Beschwerde in Zivilsachen gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, Zivilgericht, 1. Kammer, vom 23. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Parteien heirateten 1997. 1998 kam ihre Tochter S.________ zur Welt. Seit
24. Dezember 1999 leben sie getrennt. Y.________ ist zudem Mutter von
T.________, der 23 Jahre alt ist und in A.________ lebt.

B.
Auf Klage von Y.________ und beidseitiges Begehren schied der
Gerichtspräsident 3 von B.________ die Ehe der Parteien mit Urteil vom
12. Januar 2006. Er teilte die elterliche Sorge der Mutter zu und regelte die
übrigen Nebenfolgen der Scheidung, wobei er den nachehelichen Unterhalt für
die Zeit bis August 2010 auf Fr. 1'493.-- und für die Zeit bis August 2014
auf Fr. 573.-- pro Monat festsetzte.

Beschränkt auf diesen Punkt erhoben beide Parteien Appellation, worauf das
Obergericht des Kantons Aargau den nachehelichen Unterhalt mit Urteil vom 23.
Januar 2007 auf Fr. 1'771.-- bis August 2008, auf Fr. 1'451.-- bis August
2010 und auf Fr. 1'411.-- bis August 2014 festsetzte.

C.
Gegen dieses Urteil hat X.________ am 23. März 2007 Beschwerde in Zivilsachen
erhoben mit dem Begehren, der nacheheliche Unterhalt sei auf Fr. 875.-- bis
August 2008 und auf Fr. 475.-- bis August 2010 zu beschränken. Es wurde keine
Vernehmlassung eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der nacheheliche Unterhalt beschlägt eine Zivilsache mit Vermögenswert. Die
Streitwertgrenze ist erreicht. Insoweit ist die Beschwerde in Zivilsachen
gegeben (Art. 72 Abs. 1 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG).

2.
Mit Bezug auf die - als einziges Element noch umstrittene - Erwerbsfähigkeit
der Beschwerdegegnerin hat das Obergericht festgestellt, sie habe an der
Universität in A.________ Mathematik studiert und nach dem Abschluss im Jahr
1985 zuerst als Mathematiklehrerin und später als Croupier in einem Casino
gearbeitet. Im Jahr 1997 sei sie in die Schweiz gekommen und habe den
Beschwerdeführer geheiratet. Während des Zusammenlebens sei sie nicht
berufstätig gewesen. Nach der Trennung habe sie zwei Monate an einer Bar und
von Februar bis Mai 2003 bei McDonalds gearbeitet, wo sie durchschnittlich
Fr. 385.75 verdient habe. Sie sei gesund und beherrsche nebst Russisch und
Weissrussisch auch Hochdeutsch. Sie habe im vergangenen Jahr eine
Teilzeitausbildung an der Handelsschule mit Erfolg abschliessen können. Auf
der anderen Seite sei ihre fehlende Berufserfahrung in der Schweiz zu
berücksichtigen. Ausgehend von der vom kantonalen Amt für Wirtschaft und
Arbeit herausgegebenen Zusammenstellung der berufsüblichen Löhne sowie
einerseits der verbleibenden Zeit für die Arbeitssuche und andererseits der
gebotenen Zurückhaltung bei der Annahme eines hypothetischen Einkommens in
fernerer Zukunft sei von einem erzielbaren Nettoeinkommen von Fr. 2'000.--
bzw. 4'000.-- auszugehen, sobald die Tochter 10- resp. 16-jährig sei.

3.
Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die gewählte Aufgabenteilung
während des ehelichen Zusammenlebens sei "ganz sicher keine einvernehmliche"
gewesen, versucht er ein kantonal nicht festgestelltes Sachverhaltselement
einzuführen, was unzulässig ist (Art. 105 Abs. 1 BGG); das Obergericht hat
nicht auf allfällige Absprachen zwischen den Parteien, sondern auf das Faktum
abgestellt, dass die Beschwerdegegnerin während des Zusammenlebens und
abgesehen von wenigen kurzfristigen Teilzeiteinsätzen auch nach der Trennung
keine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Das gleiche gilt für das Vorbringen,
während ihrer Ausbildung an der Handelsschule habe sie S.________
offensichtlich fremdbetreuen lassen müssen; es fehlt an entsprechenden
Sachverhaltsfeststellungen, und die Notwendigkeit einer Fremdbetreuung in
grösserem Umfang ergibt sich auch nicht per se aus der Erlangung eines
Handelsdiploms, gibt es doch Ausbildungsvarianten, die wenig zeitliche
Präsenz ausser Haus verlangen (dem angefochtenen Urteil lässt sich lediglich
entnehmen, dass es sich um eine Teilzeitausbildung von relativ kurzer Dauer
handelte).

4.
In materieller Hinsicht ist vorab zu bemerken, dass die nacheheliche
Unterhaltspflicht in Art. 125 ZGB offen umschrieben wird und das Gericht
entsprechend über einen weiten Ermessensspielraum verfügt (Art. 4 ZGB; BGE
127 III 136 E. 3a S. 141; Botschaft, BBl 1996 I S. 115 f.).
Ermessensentscheide dieser Art überprüft das Bundesgericht an sich frei. Es
übt dabei allerdings Zurückhaltung und schreitet nur ein, wenn die kantonale
Instanz von dem ihr zustehenden Ermessen falschen Gebrauch gemacht hat, d.h.
wenn sie grundlos von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen
abgegangen ist, wenn sie Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die keine Rolle
hätten spielen dürfen, oder wenn sie umgekehrt rechtserhebliche Umstände
ausser Acht gelassen hat. Aufzuheben und zu korrigieren sind ausserdem
Ermessensentscheide, die sich als im Ergebnis offensichtlich unbillig, als in
stossender Weise ungerecht erweisen (BGE 129 III 380 E. 2 S. 382; 131 III 12
E. 4.2 S. 15; 132 III 97 E. 1 S. 99).

Im Einzelnen bringt der Beschwerdeführer vor, das Obergericht habe nicht
gewürdigt, dass eine Unterhaltsverpflichtung bis ins Jahr 2014 angesichts des
bloss zweijährigen Zusammenlebens unverhältnismässig sei. Tatsächlich ist die
Dauer der Ehe (Art. 125 Abs. 2 Ziff. 2 ZGB) eines der relevanten Kriterien
für die Festsetzung des angemessenen nachehelichen Unterhalts im Sinn von
Art. 125 Abs. 1 ZGB; dem steht jedoch als weiteres massgebliches Kriterium
der Umfang und die Dauer der Kinderbetreuung gegenüber (Art. 125 Abs. 2 Ziff.
6 ZGB). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu diesen beiden Kriterien geht
dahin, dass sich der gebührende Unterhalt im Sinn von Art. 125 Abs. 1 ZGB bei
einer lebensprägenden Ehe nach dem zuletzt gemeinsam gelebten ehelichen
Standard bemisst; als lebensprägend wird dabei eine Ehe angesehen, die lange
gedauert hat oder - unabhängig von der Ehedauer - eine solche, aus der Kinder
hervorgegangen sind (Entscheide 5C.278/2000, E. 3a; 5C.149/2004, E. 4.3;
5C.49/2005, E. 2.1; 5C.169/2006, E. 2.4). Hat aber das Obergericht diese
gefestigte Rechtsprechung beachtet, kann dies von vornherein keine falsche
Ermessensausübung darstellen. Ausgehend vom Grundsatz, dass bei der
lebensprägenden Ehe an der ehelichen Lebenshaltung anzuknüpfen ist, auf deren
Fortsetzung beide Ehegatten Anspruch haben, soweit es die finanziellen Mittel
zulassen (BGE 132 III 593 E. 3.2 S. 595), hält sodann die Verteilung des
Überschusses im Verhältnis von 40 zu 60 % unter Berücksichtigung der
Zuteilung der elterlichen Sorge im Rahmen der Ermessensausübung vor
Bundesrecht stand.

Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, der Grundsatz, wonach eine Teil-
bzw. Vollzeitarbeit zumutbar sei, sobald das jüngste Kind zehn resp. sechzehn
Jahre alt ist (BGE 115 II 6 E. 3c S. 10), beziehe sich nicht auf
Einzelkinder, wie die Formulierung "sobald das jüngste Kind" zeige. Die
betreffende bundesgerichtliche Rechtsprechung stellt zwar keine starre Regel,
sondern eine Richtlinie dar, die auf durchschnittliche Verhältnisse
zugeschnitten ist und vor einer jeden Einzelfallbetrachtung standhalten muss
(BGE 132 III 593 nicht publ. E. 6.3). So wäre etwa eine darüber hinausgehende
Erwerbsarbeit zumutbar, wenn sie bereits während des ehelichen Zusammenlebens
stattgefunden hat oder das Kind fremdplatziert ist und deshalb den Inhaber
der elterlichen Sorge bzw. der Obhut nicht an einer Erwerbsarbeit hindert.
Umgekehrt kann eine Erwerbsarbeit auch länger unzumutbar bleiben, etwa bei
einem behinderten Kind oder wenn zahlreiche Kinder zu betreuen sind
(Entscheid 5C.139/2005, E. 2.2, in: FamPra.ch 2005, S. 895). In diesem Sinn
sind die zitierten Richtlinien auch auf Einzelkinder anwendbar; die
generell-abstrakte Formulierung "das jüngste Kind" zielt einzig auf eine
Klarstellung, wenn mehrere Kinder vorhanden sind. Keine fehlerhafte
Ermessenausübung durch das Obergericht ist sodann mit dem allgemeinen Hinweis
darzutun, viele Mütter seien heute trotz Kindern erwerbstätig, zumal die
zitierte bundesgerichtliche Rechtsprechung konstant und in mehreren jüngsten
Entscheiden bestätigt worden ist (vgl. etwa BGE 132 III 593 nicht publ. E.
6.3; Entscheide 5C.282/2002, E. 7, in: FamPra.ch 2003, S. 677; 5C.70/2004, E.
2.3; 5C.171/2005, E. 4.2.2).

An der Sache vorbei geht sodann der wiederholte Hinweis auf den inzwischen
23-jährigen Sohn T.________, den die Beschwerdegegnerin in A.________ hatte:
Im angefochtenen Urteil ist zwar festgestellt, dass sie nach ihrem Studium
1985 als Mathematiklehrerin arbeitete, und die geschlechtsunabhängige
Arbeitsverpflichtung aller Bürger in der damaligen Sowjetunion dürfte als
Notorietät anzusehen sein. Dem steht aber - ebenfalls gerichtsnotorisch -
gegenüber, dass bereits kleine Kinder zwingend in staatliche Kinderhorte zu
verbringen waren, weshalb aus den damaligen bzw. dortigen Lebensumständen für
die vorliegend zu beurteilende Situation nichts zu gewinnen ist.
Steht aber einer Erwerbstätigkeit im Umfang, wie sie vom Beschwerdeführer
gefordert wird, in objektiver Weise die Erziehungsarbeit entgegen, verfangen
auch die Vorbringen nicht, die Beschwerdegegnerin hätte sich ab dem
Trennungszeitpunkt um eine Arbeit bemühen müssen und jedenfalls hätte sie
jetzt bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als in fortgeschrittenerem Alter.
Unzutreffend ist sodann der Schluss, S.________ werde in erheblichem Umfang
fremdbetreut, wenn sie die Wochenenden vor allem beim Grossvater
väterlicherseits und die Schulferien bei der Grossmutter mütterlicherseits
verbringe. Solche Besuche in der Freizeit stellen weder quantitativ noch
qualitativ eine Fremdbetreuung im rechtlichen Sinn dar, sondern entsprechen
in etwa der Ausübung des Besuchsrechts durch den nicht sorgeberechtigten und
damit auch nicht die Erziehungsverantwortung tragenden Elternteil.
Insgesamt kann dem Obergericht keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen
werden, wenn es in Beachtung der einschlägigen Richtlinien eine
Erwerbstätigkeit der Beschwerdegegnerin von 50% ab dem vollendeten zehnten
und eine solche von 100% ab dem vollendeten sechzehnten Lebensjahr von
S.________ als zumutbar angesehen hat. Entsprechend ist den neuen
Unterhaltsberechnungen des Beschwerdeführers - die auf den als verbindliche
Sachverhaltsfeststellungen akzeptierten vorinstanzlichen einkommens- und
ausgabeseitigen Zahlen beruhen - der Boden entzogen.

5.
Die Beschwerde ist demnach abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden
kann. Sie kann indes nicht als geradezu von Anfang an aussichtslos bezeichnet
werden, weshalb dem offensichtlich prozessarmen Beschwerdeführer die
unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen und ihm Kathrin Thomann als
unentgeltliche Rechtsanwältin beizugeben ist; diese ist folglich aus der
Gerichtskasse angemessen zu entschädigen und die Gerichtsgebühr ist
einstweilen auf die Kasse zu nehmen (Art. 64 BGG). Der Gegenpartei sind keine
entschädigungspflichtigen Aufwendungen entstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt, und es
wird ihm Kathrin Thomann als unentgeltliche Rechtsanwältin beigegeben.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt,
jedoch einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Kathrin Thomann wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr.
2'000.-- entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Zivilgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. Juli 2007

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: