Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 4A.298/2007
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4A_298/2007 /aka

Urteil vom 8. Oktober 2007

I. zivilrechtliche Abteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,
Gerichtsschreiber Th. Widmer.

A. X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Patrick M. Hoch,

gegen

Y.________ mbH,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. David Brunner.

Vollstreckung nach Lugano-Übereinkommen,

Beschwerde in Zivilsachen gegen den Entscheid
des Obergerichts des Kantons Luzern, Schuldbetreibungs- und
Konkurskommission, als Rekursinstanz,
vom 11. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Auf Gesuch der Y.________ mbH (Beschwerdegegnerin) erklärte der
Amtsgerichtspräsident III von Luzern-Land mit Entscheid vom 29. August 2006
das gegen A. X.________ (Beschwerdeführerin) ergangene Teil-Urteil des
Landgerichts Hamburg (D) vom 25. November 2005 im Teilbetrag von ¤ 62'000.--
nebst Zins zu 6.95 % seit 14. Juli 1999 für vollstreckbar. Ferner wies er das
Betreibungsamt M.________ an, bewegliches Vermögen der Beschwerdeführerin im
Umfang von Fr. 99'820.-- nebst Zins zu 6.95 % seit 14. Juli 1999 provisorisch
zu pfänden.
Dieser Entscheid wurde am 5. September 2006 von B. X.________, dem Ehemann
der Beschwerdeführerin, an dessen Domizil in M.________ in Empfang genommen.

B.
Gegen den Entscheid vom 29. August 2006 erhob die Beschwerdeführerin am 6.
Oktober 2006 (Postaufgabe) "Einsprache" an das Obergericht des Kantons
Luzern. Dessen Schuldbetreibungs- und Konkurskommission trat mit Entscheid
vom 1. Dezember 2006 auf den Rekurs nicht ein. Sie erkannte, die
Beschwerdeführerin habe die Begründung eines neuen Wohnsitzes in London nicht
nachzuweisen vermocht, so dass nach Art. 24 ZGB nach wie vor M.________ als
Wohnsitz gelte. Demnach sei die einmonatige Rekursfrist nach Art. 36 LugÜ
anwendbar. Der Vollstreckungserklärungs-Entscheid sei rechtsgültig am 5.
September 2006 zugestellt worden. Die Einmonatsfrist habe folglich am
5. September 2006 zu laufen begonnen und am 5. Oktober 2006 geendet. Damit
sei der Rekurs vom 6. Oktober 2006 verspätet.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin staatsrechtliche Beschwerde. Das
Bundesgericht hiess die Beschwerde am 15. März 2007 gut und hob den Entscheid
des Obergerichts vom 1. Dezember 2006 auf (BGE 133 III 252). Es hielt fest,
dass vorliegend nicht auf den fortgesetzten Wohnsitz nach Art. 24 Abs. 1 ZGB
abgestellt werden dürfe. Das Obergericht habe abzuklären, wo sich im
massgeblichen Zeitpunkt der tatsächliche Lebensmittelpunkt der
Beschwerdeführerin befunden habe.
Hierauf erhob das Obergericht weitere Beweise und schloss, dass die
Beschwerdeführerin im relevanten Zeitraum ihren Wohnsitz in M.________ hatte.
Dementsprechend trat es mit Entscheid vom 11. Juni 2007 erneut auf den Rekurs
nicht ein.

C.
Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil
des Obergerichts des Kantons Luzern vom 11. Juni 2007 sei aufzuheben und das
Obergericht sei anzuweisen, auf den Rekurs vom 6. Oktober 2006 einzutreten
und ihn materiell zu behandeln.
Die Beschwerdegegnerin und das Obergericht beantragen, die Beschwerde
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

D.
Mit Präsidialverfügung vom 10. September 2007 wurde der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung erteilt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid am 11. Juni 2007 ergangen ist, richtet sich das
Verfahren nach dem BGG (Art. 132 Abs. 1 BGG).

2.
Das Teil-Urteil des Landgerichts Hamburg vom 25. November 2005 erging in
einem Vertragsstaat (Deutschland) des Übereinkommens vom 16. September 1988
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen, LugÜ; SR
0.275.11). Seine Anerkennung und Vollstreckung in der Schweiz wird daher
durch dieses Übereinkommen geregelt (Art. 26 und 31 LugÜ).

