Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.466/2007
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2C_466/2007

Urteil vom 22. November 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Karlen,
Gerichtsschreiber Klopfenstein.

X. ________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Markus Kobel,

gegen

Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, Kramgasse 20, 3011 Bern,
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12, 3011 Bern.

Ausweisung,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 6. August 2007.

Sachverhalt:

A.
Der ägyptische Staatsangehörige X.________, geboren 1974, heiratete im Jahr
1994 eine Landsfrau, mit der er zwei Kinder (geb. 1994 und 1996) hat. Die Ehe
wurde später geschieden. Am 26. Mai 1996 heiratete er in Ägypten die
Schweizer Bürgerin Y.________, die aus erster Ehe - ebenfalls mit einem
ägyptischen Staatsangehörigen - drei Kinder (geb. 1988, 1989 und 1994) in die
Ehe mitbrachte. X.________ reiste am 6. Oktober 1996 in die Schweiz ein, wo
er die Aufenthaltsbewilligung und am 14. November 2001 die
Niederlassungsbewilligung erhielt.
In der Nacht vom 27./28. Oktober 1999 nahm X.________ eine Prostituierte in
seine Wohnung, wo es gegen ein Entgelt von Fr. 50.-- zu sexuellen Handlungen
kommen sollte. Als die alkohol- und drogenkranke Frau realisierte, dass sie
das von ihr dringend benötigte Geld nicht erhalten würde, reagierte sie
verbal sehr heftig und schlug auf X.________ ein. In der Folge kam es zu
Kampfhandlungen, wobei X.________ mit einem herumliegenden Küchenmesser auf
die Frau einstach und sie lebensgefährlich verletzte. Das Kreisgericht VIII
Bern-Laupen qualifizierte die Tat am 28. Mai 2003 als vollendete versuchte
vorsätzliche Tötung und verurteilte X.________ zu 3 ½ Jahren Zuchthaus und zu
acht Jahren Landesverweisung unbedingt. Das Berner Obergericht bestätigte am
30. Oktober 2003 Schuldspruch und Zuchthausstrafe, sprach aber die
achtjährige Landesverweisung bedingt aus bei einer Probezeit von fünf Jahren.
Die ans Bundesgericht erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos. Am 21.
September 2006 wurde X.________ nach dem Erstehen von zwei Dritteln der
Strafe bedingt aus dem Strafvollzug entlassen.

B.
Der Migrationsdienst des Kantons Bern wies X.________ am 20. Mai 2005 für
unbestimmte Zeit aus der Schweiz aus und setzte die Ausreisefrist auf den Tag
seiner Entlassung aus dem Strafvollzug fest. Die dagegen erhobenen kantonalen
Rechtsmittel wurden abgewiesen, zuletzt vom Verwaltungsgericht des Kantons
Bern am 6. August 2007.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 10. September
2007 beantragt X.________ dem Bundesgericht, das Urteil des
Verwaltungsgerichts vom 6. August 2007 aufzuheben sowie auf einen Widerruf
der Niederlassungsbewilligung und auf seine fremdenpolizeiliche Ausweisung zu
verzichten. Er ersucht um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung.
Die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, das Verwaltungsgericht
und das Bundesamt für Migration beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Mit Verfügung vom 12. September 2007 hat der Präsident der II.
öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung
zuerkannt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid über eine
gestützt auf Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG verfügte Ausweisung, wogegen das
ordentliche Rechtsmittel der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten zulässig ist (Art. 83 lit. c BGG e contrario). Der
Beschwerdeführer ist hierzu legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz
festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn,
dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 bzw. Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue
Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst
der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

2.
2.1 Gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG kann ein Ausländer aus der Schweiz oder
aus einem Kanton ausgewiesen werden, wenn er wegen eines Verbrechens oder
Vergehens gerichtlich bestraft wurde. Dieser Ausweisungsgrund ist vorliegend
erfüllt.

2.2 Die Ausweisung soll aber nur verfügt werden, wenn die nach Art. 11 Abs. 3
ANAG gebotene Interessenabwägung diese Massnahme als angemessen, d.h. als
verhältnismässig (vgl. BGE 125 II 521 E. 2a S. 523) erscheinen lässt. Dabei
sind namentlich die Schwere des Verschuldens des Ausländers, die Dauer der
Anwesenheit sowie die dem Betroffenen und seiner Familie drohenden Nachteile
zu berücksichtigen (vgl. Art. 16 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung vom
1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer
[ANAV; SR 142.201]; BGE 129 II 215 E. 3 und 4 S. 216 ff.; 125 II 105 ff.). Ob
die Ausweisung im Sinne von Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 ANAV
verhältnismässig ist, stellt eine Rechtsfrage dar und kann damit vom
Bundesgericht frei überprüft werden (BGE 125 II 105 E. 2a S. 107, 521 E. 2a
S. 523, mit Hinweisen).

