Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.225/2007
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2C_225/2007 /zga

Urteil vom 3. Dezember 2007
II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Klopfenstein.

A. ________,
B.________,
Beschwerdeführer,
beide vertreten durch Herr Klausfranz Rüst-Hehli,

gegen

Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen, Oberer Graben 32, 9001
St. Gallen,
Beschwerdegegner,
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Spisergasse 41, 9001 St. Gallen.

Familiennachzug,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 11. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Die türkische Staatsangehörige A.________ (geb. 1985) reiste 1995 zu ihrer
Mutter in die Schweiz ein und wurde in deren Flüchtlingsstatus mit
einbezogen. Am 1. September 1995 erhielt sie eine Aufenthaltsbewilligung und
am 3. Juni 1998 die Niederlassungsbewilligung. Am 24. Mai 2005 heiratete sie
den abgewiesenen Asylbewerber B.________ (geb. 1981, ebenfalls türkischer
Staatsangehöriger). Ein erstes Familiennachzugsgesuch für ihren Ehemann blieb
im Jahre 2005 erfolglos.

Am 20. Februar 2006 kam die gemeinsame Tochter des Paares, C.________, zur
Welt. Das Kind erhielt die Niederlassungsbewilligung.

B.
Am 17. April 2006 stellte A.________ erneut ein Familiennachzugsgesuch für
ihren Ehemann. Mit Verfügung vom 29. Juni 2006 wies das Ausländeramt des
Kantons St. Gallen dieses Gesuch ab, im Wesentlichen mit der Begründung, die
Gesuchstellerin verfüge über kein monatliches Einkommen. Sie beziehe derzeit
Mutterschaftsbeiträge in der Höhe von Fr. 1'248.20 pro Monat und werde im
Übrigen vom Sozialamt der Stadt St. Gallen unterstützt. Damit bestehe die
Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit, so dass der
Familiennachzug nicht bewilligt werden könne.
Eine hiegegen erhobene Beschwerde wies das Justiz- und Polizeidepartement des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Dezember 2006 ab. Die
Departementsvorsteherin erwog im Wesentlichen, die Rekurrenten verfügten
beide nicht über eine Arbeitsstelle. Die Ehefrau habe im Rahmen des
Rekursverfahrens keine Angaben gemacht, wie sie nach dem Auslaufen der
Mutterschaftsbeiträge ihren Lebensunterhalt zu finanzieren gedenke. Auch der
Ehemann lebe von der Sozialhilfe, obschon ihm ein Stellenantritt bewilligt
worden sei und er diese Stelle nicht angetreten habe. Damit bestehe die
konkrete Gefahr einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit im
Falle der Bewilligung des Nachzugs. Bei dessen Verweigerung seien die
familiären Nachteile zwar erheblich, doch hätten die Eheleute im Zeitpunkt
der Eheschliessung aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht einfach davon
ausgehen dürfen, ihre Ehe in der Schweiz leben zu können. Die
fremdenpolizeilichen Interessen an der Verweigerung des Familiennachzugs
würden überwiegen, selbst wenn die Familie dadurch getrennt werde.
Die gegen diesen Departementsentscheid erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen mit Urteil vom 11. April 2007 ab,
soweit es darauf eintrat. Den begründeten Entscheid versandte es am 17. April
2007.

C.
Mit gemeinsamer Eingabe vom 18. Mai 2007 führen A.________ und B.________
beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
den Anträgen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom
11. April 2007 aufzuheben und das Ausländeramt aufzufordern, dem Ehemann eine
Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Eventuell sei die Streitsache "zur
sachverhaltlichen Ergänzung und Neubeurteilung" an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Gleichzeitig wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.

Das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen beantragt, die
Beschwerde abzuweisen. Denselben Antrag stellen das Verwaltungsgericht des
Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Migration.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auf dem Gebiet des Ausländerrechts
unzulässig gegen Entscheide betreffend Bewilligungen, auf die weder das
Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt.

1.2 Gemäss Art. 17 Abs. 2 ANAG hat der ausländische Ehegatte eines
niedergelassenen Ausländers Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung, solange die Ehegatten zusammen wohnen. Da der Ehemann
B.________ mit seiner in der Schweiz niederlassungsberechtigten Ehefrau
zusammen wohnt, hat er grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung der
Aufenthaltsbewilligung. Ein analoger Anspruch besteht zudem aufgrund von Art.
8 EMRK: Diese Konventionsbestimmung garantiert den Schutz des (Privat- und)
Familienlebens, wenn nahe Angehörige - hier die Ehefrau - über ein
gefestigtes Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügen und die familiäre
Beziehung tatsächlich gelebt wird und intakt ist (statt vieler: BGE 130 II
281 E. 3.1 S. 285 f.). Dass es sich vorliegend um eine gelebte Ehe handelt,
wird von keiner Seite in Frage gestellt. Auf die  Beschwerde ist daher
einzutreten.

1.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz
festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn,
dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 bzw. Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue
Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst
der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Der erst
im bundesgerichtlichen Verfahren beigebrachte Arbeitsvertrag vom 22. Mai 2007
zwischen der Genossenschaft X.________ und A.________ ist insoweit
unbeachtlich.

2.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 119 Ib 81 E. 2d S. 87; 122
II 1 E. 3c S. 8 f.) darf der Familiennachzug verweigert werden, wenn der
Gesuchsteller umgehend wieder ausgewiesen werden dürfte, d.h. wenn ein
Ausweisungsgrund im Sinne von Art. 10 Abs. 1 ANAG besteht wie beispielsweise
Fürsorgebedürftigkeit nach Art. 10 Abs. 1 lit. d ANAG. Voraussetzung für eine
Verweigerung des Nachzugs ist in diesem Fall, dass konkret die Gefahr einer
fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit besteht; blosse
finanzielle Bedenken genügen nicht (BGE 125 II 333 E. 3c mit Hinweisen).

Als Hindernis für den Familiennachzug des Ehemannes wird seitens der
kantonalen Behörden vorliegend eine derartige, konkret drohende
Fürsorgeabhängigkeit geltend gemacht.

3.
3.1 Die Beschwerdeführer rügen, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt
qualifiziert unrichtig festgestellt. Seit der Geburt des Kindes bestehe ganz
offensichtlich eine enge Beziehung zwischen diesem Kind und dem Vater, was
das Gericht in "keiner noch so minimalen Weise" zur Abwägung bringe. Im
Übrigen sei es nicht so, dass der Beschwerdeführer eine bewilligte Stelle
nicht angetreten habe, sondern er habe einmal eine Stelle im Kanton Zürich
verloren. Dieser Umstand sei bei einer Rückweisung der Streitsache
abzuklären; ebenso würde die sich durch den Arbeitsvertrag mit der
Genossenschaft X.________ ergebende Veränderung der Einkommens- und
Vermögensverhältnisse "ungesäumt mitgeteilt".

3.2
3.2.1 Im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils, auf den es vorliegend ankommt
(vgl. E. 1.3), war die nachzugsberechtigte Ehefrau unbestrittenermassen
fürsorgeabhängig und nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt (und den ihres
Kindes) aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Sie bezog im Jahre 2004 ein
IV-Taggeld, bevor sie - erfolglos (Nichteinhaltung eines Beratungstermins) -
um Arbeitslosenentschädigung nachsuchte. Weder aus dem angefochtenen Urteil
noch aus den Akten geht indessen ausreichend hervor, was es mit dieser
Situation für eine Bewandtnis hatte und wieso die bisherigen
Stellenbewerbungen der Ehefrau offenbar alle erfolglos geblieben waren. Diese
Umstände besitzen bei der Beurteilung, ob der Familie konkret die Gefahr
einer fortgesetzten und erheblichen Fürsorgeabhängigkeit droht, hohes
Gewicht.

3.2.2 Entscheidend ist alsdann, ob der am 24. Mai 2005 geehelichte Landsmann,
der im Jahre 2004 als Asylgesuchsteller in die Schweiz gekommen war und von
dem das am 20. Februar 2006 geborene Kind stammt (vgl. vorne "A."), durch
eigenen Erwerb für den Unterhalt der Familie aufkommen kann oder ob sich das
Risiko der Belastung des Gemeinwesens durch Fürsorgeleistungen mit der
Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an diesen noch vergrössert. Zwar hat
die Ehefrau als Niedergelassene grundsätzlich einen Anspruch auf Nachzug
ihres Ehemannes, sofern kein Ausweisungsgrund vorliegt, der die Verweigerung
des Nachzuges als verhältnismässig erscheinen lässt (vorne E. 2). Die jetzige
Fürsorgeabhängigkeit darf durch den Nachzug des Ehemannes aber jedenfalls
nicht verschärft werden.

3.2.3 B.________ hat keine Berufsausbildung und spricht nicht Deutsch. Es
ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, recht ungewiss, ob
er in absehbarer Zeit eine Stelle findet, durch die er zum Lebensunterhalt
der Familie massgeblich beitragen kann. Eine blosse Teilzeitstelle, wie sie
ihm angeboten worden war (vgl. S. 9 des angefochtenen Entscheides), bildet
keine ausreichende Grundlage. Andererseits erlauben die vorhandenen Akten
noch nicht den Schluss, dass es ihm zum Vornherein am erforderlichen
Arbeitswillen fehle. Die Aktennotiz, worauf das Verwaltungsgericht sich
stützt (wonach der Ehemann eine ihm während des Asylverfahrens bewilligte
Arbeitsstelle "nicht angetreten" habe), reicht als Beleg hiefür noch nicht
aus; allerdings ist auch die gegenteilige Darstellung in der
Beschwerdeschrift, wonach er die Stelle "verloren" habe, wenig
aussagekräftig. Letztlich kann die Frage seines Arbeitswillens erst aufgrund
seines tatsächlichen Verhaltens nach Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung
beantwortet werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Ehemann, welcher
offenbar in der Türkei als "Barmann" tätig gewesen war, als Gehilfe bzw.
Angestellter eines Restaurationsbetriebes ein Einkommen erzielen könnte,
durch welches die jetzige Fürsorgelast für das Gemeinwesen zumindest
verringert wird. Bei einer Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung für den
Ehemann würde sich an der Fürsorgeabhängigkeit von Mutter und Kind
voraussichtlich wenig ändern; im anderen Falle dagegen besteht zumindest die
Möglichkeit, dass der Ehemann zur Verringerung der Fürsorgeleistungen
beitragen kann oder solche überhaupt wegfallen. Allerdings lässt sich auch
das Risiko, dass das Ehepaar bei einem Verbleib des Ehemannes weitere Kinder
zeugt, ohne selber für ein entsprechendes Einkommen zu sorgen - womit die
Fürsorgelast noch vergrössert wird -, nicht von der Hand weisen.

3.3 Eine vorbehaltlose Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung erweist sich
nach dem heutigen Stand der Dinge im Lichte von Art. 8 EMRK aber als
unverhältnismässig, zumal der Beschwerdeführerin, die bereits im Kindesalter
in die Schweiz gekommen war und in den Flüchtlingsstatus ihrer Mutter
einbezogen wurde, eine Führung des Ehelebens in der Türkei schwerlich
zugemutet werden kann. Es erscheint vielmehr geboten, dass die zuständige
Behörde die anbegehrte Aufenthaltsbewilligung - im Sinne einer Probezeit  -
für die Dauer eines Jahres erteilt, um dem Ehemann Gelegenheit zu geben,
durch eigene Arbeit zum Unterhalt der Familie massgeblich beizutragen. Sollte
ihm dies, sei es mangels Arbeitswillens oder mangels geeigneter Stellen,
nicht gelingen, darf der Kanton nach Massgabe der damaligen Sach- und
Rechtslage eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ablehnen und müssen
die Betroffenen die damit verbundenen Konsequenzen in Kauf nehmen.

4.
Die Beschwerde ist in diesem Sinne teilweise gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Sache ist zu neuem Entscheid im Sinne
der Erwägungen an das Ausländeramt des Kantons St. Gallen zurückzuweisen
(Art. 107 Abs. 2 BGG). Sache des Verwaltungsgerichts wird es sein, über die
Kosten des kantonalen Rechtsmittelverfahrens neu zu entscheiden.

Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist als gegenstandslos
geworden abzuschreiben. Ein Anlass, den nicht anwaltlich verbeiständeten,
durch eine Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende vertretenen
Beschwerdeführern eine Parteientschädigung zuzusprechen, besteht vorliegend
nicht (Art. 68 Abs. 2 BGG in Verbindung mit Art. 9 des Reglements vom 31.
März 2006 über die Parteientschädigung und für die amtliche Vertretung im
Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. April 2007 aufgehoben. Die
Sache wird zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an das Ausländeramt des
Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos geworden
abgeschrieben.

5.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, dem Ausländeramt, dem Justiz- und
Polizeidepartement und dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sowie
dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Dezember 2007

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: