Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.425/2007
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1C_425/2007

Urteil vom 20. Februar 2008

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Massimo
Aliotta,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, Spielhof 1, Postfach 835, 8750 Glarus.

Opferhilfe, Sistierung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 9. November 2007 des Verwaltungsgerichts
des Kantons Glarus.
Sachverhalt:

A.
X. ________ erhob am 24. November 2005 Strafanzeige gegen mehrere Personen
sowie gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung durch Asbestexpositionen,
begangen an ihrem Vater, Y.________, sowie an einer unbekannten Anzahl
weiterer Personen. Das Verhöramt des Kantons Glarus stellte die
Strafuntersuchung am 9. Oktober 2006 ein. Eine dagegen erhobene Beschwerde
wies die Strafkammer des Kantonsgerichts Glarus mit Beschluss vom 12.
September 2007 ab, soweit es darauf eintrat. X.________ erhob gegen diesen
Beschluss am 13. Oktober 2007 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen.

Mit Entscheid vom 15. August 2007 gewährte das Sozialamt des Kantons Glarus
X.________ bis zum Erlass des Beschwerdeentscheids des Kantonsgerichts
gestützt auf Art. 3 Abs. 4 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von
Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) weitere Hilfe für die Anwalts-
und Verfahrenskosten in ungekürzter Höhe unter dem Vorbehalt, dass die
Gesuchstellerin ihre finanziellen Verhältnisse zu belegen vermag.

Am 20. September 2007 ersuchte X.________ um Kostengutsprache für die
Anwalts- und Verfahrenskosten im Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht. Mit
Verfügung vom 5. Oktober 2007 wies das Sozialamt das Gesuch ab. Dagegen erhob
die Gesuchstellerin am 6. November 2007 Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons St. Gallen. Mit Verfügung (in Form eines Briefes) vom 9. November
2007 sistierte das Verwaltungsgericht das Beschwerdeverfahren gegen den
abschlägigen Entscheid des Sozialamtes bis zum Vorliegen des
bundesgerichtlichen Entscheids über das von X.________ gestellte Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren der Beschwerde in Strafsachen.
Gemäss Rechtsmittelbelehrung ist gegen die verwaltungsgerichtliche Verfügung
kein Rechtsmittel gegeben.

B.
X.________ hat gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts beim Bundesgericht
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Sie beantragt
die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie die Anweisung des
Verwaltungsgerichts, ihre Beschwerde gutzuheissen, eventuell die Anweisung
des Verwaltungsgerichts, ihre Beschwerde zu behandeln. Ferner ersucht die
Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren vor
Bundesgericht.

C.
Das Verwaltungsgericht beantragt Beschwerdeabweisung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die angefochtene Verfügung des Verwaltungsgerichts betrifft Leistungen
aufgrund des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von
Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5), d.h. eine öffentlich-rechtliche
Angelegenheit im Sinn von Art. 82 lit. a BGG. Die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist damit grundsätzlich gegeben.

1.2 Bei der angefochtenen Verfügung, mit welcher das kantonale
Beschwerdeverfahren sistiert wird, handelt es sich um einen prozessualen
Zwischenentscheid. Dieser kann gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG mit Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten angefochten werden, wenn er einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn bei
einer Gutheissung der Beschwerde ein bedeutender Aufwand an Zeit oder Kosten
für ein weitläufiges Beweisverfahren erspart würde (lit. b). Vorliegend steht
die Anfechtung gestützt auf Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zur Diskussion.

Gemäss der bisherigen Praxis des Bundesgerichts zur Anfechtung eines
Zwischenentscheids bedurfte es bei einer staatsrechtlichen Beschwerde eines
Nachteils rechtlicher Natur, der auch durch einen späteren günstigen
Endentscheid nicht gänzlich behoben werden konnte, während im Rahmen der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde bereits ein Nachteil bloss tatsächlicher Art
ausreichte. Noch nicht entschieden ist, welcher Massstab bei der Anwendung
von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zur Anwendung kommt (vgl. zur Problematik Heinz
Aemisegger, Der Beschwerdegang in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, in:
Bernhard Ehrenzeller/Rainer J. Schweizer (Hrsg.), Die Reorganisation der
Bundesrechtspflege - Neuerungen und Auswirkungen in der Praxis, St. Gallen
2006, S. 125 f.).

Im vorliegenden Fall kann diese Frage offenbleiben, da die
Beschwerdeführerin, wie nachfolgend aufgezeigt wird, durch den
Sistierungsentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher
Natur erleiden könnte und daher die strengeren Voraussetzungen gemäss der
Praxis zur staatsrechtlichen Beschwerde erfüllt sind.

1.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe in dem Sinne Anspruch auf
ein rasches Verfahren, dass ihr auf Art. 3 Abs. 4 OHG gestütztes Gesuch um
Kostengutsprache für die Anwalts- und Verfahrenskosten unabhängig vom
Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren beurteilt
werde. In diesem Zusammenhang beruft sie sich unter anderem auf das
Rechtsverzögerungsverbot (Art. 29 Abs. 1 BV). Diese Verfassungsbestimmung
garantiert den Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist. Die
angefochtene Verfügung des Verwaltungsgerichts über die Sistierung des
opferhilferechtlichen Verfahrens könnte demnach für die Beschwerdeführerin
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken, der durch einen
günstigen Endentscheid in der Sache nicht behoben würde und somit rechtlicher
Natur wäre. Die Anfechtung der Verfügung zur Beurteilung der Rechtmässigkeit
der Verfahrenssistierung muss demnach zugelassen werden.

Offenbleiben kann hier die Frage, ob die Beschwerdeführerin gestützt auf Art.
16 Abs. 1 OHG, welche Vorschrift im vierten Abschnitt des OHG über die
Entschädigung und Genugtuung (Art. 11 ff.) eingereiht ist und sich unter dem
Gesichtspunkt der systematischen Gesetzesauslegung nicht direkt auf Art. 3
Abs. 4 OHG bezieht, ein rasches Verfahren beanspruchen könnte.

1.4 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen
Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.

2.
2.1 Das Verwaltungsgericht vertritt den Standpunkt, es hänge vom Entscheid
über die unentgeltliche Rechtspflege im Beschwerdeverfahren in Strafsachen
ab, ob die subsidiäre Kostengutsprache nach Art. 3 Abs. 4 OHG überhaupt zum
Tragen komme. Wenn das Bundesgericht das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege gutheisse, entfalle der Entscheid über die Kostengutsprache.
Gegenteils müsse über die Kostengutsprache befunden werden, wobei sich das
Verwaltungsgericht auf die vom Bundesgericht vorgenommene Einschätzung der
Prozesschancen abstützen könne. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen vor,
sie habe gestützt auf Art. 3 Abs. 4 OHG einen vom bundesgerichtlichen
Entscheid über die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege unabhängigen
Anspruch auf Prüfung ihres Gesuchs um Kostengutsprache. Indem das
Verwaltungsgericht diese Prüfung nicht durchgeführt habe, habe es Art. 3 Abs.
4 OHG sowie das Rechtsverzögerungsverbot (Art. 29 Abs. 1 BV) verletzt.

2.2 Einer Verfahrenssistierung wohnt das Risiko inne, das Verfahren unnötig
zu verzögern. Deshalb ist die Sistierung mit Blick auf den in Art. 29 Abs. 1
BV verankerten Anspruch auf Beurteilung der Sache innert angemessener Frist
nur ausnahmsweise, wenn sie sich auf sachliche Gründe stützen lässt,
zulässig. Nach der Rechtsprechung werden etwa die Vornahme zweckmässiger
zusätzlicher Abklärungen oder die Hängigkeit eines anderen Verfahrens, dessen
Ausgang von präjudizieller Bedeutung ist, als zureichende Gründe für eine
Verfahrenssistierung anerkannt (BGE 127 V 228 E. 2a S. 231;
Bundesgerichtsurteil vom 13. März 1981 E. 2a, in: ZBl 82/1981 S. 554).

Diese Anforderungen gelten auch bei Entschädigungsverfahren nach Art. 11 ff.
OHG. Zwar will das OHG verhindern, dass das Opfer zur Durchsetzung seiner
Ansprüche einen Zivilprozess mit Kosten- und Beweislastrisiken gegen den
Straftäter anstrengen muss. Zu diesem Zweck räumt es ihm den
Entschädigungsanspruch gemäss Art. 11 ff. OHG gegenüber dem Staat ein, der in
einem raschen, einfachen und kostenlosen Verfahren durchgesetzt werden kann.
Dieser Anspruch ist nur insofern subsidiär, als sich das Opfer andere
Leistungen, die es als Schadenersatz erhalten hat, anrechnen lassen muss, und
Ansprüche, die ihm aufgrund der Straftat zustehen, im Umfang ihrer Leistung
auf den Staat übergehen (Art. 14 Abs. 1 und 2 OHG). Nach der Rechtsprechung
widerspricht es daher Sinn und Zweck des OHG, das Entschädigungsverfahren
nach Art. 11 ff. OHG zu sistieren, um vom Opfer zu verlangen, zunächst selber
einen zivilen Schadenersatzprozess zu führen. Die Pflicht, das Verfahren
einfach und rasch durchzuführen, schliesst eine Verfahrenssistierung jedoch
dann nicht aus, wenn ein anderes Verfahren von präjudizieller Bedeutung
hängig ist und das Verfahren nach Art. 11 ff. OHG nicht rascher und einfacher
zum Ziele führen würde (BGE 123 II 1 E. 2b S. 3; 122 II 211 E. 3e S. 217).

2.3 Vorliegend steht die Sistierung eines Beschwerdeverfahrens gegen die
Abweisung eines Gesuchs um opferhilferechtliche Kostengutsprache für Anwalts-
und Verfahrenskosten bis zum Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege
im Strafverfahren zur Diskussion. Der Entscheid über die unentgeltliche
Rechtspflege ist in dem Sinne präjudiziell, als das Strafgericht, hier die
Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts, die Prozesschancen des Opfers
der im Strafverfahren gestellten Rechtsbegehren beurteilt. Die
Erfolgsaussichten im Strafprozess sind für die Bewilligung der
Kostengutsprache nach Art. 3 Abs. 4 OHG ebenfalls massgebend, da
aussichtslose Prozesse weder unter dem Titel des Anspruchs auf unentgeltliche
Rechtspflege noch gestützt auf Art. 3 Abs. 4 OHG mit öffentlichen Geldern
finanziert werden sollen (vgl. das Bundesgerichtsurteil 1A.165/2001 vom 4.
März 2002 E. 5). Als Sachgericht ist das Strafgericht zur Beurteilung der
Prozesschancen des Opfers kompetenter als die Opferhilfestelle resp. das
Verwaltungsgericht. Diese können sich auf den Entscheid des Strafgerichts
abstützen.

Zwar trifft zu, dass der Entscheid über die Kostengutsprache allenfalls
rascher gefällt werden könnte als derjenige über das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege, sofern das Strafgericht den letzteren zusammen mit dem
Sachurteil eröffnet. Dennoch ist die Sistierung des
Kostengutspracheverfahrens unter dem Blickwinkel sowohl des OHG als auch des
Rechtsverzögerungsverbots unbedenklich, da dem Opfer keine mit dem OHG nicht
zu vereinbarenden, risikoreichen Prozessschritte zugemutet werden und nach
einer allfälligen Ablehnung der unentgeltlichen Rechtspflege über das
Opferhilfegesuch unverzüglich entschieden werden kann.

Aufgrund der dargestellten Verfahrensumstände liegt weder eine Verletzung des
OHG noch eine solche von Art. 29 Abs. 1 BV vor, wenn das Verwaltungsgericht
das Beschwerdeverfahren betreffend die Kostengutsprache über Anwalts- und
Verfahrenskosten bis zum Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege
sistiert.

3.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist dementsprechend
abzuweisen. Das Verfahren vor Bundesgericht ist kostenlos (Art. 16 Abs. 1
OHG; BGE 122 II 211 E. 4b S. 218 f.). Die Beschwerdeführerin hat ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtsverbeiständung im vorliegenden Verfahren gestellt.
Wegen Aussichtslosigkeit der in diesem Verfahren gestellten Begehren sind die
Voraussetzungen hierzu nicht erfüllt (vgl. Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Daran
ändert selbst die falsche Rechtsmittelbelehrung in der angefochtenen
Verfügung nichts. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ist daher
ebenfalls abzuweisen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Glarus schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Februar 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:

Aemisegger Schoder