Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.169/2007
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1C_169/2007

Urteil vom 6. März 2008

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Massimo Aliotta,

gegen

Opferberatungsstelle des Kantons Glarus, Winkelstrasse 22, 8750 Glarus.

Soforthilfe und weitere Hilfe nach Opferhilfegesetz,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 23. Mai 2007
des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus, I. Kammer.
Sachverhalt:

A.
X. ________, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, stellte am 26. Juli 2006
bei der Opferberatungsstelle des Kantons Glarus gestützt auf das Bundesgesetz
vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz,
OHG; SR 312.5) ein Gesuch um anwaltliche Soforthilfe und um weitere
anwaltliche Hilfe. Sein Gesuch begründete er damit, dass sein Vater,
Y.________, der von 1962 bis 1987 bei der Z.________ AG in A.________
gearbeitet und im Rahmen dieser Tätigkeit Asbest ausgesetzt gewesen sei, an
den Folgen eines durch die Astbestexposition verursachten Lungenkarzinoms am
25. Dezember 2005 gestorben sei. Zur Notwendigkeit der anwaltlichen
Verbeiständung führte er Folgendes aus:
Beispielsweise erging vor kurzem eine Verfügung der SUVA, welche
voraussichtlich anzufechten sein wird. Es sind zudem weitere rechtliche
Schritte, allenfalls auch gegen die Verantwortlichen der Z.________ AG, zu
prüfen. Mit heutigem Datum wurde sodann beim Kantonalen Sozialamt vorsorglich
ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung eingereicht. Auch in diesem
Verfahren stellen sich komplexe rechtliche Fragen, weshalb sich ausnahmsweise
der Beizug eines Rechtsvertreters auch für das Opferhilfe-Verfahren (betr.
Entschädigung und Genugtuung) aufdrängt. ...
Insbesondere im SUVA-Verfahren besteht dringender Handlungsbedarf. So erging
am 8. Juli 2006 eine Verfügung betreffend Übernahme diverser Schadensposten
und Ausrichtung einer Integritätsentschädigung. Diese Verfügung kann innert
30 Tagen angefochten werden."
Die Opferberatungsstelle entschied am 7. September 2006, X.________ gelte als
dem Opfer einer Straftat gleichgestellte Person im Sinne von Art. 2 Abs. 2
OHG. Gegen die Verantwortlichen der Z.________ AG sei Strafanzeige
eingereicht worden. Im Rahmen der Soforthilfe würden anwaltliche Kosten für
eine juristische Erstabklärung im Umfang von vier Stunden resp. Fr. 600.--
übernommen. Bei dieser Abklärung sollten folgende Bereiche berücksichtigt
werden: "Allfällige Kostenträger im Sozialversicherungsbereich,
Haftpflichtansprüche gegenüber der Täterschaft bzw. der
Haftpflichtversicherung, Rechtsvertretung im Strafverfahren". Die
Opferberatungsstelle machte X.________ ferner darauf aufmerksam, dass, falls
weitere Rechtshilfe notwendig sein sollte, diese schriftlich zu beantragen
sei. In diesem Antrag müsse konkret aufgezeigt werden, welche Ansprüche an
wen und was geltend gemacht werden sollten. Bevor die Übernahme weiterer
Kosten bewilligt werden könne, müsse abgeklärt werden, ob unentgeltliche
Rechtsvertretung geltend gemacht werden könne. Wenn die Abklärungen zu einem
negativen Resultat führen sollten, erachte sich die Opferberatungsstelle als
verpflichtet, die finanziellen Verhältnisse des Gesuchstellers zu prüfen.
Hierzu würden detaillierte Angaben (Steuererklärung, Lohnausweis etc.)
benötigt.

X. ________ erhob gegen den Entscheid der Opferberatungsstelle Beschwerde
beim Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit dem Antrag, es seien erstens
die im Rahmen der Soforthilfe zugesprochenen Stunden für juristische
Erstabklärungen zu einem Ansatz von Fr. 200.-- zu vergüten und zweitens auch
im Rahmen der weiteren Hilfe Anwaltskosten zu übernehmen. Er machte unter
anderem geltend, über das Gesuch um weitere Hilfe sei nicht entschieden
worden, obwohl er ein solches gestellt habe und der Opferberatungsstelle
sämtliche Angaben vorgelegen hätten. Mit Urteil vom 23. Mai 2007 wies die I.
Kammer des Verwaltungsgerichts die Beschwerde bezüglich des Rechtsbegehrens
um Soforthilfe ab, trat auf die Beschwerde bezüglich des Rechtsbegehrens um
weitere Hilfe nicht ein und wies die Beschwerde wegen
Rechtsverzögerung/Rechtsverweigerung ab.

B.
X.________ hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts beim Bundesgericht
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Neben der
Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt er die Anweisung der
Opferberatungsstelle, die im Rahmen der Soforthilfe zugesprochenen Stunden zu
mindestens Fr. 180.-- zu vergüten und Anwaltskosten auch im Rahmen der
weiteren Hilfe zu übernehmen. Ferner ersucht der Beschwerdeführer um
unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren.

C.
Das Verwaltungsgericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Das Bundesamt für Justiz (BJ) als beschwerdeberechtigte
Bundesbehörde lässt sich vernehmen, ohne Antrag zu stellen. Die
Opferberatungsstelle äussert sich mit Verspätung zur Beschwerde und nimmt
ferner zur Vernehmlassung des BJ Stellung. Sie anerkennt für die dem
Beschwerdeführer bereits gewährte Soforthilfe von vier Stunden anwaltlicher
Hilfe einen Stundenansatz von Fr. 180.--. Das Verwaltungsgericht äussert sich
ebenfalls zur Vernehmlassung des BJ. Mit Eingaben vom 9. November und 10.
Dezember 2007 lässt sich der Beschwerdeführer nochmals vernehmen.
Erwägungen:

1.
Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts betrifft auf das OHG
abgestützte Leistungen und damit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit im
Sinn von Art. 82 lit. a BGG. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ist damit grundsätzlich gegeben. Bezüglich der streitigen
Soforthilfe handelt es sich beim angefochtenen Urteil um einen anfechtbaren
Endentscheid im Sinn von Art. 90 BGG. Bezüglich der beantragten weiteren
Hilfe haben die kantonalen Instanzen noch keinen Sachentscheid gefällt.
Dagegen ist lediglich die Rechtsverweigerungsbeschwerde zulässig.

In Ermangelung eines Sachentscheids ist auf den Antrag, die
Opferberatungsstelle anzuweisen, Anwaltskosten im Rahmen der weiteren Hilfe
zu übernehmen, nicht einzutreten.

2.
2.1 Zum einen ist die Höhe des Stundenansatzes für die zugesprochene
anwaltliche Soforthilfe streitig. Die Opferberatungsstelle bewilligte eine
Soforthilfe im Umfang von vier Anwaltsstunden für juristische
Erstabklärungen, wobei sie von einem Stundenansatz von Fr. 150.-- ausging.
Das Verwaltungsgericht ist hingegen der Ansicht, dass kein Anspruch auf
Soforthilfe bestehe. Die von der Opferberatungsstelle bewilligte Soforthilfe
könne wegen des Verbots der reformatio in peius zwar nicht in Frage gestellt
werden, jedoch sei das Begehren des Beschwerdeführers um Erhöhung des
Stundenansatzes für die Soforthilfe abzuweisen. Der Beschwerdeführer macht in
diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 3 OHG und Art. 8 BV geltend. Er
ist der Auffassung, der Stundenansatz müsse wie bei der unentgeltlichen
Rechtsverbeiständung mindestens Fr. 180.-- pro Stunde betragen.

In ihrer vor Bundesgericht eingereichten Vernehmlassung hat die
Opferberatungsstelle den vom Beschwerdeführer verlangten Stundenansatz für
anwaltliche Soforthilfe in der Höhe von Fr. 180.-- pro Stunde anerkannt.

2.2 Die Opferberatungsstellen leisten dem Opfer medizinische, psychologische,
soziale, materielle und juristische Hilfe sofort und wenn nötig während
längerer Zeit. Sie müssen so organisiert sein, dass sie jederzeit Soforthilfe
leisten können (Art. 3 Abs. 2 und 3 OHG). Nach der Rechtsprechung ist
Soforthilfe immer dann zu leisten, wenn die durch die Straftat unmittelbar
hervorgerufene Situation des Opfers eine Massnahme erfordert, die in
sachlicher und zeitlicher Hinsicht keinen Aufschub duldet
(Bundesgerichtsurteil 1A.38/1997 vom 17. September 1997 E. 2c). Dies ist
meistens unmittelbar im Anschluss an die Straftat der Fall, je nach den
Umständen aber auch später.

2.3 Das Verwaltungsgericht verneinte den Anspruch auf Soforthilfe zum einen
mit der Begründung, dass nicht ersichtlich sei, in welchen Positionen die
SUVA nicht im Sinn des Beschwerdeführers entschieden hätte. Auch im
bundesgerichtlichen Verfahren legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern
die SUVA-Verfügung anzufechten war. Dabei verkennt er, dass neben der
zeitlichen Dringlichkeit wegen laufenden Rechtsmittelfristen ein sachlicher
Handlungsbedarf überhaupt bestehen und dargetan werden muss, um Soforthilfe
beanspruchen zu können. Mangels diesbezüglichen Angaben ist daher nicht zu
beanstanden, dass das Verwaltungsgericht den Anspruch auf Soforthilfe zur
Anfechtung der SUVA-Verfügung verneinte.

Zum andern lehnte das Verwaltungsgericht den Anspruch auf Soforthilfe ab,
weil der Beschwerdeführer die zeitliche Dringlichkeit im Strafuntersuchungs-
und Opferhilfeverfahren nicht dargetan habe. Der Beschwerdeführer beschränkt
sich vor Bundesgericht darauf, die Erforderlichkeit der Rechtsverbeiständung
zu begründen. Allein der Umstand, dass Erstabklärungen für das anwaltliche
Vorgehen durchgeführt werden müssen, bedeutet indessen nicht, dass diese
Abklärungen stets dringlich wären. Dem Entscheid der Opferberatungsstelle
kann ebenfalls nicht entnommen werden, dass für die Erstabklärungen zeitliche
Dringlichkeit bestanden hätte. Es ist somit auch bezüglich des Opferhilfe-
und Strafuntersuchungsverfahrens nicht zu beanstanden, dass das
Verwaltungsgericht einen dringlichen Handlungsbedarf verneinte und damit die
Ausrichtung einer Soforthilfe insgesamt als nicht gerechtfertigt betrachtete.

Dementsprechend durfte das Verwaltungsgericht ohne Bundesrechtsverletzung das
Begehren um Erhöhung des Stundenansatzes für die anwaltliche Soforthilfe
abweisen.

3.
3.1 Zum andern ist umstritten, ob die Opferberatungsstelle das Gesuch um
weitere Hilfe hätte behandeln müssen. Das Verwaltungsgericht wies die
Rechtsverweigerungsbeschwerde mit der Begründung ab, die Opferberatungsstelle
sei nicht in unzulässiger Weise untätig geblieben, weil die Sache noch nicht
spruchreif gewesen sei und weitere Abklärungen durchgeführt und Unterlagen
eingereicht werden müssten. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von
Art. 29 Abs. 1 BV geltend.

3.2 Nach Art. 29 Abs. 1 BV hat jede Person in Verfahren vor Gerichts- und
Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf
Beurteilung innert angemessener Frist. Dieser Anspruch ist verletzt, wenn ein
Gericht oder eine Verwaltungsbehörde ein Ersuchen nicht behandelt, obwohl sie
zum Entscheid verpflichtet wäre. In welcher Form und in welchem Umfang das
Rechtsverweigerungsverbot zu gewährleisten ist, lässt sich nicht generell,
sondern nur im Hinblick auf den einzelnen Fall beurteilen (BGE 117 Ia 116 E.
3a S. 117 zum Rechtsverweigerungsverbot nach Art. 4 aBV). Massgebend ist
unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben das anwendbare
Verfahrensrecht (Urteil des Bundesgerichts 1C_6/2007 vom 22. August 2007, E.
3.1).
3.3 Die Opferberatungsstellen übernehmen weitere Kosten, wie Arzt-, Anwalts-
und Verfahrenskosten, soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse des
Opfers angezeigt ist (Abs. 4). Die Bewilligung der so genannten "weiteren"
Hilfe richtet sich nach der Sach- und Bedürfnislage im Einzelfall (Urteil
1A.38/1997 vom 17. September 1997 E. 2d). Das Opfer trifft bei der
Sachverhaltsermittlung eine Mitwirkungspflicht. Wer ein Opferhilfegesuch
stellt, muss diejenigen Tatsachen darlegen, die nur ihm bekannt sind oder von
ihm mit wesentlich weniger Aufwand erhoben werden können als von der Behörde.
Insbesondere muss das Opfer den anspruchsbegründenden Sachverhalt mit
hinreichender Bestimmtheit darlegen und der Behörde diejenigen Angaben
liefern, die ihr erlauben, weitere Erkundigungen einzuziehen (Urteil des
Bundesgerichts 1A.170/2001 vom 18. Februar 2002 = Pra 2002 Nr. 104 S. 596).
Die Übernahme von Kosten, die offensichtlich nutzlos aufgewendet erscheinen,
kann verweigert werden (BGE 122 II 211 E. 4b S. 218; 121 II 209 E. 3b S. 212
f.).
3.4 Die Opferberatungsstelle fällte keinen Entscheid über das Gesuch um
weitere Hilfe, da der Beschwerdeführer weder Angaben über die zu stellenden
Ansprüche gemacht noch seine aktuellen finanziellen Verhältnisse
rechtsgenüglich dargelegt habe. Das Verwaltungsgericht schützte diesen
Standpunkt mit der Begründung, das Gesuch um weitere Hilfe sei mangels der
erwähnten Angaben nicht spruchreif gewesen.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nicht zu beanstanden. Aus den vagen
Angaben im Gesuch der Opferberatungsstelle, es würden allenfalls rechtliche
Schritte gegen die Verantwortlichen unternommen, und es sei vorsorglich ein
Gesuch um opferhilferechtliche Entschädigung und Genugtuung gestellt worden,
ergibt sich nicht mit hinreichender Klarheit, inwiefern der Beschwerdeführer
weitere Hilfe für Anwaltskosten beanspruchen will. Des Weitern fehlten Belege
über die aktuellen Einnahmen und Ausgaben des Beschwerdeführers, obwohl
dieser anwaltlich vertreten war und somit Kenntnis von seiner
Mitwirkungspflicht haben musste. Die Opferberatungsstelle war unter den
dargestellten Umständen nicht in der Lage, die Notwendigkeit und den Umfang
einer Kostengutsprache zu prüfen. Da der Beschwerdeführer die erforderlichen
Angaben nicht lieferte, durfte die Opferberatungsstelle ohne Verletzung des
Rechtsverweigerungsverbots von einem Entscheid in der Sache absehen.

4.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde unbegründet und daher abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist. Das Verfahren vor Bundesgericht ist kostenlos (Art.
16 Abs. 1 OHG; BGE 122 II 211 E. 4b S. 218 f.). Wegen offensichtlicher
Aussichtslosigkeit der gestellten Begehren ist das Gesuch um unentgeltliche
Rechtsverbeiständung im Verfahren vor Bundesgericht ebenfalls abzuweisen
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Opferberatungsstelle, dem
Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, I. Kammer, und dem Bundesamt für
Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. März 2008

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder