Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.504/2007
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2C_504/2007

Urteil vom 5. Dezember 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Karlen,
Gerichtsschreiber Hugi Yar.

Bundesamt für Migration, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Rechtsanwalt Reto Allenspach,
Bezirksgerichtspräsidium Plessur,
Theaterweg 1, 7000 Chur,

Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden, 7000 Chur.

Ausschaffungshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des Bezirksgerichtspräsidiums Plessur vom
14. August 2007.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (geb. 1977) stammt aus Bosnien-Herzegowina. Sie verfügte von 1993
bis Ende 2001 in der Schweiz über eine Aufenthaltsbewilligung, welche nicht
verlängert wurde, da sie sich entgegen entsprechenden Auflagen nicht um eine
dauerhafte Erwerbstätigkeit bemühte. Am 12. November 2002 trat das Bundesamt
für Migration (BFM) auf ein Asylgesuch von X.________ nicht ein, worauf sie
das Land verliess. Im Mai 2006 reiste X.________ von Frankreich kommend über
Deutschland erneut in die Schweiz ein, um im Kanton Graubünden ihre Eltern zu
besuchen; sie wurde weggewiesen und war anschliessend unbekannten
Aufenthalts.

B.
Am 9. August 2007 ist X.________ erneut angehalten und tags darauf in
Ausschaffungshaft genommen worden. Das Bezirksgerichtspräsidium Plessur
weigerte sich am 14. August 2007, die Haft zu genehmigen, und ordnete die
sofortige Freilassung von X.________ an. Der Haftrichter wertete deren
Festhaltung als unverhältnismässig, da aus den Akten nicht ersichtlich sei,
dass sie das Land nicht jeweils den polizeilichen Aufforderungen entsprechend
freiwillig verlassen habe. Im Übrigen sei die Inhaftierte im sechsten Monat
schwanger, was "unter dem Gebot der Menschenwürde und der
Verhältnismässigkeit" zu beachten sei.

C.
Das Bundesamt für Migration hat am 19. September 2007 beim Bundesgericht
hiergegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht.
Es beantragt, den Entscheid des Bezirksgerichtspräsidiums Plessur aufzuheben,
da der Haftrichter gestützt auf das bisherige Verhalten von X.________ das
Bestehen einer Untertauchensgefahr zu Unrecht verneint habe. Das Amt für
Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen; das Bezirksgerichtspräsidium Plessur hat auf eine
Vernehmlassung verzichtet. Der amtliche Rechtsbeistand von X.________ im
kantonalen Verfahren beantragt für diese, die Beschwerde abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 der
Organisationsverordnung vom 17. November 1999 für das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement (OV-EJPD; SR 172.213.1) ist das Bundesamt für
Migration im Bereich des Ausländerrechts befugt, Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegeheiten zu führen. Da es eine konkrete
Rechtsfrage eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls aufwirft, ist auf seine
frist- und formgerecht eingereichte Eingabe einzutreten (vgl. das Urteil
2C_411/2007 vom 6. November 2007, E. 1 mit Hinweisen; BGE 129 II 1 E. 1 S. 3
f.).
1.2 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist wegen
Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 und Art. 96 BGG zulässig. Das
Bundesgericht wendet im Rahmen der Parteibegehren das Recht von Amtes wegen
an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden und kann
eine Eingabe aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit
einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen
(vgl. BGE 133 III 545 E. 2.2).

2.
Wie die Beschwerdegegnerin zu Recht einwendet, ist die vorliegende Beschwerde
bereits deshalb unbegründet, weil die kantonale Haftprüfung nicht
fristgerecht erfolgt ist:
2.1 Die Ausschaffungshaft muss spätestens nach 96 Stunden durch eine
richterliche Behörde auf Grund einer mündlichen Verhandlung geprüft werden
(Art. 13c Abs. 2 ANAG); diese ist nur entbehrlich, wenn die Ausschaffung
voraussichtlich innerhalb von acht Tagen erfolgen wird und sich die
betroffene Person schriftlich hiermit einverstanden erklärt. Ist die
Ausschaffung wider Erwarten nicht fristgerecht möglich, muss die mündliche
Verhandlung spätestens zwölf Tage nach der Haftanordnung nachgeholt werden
(Art. 13c Abs. 2bis ANAG [in der Fassung vom 16. Dezember 2005]). Das Amt für
Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden ging gemäss Checkliste vom 10. August
2007 davon aus, dass die Haft der Beschwerdegegnerin über 45 Tage dauern
würde; deren Ausschaffungshaft war somit innert 96 Stunden durch den
Haftrichter zu überprüfen.

2.2 Wie das Bundesgericht wiederholt festgehalten hat, beginnt die
entsprechende Frist ab jenem Zeitpunkt zu laufen, ab dem die betroffene
Person tatsächlich (ausschliesslich) ausländerrechtlich motiviert
festgehalten wird; entscheidend ist nicht der Moment, in dem sie aus einem
anderen Kanton überstellt wird oder die Fremdenpolizei die Ausschaffungshaft
formell anordnet und begründet (BGE 127 II 174 E. 2b/aa mit zahlreichen
Hinweisen; betreffend den Kanton Graubünden: Urteile 2C_395/2007 vom
3. September 2007, E. 3.2, und        2A.101/2004 vom 3. März 2004, E. 2.2).
Die Beschwerdegegnerin ist am Donnerstag, 9. August 2007, um 19:41 Uhr, im
Auftrag des Amtes für Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden festgenommen und
tags darauf diesem zugeführt worden. Da ihre Anhaltung von Anfang an auf
ausländerrechtlichen Gründen beruhte, begann die bundesrechtliche Frist von
96 Stunden bereits ab diesem Zeitpunkt zu laufen, auch wenn die
Kantonspolizei annahm, es habe sich bis zum formellen Entscheid des Amts für
Polizeiwesen und Zivilrecht vom 10. August 2007 um einen (blossen)
kantonalrechtlichen Polizeigewahrsam gehandelt. Die richterliche Haftprüfung
erfolgte erst am Dienstag, den 14. August 2007 (ab 10.00 Uhr), und damit rund
14 Stunden zu spät, weshalb die Ausschaffungshaft der Beschwerdegegnerin
schon aus diesem formellen Grund nicht hätte bestätigt werden dürfen.

2.3 Zwar führt nicht jede Verletzung von Art. 13c Abs. 2 ANAG zu einer
Haftentlassung, doch stellt der Anspruch auf rechtzeitige richterliche
Prüfung anlässlich einer mündlichen Verhandlung eine zentrale prozessuale
Garantie dar, welche den Betroffenen vor willkürlichem Entzug der Freiheit
schützen soll (vgl. BGE 121 II 110 E. 2b S. 113); eine Missachtung der
entsprechenden Regelung kann deshalb nicht leichthin zugelassen werden. Bei
der Bestimmung der angemessenen Rechtsfolge ist jeweils zu prüfen, welche
Bedeutung der Vorschrift für die Wahrung der Interessen des Betroffenen
einerseits und dem Interesse an einer reibungslosen Durchsetzung der
Ausschaffung andererseits zukommt (vgl. BGE 125 II 369 E. 2e S. 373 f.; 121
II 105 E. 2c S. 109): Die Beschwerdegegnerin ist schwanger und hier nie in
erheblichem Masse straffällig geworden. Nach ihren Angaben lebt sie mit dem
Vater ihres Kindes in Frankreich, wo ihr Asylbeschwerdeverfahren noch hängig
sein soll. Sie will illegal in die Schweiz gekommen sein, um ihre Mutter zu
besuchen und über die Schwangerschaft zu informieren. Am 11. August 2007
plante sie offenbar, nach Frankreich zurückzureisen. Unter diesen Umständen
überwog ihr privates Interesse, nicht in Verletzung der
Verfahrensvorschriften in Haft genommen zu werden, das öffentliche, sie
zwangsweise in ihre Heimat verbringen zu können.

3.
Das Bundesamt für Migration macht geltend, der Haftrichter habe die Gefahr
eines Untertauchens der Betroffenen und die Verhältnismässigkeit der Haft zu
Unrecht verneint. Seine Ausführungen überzeugen nicht: Die Beschwerdegegnerin
hat die Schweiz den Aufforderungen der Behörden entsprechend jeweils
verlassen, auch wenn sie sich dies nicht mit der offiziellen
Ausreisemeldekarte bestätigen liess. Zwar erklärte sie wiederholt, nicht nach
Bosnien-Herzegowina zurückkehren zu wollen, doch erscheint dies
nachvollziehbar, nachdem in Frankreich noch ein Asylbeschwerdeverfahren
hängig sein soll und ihr Partner dort lebt. Für die Behauptung, sie halte
sich "in Wirklichkeit bereits längere Zeit widerrechtlich in der Schweiz"
auf, finden sich in den Akten keinerlei konkrete Hinweise; es ist nicht
ersichtlich, inwiefern der vom Haftrichter festgestellte Sachverhalt
diesbezüglich offensichtlich falsch oder unvollständig ermittelt worden sein
könnte (vgl. Art. 97 BGG). Bei den Hinweisen, welche nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung regelmässig auf eine Untertauchensgefahr
schliessen lassen (vgl. BGE 130 II 56 E. 3.1 S. 58), handelt es sich um
Indizien; diese entbinden die Behörden nicht davon, die Umstände im
Einzelfall zu berücksichtigen, wie der Haftrichter dies hier zutreffend getan
hat: Eine Schwangerschaft schliesst die Hafterstehungsfähigkeit nicht
grundsätzlich aus, sie erschwert aber das Untertauchen und darf deshalb bei
der Beurteilung des Haftgrunds bzw. der Verhältnismässigkeit der
Zwangsmassnahme mitberücksichtigt werden, ohne dass dadurch Bundesrecht
verletzt wird. Die Beschwerdegegnerin soll im sechsten Monat schwanger sein;
die meisten Fluggesellschaften verweigern ab dem achten, teilweise jedoch
bereits ab dem siebten Monat die Ausschaffung auf dem Luftweg, so dass die
Betroffene kaum rechtzeitig nach Bosnien-Herzegowina hätte verbracht werden
können (vgl. das Urteil 2A.328/2003 vom 22. Juli 2003, E. 2.3); das Amt für
Polizeiwesen und Zivilrecht Graubünden geht selber davon aus, dass die hierzu
erforderlichen Vorkehren mindestens ein bis zwei Monate gedauert hätten. Die
Beschwerde wäre deshalb auch in diesem Punkt abzuweisen gewesen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind keine Kosten zu erheben (Art. 66
Abs. 4 BGG). Die Eidgenossenschaft (EJPD/BFM) hat den Vertreter der
Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren indessen angemessen
zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Die Eidgenossenschaft (EJPD/BFM) hat den Rechtsvertreter der
Beschwerdegegnerin, Rechtsanwalt Reto Allenspach, für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgerichtspräsidium Plessur
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. Dezember 2007

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Merkli Hugi Yar