3.
3.1 Ausgangspunkt für die Interessenabwägung gemäss Art. 11 Abs. 3 ANAG ist
das Verschulden des Ausländers. Dieses findet vorab im vom Strafrichter
verhängten Strafmass seinen Ausdruck. Dabei sind umso strengere Anforderungen
an die Schwere des strafrechtlichen Verschuldens zu stellen, je länger ein
Ausländer in der Schweiz gelebt hat. Aber selbst bei in der Schweiz geborenen
Ausländern der "zweiten Generation" ist die Ausweisung zulässig, wenn der
Ausländer besonders schwere Gewalt-, Sexual- oder Betäubungsmitteldelikte
begangen oder wiederholt schwer delinquiert hat. Unter Berücksichtigung aller
entscheidenden Umstände kann schon eine einzige Verurteilung wegen einer
besonders schwer wiegenden Straftat zur Ausweisung führen. Dem Gesichtspunkt
der Rückfallgefahr kommt ausserhalb des Geltungsbereichs des
Freizügigkeitsabkommens nicht vorrangige Bedeutung zu und es muss im
Zusammenhang mit Gewaltdelikten selbst ein Restrisiko nicht hingenommen
werden (zum Ganzen: BGE 130 II 176 E. 4.2-4.4 S. 185 ff.; 129 II 215 E. 3.2
S. 216 f.; 125 II 105 E. 2c S. 109 f., 521 E. 2b S. 523 f. und E. 4a/bb S.
527 f.; 122 II 433 E. 2b und c und E. 3 S. 436 ff.).
3.2 Da der Beschwerdeführer ein schweres Gewaltverbrechen nach lediglich drei
Jahren Anwesenheit in der Schweiz begangen hat und seine Ehe im damaligen
Zeitpunkt auch nur unwesentlich länger bestand, ist von der so genannten
Zweijahresregel auszugehen: Beim ausländischen Ehegatten eines Schweizer
Bürgers, der erstmals um eine Aufenthaltsbewilligung ersucht oder nach bloss
kurzer Aufenthaltsdauer deren Erneuerung beantragt, nimmt das Bundesgericht
in ständiger Rechtsprechung an, dass die Grenze, von der an in der Regel
selbst dann keine Bewilligung mehr erteilt bzw. eine Ausweisung ausgesprochen
wird, wenn dem schweizerischen Ehepartner die Ausreise nicht oder nur schwer
zumutbar erscheint, bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren liegt. Es
bedarf in solchen Fällen aussergewöhnlicher Umstände, um die Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung noch zu rechtfertigen (sog. Reneja-Praxis, BGE 110 Ib
201). Bei der Limite von zwei Jahren handelt es sich allerdings nur um einen
Richtwert und nicht um eine feste Grenze (BGE 130 II 176 E. 4.1 S. 185 mit
Hinweisen). Es kann hier offen bleiben, wie die Grenze bei Anwendung des
neuen, ab 1. Januar 2007 geltenden Strafrechts zu ziehen sein wird.

3.3 Vorliegend überschreitet die unter altem Recht ausgefällte
Zuchthausstrafe von 3 ½ Jahren die erwähnte Limite deutlich. Andererseits
weilte der Beschwerdeführer bis zur Begehung des begangenen
Gewaltverbrechens, das er selber zwar nur als Notwehrexzess sehen will,
welches vom Strafgericht aber als versuchte vorsätzliche Tötung qualifiziert
wurde, erst relativ kurze Zeit in der Schweiz. Von einer langen
Anwesenheitsdauer im Sinne der genannten Rechtsprechung, die den
Beschwerdeführer in die Nähe von Ausländern der "zweiten Generation" rücken
würde, kann nicht entfernt gesprochen werden.

3.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, diese Rechtsprechung sei in seinem
Fall nicht anwendbar. Er hat zwar ausser diesem Tötungsversuch keine andern
Straftaten begangen. Aufgrund der Tatumstände und der im angefochtenen Urteil
zitierten Arzt- und Therapieberichte kann jedoch das Risiko der Begehung
neuer Gewalttaten nicht ausgeschlossen werden. Der Hinweis auf die möglichen
Auswirkungen der damals eingenommen Medikamente ist unbehelflich. Der
Strafrichter hat diesen Aspekt in seinem Urteil berücksichtigt. Es besteht
kein Anlass, das Verschulden heute anders zu gewichten.

3.5 Auch aus seinem Wohlverhalten während des Strafvollzuges bzw. seit seiner
bedingten Entlassung kann der Beschwerdeführer nichts für sich ableiten. Aus
dem Umstand, dass ein Straftäter bedingt aus dem Strafvollzug entlassen wird,
kann nicht bereits geschlossen werden, es gehe keine Gefahr mehr von ihm aus
(BGE 130 II 176 E. 4.3.3 S. 188 mit Hinweisen).

3.6 Damit liegen Verhältnisse vor, die nach der erwähnten Zweijahresregel
dafür sprechen, dass das öffentliche Interesse an der Fernhaltung eines
straffällig gewordenen Ausländers - ausserordentliche Umstände vorbehalten -
dem privaten Interesse des Ausländers und seiner Angehörigen, in der Schweiz
bleiben zu können, vorgeht.
Solche ausserordentlichen Umstände sind hier aber nicht gegeben. Beruflich
ist der Beschwerdeführer in der Schweiz wenig integriert. Es ist ihm nicht
gelungen, eine stabile, finanziell ausreichende Erwerbssituation zu schaffen.
Er musste zeitweise - auch schon vor seiner Inhaftierung - Fürsorgeleistungen
in Anspruch nehmen.

3.7 Die Nachteile, welche die Ausweisung für den Beschwerdeführer  und seine
in der Schweiz lebende Familie hat, sind gewichtig, was auch vom
Verwaltungsgericht gewürdigt wurde. Seine Ehefrau und seine drei Stiefkinder,
bei denen er seit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug wieder wohnt, leben
in der Schweiz. Die Ehe ist intakt. Das Verwaltungsgericht betrachtet die
Zumutbarkeit einer allfälligen Ausreise der Ehefrau als heikel, liess die
Frage aber offen. Immerhin lebte und arbeitete die Ehefrau früher selber in
Ägypten; sie war dort mit einem andern Ägypter verheiratet, mit dem sie drei
Kinder hatte. Zwei davon sind heute volljährig. Für die dreizehnjährige
dritte Tochter wäre eine Übersiedlung nach Ägypten auch nach Auffassung des
Verwaltungsgerichts schwierig.

3.8 Angesichts der Schwere des begangenen Delikts und des Verschuldens lässt
sich die Ausweisung des Beschwerdeführers aber selbst dann rechtfertigen,
wenn er dadurch von seiner Ehefrau und seinen Stiefkindern getrennt würde.
Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Vollzugshindernisse, welche die
kantonalen Rechtsmittelinstanzen bei ihrem Entscheid über die Ausweisung
bereits einbezogen und mitabgewogen haben, erscheinen aus den im
angefochtenen Urteil genannten Gründen, auf die verwiesen werden kann, nicht
stichhaltig. Hinzu kommt, dass die Ehefrau in der Hauptverhandlung vom 26. -
28. Mai 2003 ausführte, sie hätten früher selber erwogen, nach Ägypten
zurückzukehren (Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern
vom 20. Oktober 2003, S. 28), was Behauptungen über die heute angeblich
drohende Verfolgung durch die dortigen Behörden relativiert.
Der Beschwerdeführer selber ist in seinem Heimatland aufgewachsen, wo seine
Kinder aus erster Ehe, seine Eltern und Geschwister sowie andere Verwandte
leben, die er teilweise auch finanziell unterstützt. Der Beschwerdeführer hat
das Land erst als Erwachsener verlassen. Nachdem er bisher über zehn Jahre in
der Schweiz gelebt hat, wird ihn die Ausreise zwar hart treffen, sollten
seine Angehörigen ihm nicht nach Ägypten folgen. Das Verwaltungsgericht
durfte aber nach der vorgenommen umfassenden Interessenabwägung an der
Ausweisung festhalten, ohne Bundesrecht zu verletzen.

4.
4.1 Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen.

4.2 Dem Verfahrensausgang entsprechend würde der unterliegende
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es rechtfertigt sich
jedoch, seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu
entsprechen (Art. 64 BGG): Der Beschwerdeführer ist aktenkundig bedürftig;
seine Eingabe konnte zudem nicht als zum Vornherein aussichtslos bezeichnet
werden. Es sind demnach keine Kosten zu erheben, und der Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers ist für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen. Parteientschädigungen sind
nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Fürsprecher Markus Kobel, Burgdorf, wird für das bundesgerichtliche
Verfahren als unentgeltlicher Rechtsbeistand eingesetzt und aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Polizei- und Militärdirektion
des Kantons Bern, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern
(Verwaltungsrechtliche Abteilung) und dem Bundesamt für Migration schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 22. November 2007

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Merkli Klopfenstein