3.
3.1 Die Beschwerde in Zivilsachen, deren Sachurteilsvoraussetzungen nach Art.
72 ff. BGG hier grundsätzlich erfüllt sind und zu keinen Bemerkungen Anlass
geben, kann wegen Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben
werden. Nach Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu
begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b
BGG). Die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem
Recht kann das Bundesgericht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der
Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG;
BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254; 133 III 393 E. 6, 439 E. 3.2).
3.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1
BGG).
Macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 9 BV bei der
Sachverhaltsfeststellung geltend, genügt es nicht, wenn er einfach behauptet,
der angefochtene Entscheid sei willkürlich; er hat vielmehr im Einzelnen zu
zeigen, inwiefern der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist
(Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 III 393 E. 7.1; vgl. auch
die zu Art. 90 OG ergangenen Urteile BGE 133 I 1 E. 5.5; 130 I 258 E. 1.3
S. 262; 110 Ia 1 E. 2a S. 3 f.). Zu beachten ist, dass dem Sachgericht im
Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zusteht (BGE
120 Ia 31 E. 4b S. 40). Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein,
wenn das Sachgericht sein Ermessen missbraucht, insbesondere offensichtlich
unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche
willkürlich ausser Acht lässt (vgl. BGE 132 III 209 E. 2.1; 129 I 8 E. 2.1;
120 Ia 31 E. 4b S. 40; 118 Ia 28 E. 1b S. 30). Inwiefern das kantonale
Gericht sein Ermessen im dargelegten Sinn missbraucht haben soll, ist in der
Beschwerde klar und detailliert aufzuzeigen (BGE 130 I 258 E. 1.3).
Namentlich genügt es nicht, einzelne Beweise anzuführen, die anders als im
angefochtenen Entscheid gewichtet werden sollen, und dem Bundesgericht in
appellatorischer Kritik die eigene Auffassung zu unterbreiten, als ob diesem
die freie Prüfung aller Tat- und Rechtsfragen zukäme (vgl. BGE 116 Ia 85 E.
2b).

4.
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, die Vollstreckbarkeitserklärung sei
nicht korrekt zugestellt worden und daher wirkungslos.
Diese Rüge hat die Beschwerdeführerin bereits im ersten bundesgerichtlichen
Verfahren erhoben. Das Bundesgericht hat die Rüge abgewiesen (Urteil
4P.25/2007 vom 15. März 2007 E. 3). Es besteht kein Anlass, erneut darauf
einzugehen. Soweit die Beschwerdeführerin nunmehr anführt, die Zustellung sei
nach dem Luzerner Prozessrecht nicht korrekt erfolgt, kann darauf nicht
eingetreten werden. Wie dargelegt (E. 3.1), prüft das Bundesgericht die
Verletzung von kantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der
Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2
BGG). Die Beschwerdeführerin beruft sich pauschal auf das Luzerner
Prozessrecht, ohne aber konkret darzulegen, welche Bestimmung inwiefern
willkürlich angewendet worden sein soll. Damit verfehlt sie klar die
Begründungsanforderungen. Soweit sie sich wiederum auf das pendente
Scheidungsverfahren beruft, so ist dieses Vorbringen nicht belegt. Nach den
vorinstanzlichen Feststellungen hat der Ehemann der Beschwerdeführerin am 29.
September 2006 lediglich ein Aussöhnungsbegehren gestellt, das er am 25.
Oktober 2006 wieder zurückzog. Dass im Zeitpunkt der Zustellung, am 5.
September 2006, ein Scheidungsverfahren hängig gewesen wäre, ist hingegen
nicht festgestellt.
Es bleibt daher dabei, dass eine rechtsgültige Zustellung des Entscheids vom
29. August 2006 am 5. September 2006 anzunehmen ist.

5.
Der Wohnsitz der Beschwerdeführerin ist einerseits massgebend für die
Vollstreckungszuständigkeit (Art. 32 Abs. 2 LugÜ) und anderseits für die
Rechtsmittelfrist (Art. 36 Abs. 2 LugÜ). Die Beschwerdeführerin rügt im
Zusammenhang mit der vorinstanzlichen Feststellung des Wohnsitzes der
Beschwerdeführerin eine Verletzung des Lugano-Übereinkommens, des Anspruchs
auf rechtliches Gehör und von Vorschriften der Luzerner Zivilprozessordnung,
namentlich von § 80 Abs. 2 sowie 139 ff. ZPO-LU. Sie kritisiert das Vorgehen
der Vorinstanz bei der Beweiserhebung und macht eine willkürliche
Beweiswürdigung geltend.

5.1 Nach den bundesgerichtlichen Erwägungen hatte die Vorinstanz abzuklären,
wo sich im massgeblichen Zeitpunkt (Ende August/anfangs September 2006) der
tatsächliche Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin befunden hatte. Dabei
habe es die im Verfahren bereits vorgebrachten Behauptungen und die ins Recht
gelegten Unterlagen der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen und - soweit
damit kein Nachweis über den Lebensmittelpunkt zu erbringen sei - nach
Massgabe der anwendbaren Verfahrensvorschriften allenfalls weitere Beweise zu
erheben (BGE 133 III 252 E. 4 S. 255).
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die Vorinstanz sei der
bundesgerichtlichen Anweisung nicht bzw. nur ungenügend nachgekommen. Sie
habe die Beschwerdeführerin zwar aufgefordert, innert bestimmter Frist über
den Wohnort London "weiter Beweis zu führen". Dieses wenig konkrete Schreiben
könne aber nicht als Beweisauflagebeschluss qualifiziert werden, zumal
entgegen § 80 Abs. 2 ZPO-LU die Säumnisfolgen nicht angegeben worden seien.
Die Vorinstanz schrieb am 27. April 2007 im Rahmen der Neubeurteilung nach
dem bundesgerichtlichen Entscheid an die Beschwerdeführerin, dass sie zu
ihrer Behauptung, seit Mitte April 2006 in London zu wohnen, nebst den
bereits eingereichten Unterlagen, weiter Beweis führen könne. Insbesondere
ersuchte sie sie um Einreichung gewisser konkret genannter Unterlagen
(Steuererklärung und Veranlagung, Abmeldung von der schweizerischen
Krankenversicherung und diesbezügliche Neuanmeldung in London, Kaufvertrag
hinsichtlich eines Objekts, das die Beschwerdeführerin im Herbst 2006
zusammen mit ihrem Ehemann an der N.________ in M.________ erworben habe).
Damit hat die Vorinstanz das Beweisverfahren über die abzuklärende
Wohnsitzfrage entsprechend der bundesgerichtlichen Anweisung geführt und es
ist weder ersichtlich noch dargetan, welche einschlägige Vorschrift der
Luzerner ZPO willkürlich angewendet worden sein soll.
Namentlich ist auch nicht ersichtlich, dass eine allenfalls darin bestehende
Verletzung von § 80 Abs. 2 ZPO entscheidrelevant wäre, dass die Vorinstanz
auf den Rekurs nicht eintrat, ohne dies der Beschwerdeführerin für den Fall
anzudrohen, dass diese innert Frist die angeforderten Beweismittel nicht oder
unvollständig einreiche. Die angerufene Bestimmung verlangt, dass der Richter
bei von ihm festgelegten Fristen die Säumnisfolgen in der Fristansetzung
festhält. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift wäre vorliegend von
vornherein unerheblich, da die Vorinstanz gar nicht wegen einer Säumnis der
Beschwerdeführerin mit der Beweisführung auf ihr Rechtsmittel nicht eintrat.
Ihr Nichteintretensentscheid erging vielmehr als Folge des Ergebnisses ihrer
Beweiswürdigung und der hierauf vorgenommenen Rechtsanwendung.

5.2 Ebenso wenig war die Vorinstanz verpflichtet - weder im Schreiben vom 27.
April 2007 noch im Nachgang zur Eingabe der Beschwerdeführerin vom 29. Mai
2007 - diese konkret aufzufordern, Belege, wie Verträge, Rechnungen über
Strom, Wasser und Telefon für den behaupteten Wohnsitz in London
einzureichen. Es genügte, dass sie sie aufforderte, diesbezüglich weiter
Beweis zu führen. Dass die genannten Belege oder etwa auch Einkaufsquittungen
oder Restaurantrechnungen etc. eine Möglichkeit wären, zu diesem Beweis
beizutragen, konnte die Beschwerdeführerin überdies bereits dem
obergerichtlichen Entscheid vom 1. Dezember 2006 E. 3.1.2 entnehmen. Darin,
dass die Vorinstanz von der Beschwerdeführerin nicht (nochmals) konkrete
Belege anforderte, sondern nach dem Schreiben vom 27. April 2007 und den
daraufhin von der Beschwerdeführerin eingereichten Unterlagen zur
Beweiswürdigung schritt, liegt weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
noch von Art. 8 ZGB. Die entsprechenden Rügen der Beschwerdeführerin sind
unbegründet.

5.3 Die Vorinstanz kam im Rahmen der Beweiswürdigung gestützt auf mehrere,
aktenmässige Indizien zum Schluss, dass sich der tatsächliche
Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin zum massgeblichen Zeitpunkt in
M.________ befunden habe.
Die Beschwerdeführerin kritisiert die vorinstanzliche Beweiswürdigung als
willkürlich, begründet diesen Vorwurf aber nicht rechtsgenüglich (siehe
Erwägung 3.2). Sie legt lediglich dar, wie die betreffenden Unterlagen ihrer
Ansicht nach zu würdigen seien, zeigt aber nicht auf, inwiefern die von der
Vorinstanz vorgenommene Würdigung geradezu willkürlich sein soll. Auf ihre
Ausführungen kann deshalb nicht eingetreten werden.

5.4 Die Vorinstanz hat Art. 36 Abs. 2 LugÜ gestützt auf ihren Schluss, die
Beschwerdeführerin habe zum massgeblichen Zeitpunkt den tatsächlichen
Lebensmittelpunkt in M.________ gehabt, korrekt angewendet und ist demnach zu
Recht auf den Rekurs nicht eingetreten.

6.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Verfahrensausgang wird die Beschwerdeführerin kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 5'000.-- wird der Beschwerdeführerin aufverlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern,
Schuldbetreibungs- und Konkurskommission, als Rekursinstanz, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 8. Oktober 2007

Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: