Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.434/2007
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1C_434/2007 /daa

Urteil vom 29. August 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Steinmann.

Parteien
X.________, c/o Rechtsanwalt Georges Reymond,
Beschwerdeführer,

gegen

Departement für Justiz, Sicherheit und Gesundheit Graubünden, Hofgraben 5, 7001
Chur.

Gegenstand
Wegweisung, Beschlagna
hme,

Beschwerde gegen das Urteil vom 19. Oktober 2007
des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden,
1. Kammer.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Dezember 2005 wurde der Postenchef der Kantonspolizei Graubünden in
Scuol von anonymer Seite darüber informiert, dass radikale Exponenten einer
Gruppierung am nachfolgenden Tag in Scuol eine Demonstration gegen einen hier
in den Ferien weilenden Bundesrichter plane. Nachforschungen (u.a. beim
Bundessicherheitsdienst) ergaben, dass es sich wohl um Mitglieder des "Appel au
peuple" handle und die Aktion möglicherweise gegen einen Bundesrichter
gerichtet sei, der diese Tage tatsächlich in Scuol im Urlaub war.

Die Kantonspolizei bot auf den 31. Dezember 2005 Polizeibeamte auf. Diese
hielten die erwartete Gruppe am Bahnhof Scuol an. Es handelte sich um
X.________ und zwei weitere Personen. Diese wurden auf den Polizeiposten
geführt. Die kurze Befragung von rund zwanzig Minuten ergab, dass die
Angehaltenen in Scuol bzw. in der Ferienanlage Tulai Flugblätter über einen
Bundesrichter verteilen wollten, ohne diesen anderweitig zu kontaktieren. Die
Flugblätter wurden sichergestellt.

Die Angehaltenen wurden nach rund zweieinhalb Stunden zum Bahnhof geführt, wo
sie den Zug nach Chur bestiegen; die Flugblätter blieben vorerst
sichergestellt. Zwei Wochen nach diesem Vorfall soll X.________ entsprechende
Flugblätter in Scuol ohne polizeiliches Einschreiten verteilt haben. Die
sichergestellten Flugblätter wurden am 25. Januar 2006 zurückerstattet.

B.
X.________ gelangte am 1. Januar 2006 an das Justiz- Polizei- und
Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden (Departement) und erhob Einsprache
gegen die Wegweisung aus Scuol und die Beschlagnahme der Flugblätter. Dieses
Verwaltungsverfahren wurde wegen einer gleichentags gegen die Polizeibeamten
erhobenen Strafanzeige sistiert. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden
stellte die Strafuntersuchung am 15. März 2006 ein. Die dagegen erhobene
Beschwerde wurde von der Beschwerdekammer des Kantonsgerichts Graubünden am 6.
Juli 2006 abgewiesen. Das Bundesgericht trat auf eine dagegen gerichtete
staatsrechtliche Beschwerde von X.________ am 26. März 2007 nicht ein
(Verfahren 1P.106/2007).

In der Folge wies das Departement die Beschwerde von X.________ am 6. August
2007 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies die dagegen
erhobene Beschwerde am 19. Oktober 2007 ab. Es führte im Wesentlichen aus, die
getroffenen Massnahmen könnten sich auf das kantonale Polizeigesetz stützen und
seien im Lichte der damaligen konkreten Umstände verhältnismässig gewesen.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 1. Dezember 2007 verlangt X.________, es
seien das Verwaltungsgerichtsurteil aufzuheben, die Sache an ein unabhängiges
und unparteiisches Gericht zurückzuweisen und die zu edierenden Beweismittel im
bundesgerichtlichen Dossier aufzubewahren. Auf die Begründung im Einzelnen ist
in den nachfolgenden Erwägungen einzugehen. Schliesslich hat der
Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.

Das Departement und das Verwaltungsgericht haben unter Verweis auf die
ergangenen Entscheide auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Mit dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes am 1. Januar 2007 fällt im
vorliegenden Fall ausschliesslich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten gemäss Art. 82 BGG in Betracht. Die als staatsrechtliche
Beschwerde bezeichnete Eingabe ist als solche zu behandeln.

Beschwerdegegenstand bildet einzig das angefochtene Urteil des
Verwaltungsgerichts. Auf die Kritik am Urteil des Kantonsgerichts vom 6. Juli
2006 ist von vornherein nicht einzugehen.

Nach Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG ist in der Beschwerde darzulegen,
inwiefern ein angefochtenes Urteil Recht verletzt; die Verletzung von
Grundrechten und von kantonalem Recht wird nur geprüft, wenn eine solche Rüge
vorgebracht und begründet wird. Es ist im entsprechenden Sachzusammenhang zu
beurteilen, ob die Beschwerdeschrift diesen Anforderungen genügt.

Die Urkunden und Aktenstücke, auf die sich eine Partei beruft, sind nach Art.
42 Abs. 3 BGG der Beschwerde beizulegen. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts,
von sich aus nach solchen Dokumenten zu forschen. Auf das Begehren, das
Bundesgericht habe Beweismittel aus dem Internet zu edieren, ist nicht
einzutreten.

Nicht einzutreten ist ferner auf das Begehren, das Bundesgericht habe Akten,
welche andern Amtsstellen gehören, selber bei sich aufzubewahren.

Die umstrittenen Begebenheiten liegen weit zurück. Angesichts der konkreten
Umstände rechtfertigt es sich, im vorliegenden Fall vom Erfordernis eines
aktuellen Interesses gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG abzusehen.

2.
Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht unter Hinweis auf Art. 6
Ziff. 1 EMRK Befangenheit vor. Ohne weitere Hinweise erschöpft sich die
Begründung dieses Vorwurfs darin, dass das Gericht "zu Lügen greifen muss",
sich einer Schutzbehauptung bediene und in Willkür verfallen sei. Auf die Rüge
der Voreingenommenheit ist mangels hinreichender Begründung nicht einzutreten.

Mangels jeglicher Begründung nicht einzutreten ist ferner auf die Ausführungen
zu den dem Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens auferlegten Kosten.

3.
Dem Beschwerdeführer und seinen Begleitpersonen wurde vorerst im Sinne einer
Wegweisung untersagt, sich in Scuol aufzuhalten; im Anschluss an die Befragung
wurde diese Verfügung eingeschränkt und den Betroffenen im Sinne eines
Rayonverbotes lediglich noch untersagt, sich in die Ferienanlage Tulaj zu
begeben und dort zu stören. Darüber hinaus wurden die Flugblätter vorübergehend
sichergestellt.

3.1 Diese Massnahmen sind geeignet, einerseits die Bewegungsfreiheit im Sinne
von Art. 10 Abs. 2 BV, andererseits die Meinungs- und Informationsfreiheit
gemäss Art. 16 BV und Art. 10 EMRK zu beeinträchtigen. Einschränkungen von
Grundrechten halten vor der Verfassung stand, soweit sie den Anforderungen von
Art. 36 BV genügen.
Der Beschwerdeführer nimmt keinen Bezug auf die genannte Wegweisungs- bzw.
Fernhalteverfügung und stellt sie nicht in Frage. Auf die Wegweisungs- bzw.
Fernhalteverfügung ist daher nicht näher einzugehen.

Der Beschwerdeführer beschränkt seine Beschwerde auf die Beschlagnahme der
Flugblätter. Es ist daher ausschliesslich zu prüfen, ob diese Sicherstellung
vor der Verfassung standhält.

3.2 Das Departement und das Verwaltungsgericht haben ausgeführt, dass sich die
Sicherstellung der Flugblätter auf Art. 21 Abs. 1 lit. a des Polizeigesetzes
(PolG, Gesetzessammlung 613.000) stützen könne. Im vorliegenden Verfahren
stellt der Beschwerdeführer das Vorliegen einer hinreichenden gesetzlichen
Grundlage für die Massnahme nicht in Frage. Auf die Frage der hinreichenden
gesetzlichen Grundlage ist daher nicht näher einzugehen.

3.3 Sinngemäss macht der Beschwerdeführer geltend, die Beschlagnahme der
Flugblätter sei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nicht
erforderlich, aus der Sicht des öffentlichen Interesses nicht notwendig und
damit unverhältnismässig gewesen. Er bestreitet, dass ein dringender Verdacht
der Begehung einer Straftat bestanden habe, da eine allfällige Ehrverletzung
kein Offizialdelikt darstelle.

In sachverhaltlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Flugblätter am 31.
Dezember 2005 beschlagnahmt wurden. Gleichwohl konnte der Beschwerdeführer
gleiche Flugblätter zwei Wochen später ohne polizeiliches Einschreiten in Scuol
verteilen. Die Flugblätter wurden dem Beschwerdeführer schliesslich am 25.
Januar 2006 zurückerstattet.

Für die Prüfung der Verhältnismässigkeit der Beschlagnahme ist von den
Verhältnissen am 31. Dezember 2005, vor dem Hintergrund der damals bekannten
Nachrichtenlage sowie der Gesamtheit der Umstände auszugehen.

3.4 Die Garantie der freien Meinungsäusserung nach Art. 16 BV und Art. 10 EMRK
verleiht dem Einzelnen das Recht, der Öffentlichkeit und Privatpersonen
Meinungen und Informationen ohne Behinderung durch die Behörden zukommen zu
lassen. Von der Meinungsfreiheit erfasst ist auch die Kritik an der Justiz und
an Justizbeamten. Auch besteht allgemein ein erhebliches öffentliches Interesse
daran, Missstände in der Justiz bekanntzumachen. Gleichwohl verleiht die
Meinungsäusserungsfreiheit kein Recht zu Straftaten. Vielmehr dürfen die
Polizeigüter im Allgemeinen sowie der gute Ruf von Privatpersonen und das
Ansehen der Justiz vor entsprechenden Verunglimpfungen geschützt werden (vgl.
Kley/Tophinke, St. Galler BV-Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 16 N. 11 und 13).
So berechtigen die BV- und EMRK-Garantien nicht dazu, unbewiesene
Verdächtigungen oder masslose und unqualifizierte Vorwürfe gegen die
Justizorgane zu verbreiten (Urteil 2P.101/1998 vom 15. Dezember 1998, E. 5 d/cc
[ZBl 101/2000 S. 307]).
Aufgrund der Sachlage am 31. Dezember 2005 durfte die Polizei davon ausgehen,
dass das Flugblatt den Tatbestand der Ehrverletzung erfüllen könnte, ohne
hierfür eine abschliessende strafrechtliche Beurteilung vornehmen zu müssen.
Auch der Tatbestand einer möglichen Nötigung war nicht auszuschliessen.

Bei dieser Sachlage sprachen im damaligen Zeitpunkt erhebliche öffentliche
Interessen für die Sicherstellung der Flugblätter. Die Massnahme stellte einen
nicht erheblichen Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit dar. Der
Beschwerdeführer konnte die Flugblätter ohne polizeiliche Intervention zwei
Wochen später in Scuol verteilen. Er macht nicht geltend und es ist auch nicht
ersichtlich, dass mit dem späteren Verteilen der Flugblätter die beabsichtigte
Appellwirkung beeinträchtigt worden wäre (vgl. BGE 127 I 164 E. 5c S. 179).
Darüber hinaus ist allgemein bekannt, dass die Gruppierung "Appel au peuple" in
der damaligen Zeit in unterschiedlichsten Formen Gelegenheiten fand und
tatsächlich wahrnahm, um ihre Kritik an der Justiz im Allgemeinen und der
Rechtsprechung des Bundesgerichts im Besondern publik zu machen. Schliesslich
darf berücksichtigt werden, dass die Beschlagnahme der Flugblätter nur eine
kurze Dauer anhielt und der Beschwerdeführer diese unbestrittenermassen am 25.
Januar 2006 zurückerstattet erhielt.

Gesamthaft gesehen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer seine Kritik am
betroffenen Bundesrichter und an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
tatsächlich äussern konnte und der mit der Sicherstellung der Flugblätter
verbundene Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit von geringer Tragweite
war. Damit erweist sich die provisorische Beschlagnahme der Flugblätter aus der
damaligen Optik als verhältnismässig. Bei dieser Sachlage ist die Beschwerde in
diesem Punkte unbegründet.

4.
Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Es rechtfertigt sich, keine Gerichtskosten zu erheben. Damit ist das Gesuch um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem Departement für Justiz,
Sicherheit und Gesundheit und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 1.
Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. August 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Steinmann