Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B 6/2007
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{T 0/2}
1B_6/2007 /ggs

Urteil vom 20. Februar 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Marc Engler,

gegen

Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, Zweigstelle Flughafen, Bürogebäude
A-11, 7. Stock, Postfach, 8058 Zürich,
Bezirksgericht Bülach, II. Abteilung, Spitalstrasse 13, 8180 Bülach.

Haftentlassung,

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Haftrichters des
Bezirksgerichts Bülach, II. Abteilung, vom 24. Januar 2007.
Sachverhalt:

A.
Die brasilianische Staatsangehörige X.________ steht unter dem dringenden
Verdacht, am 3. Juli 2006, mit dem Flugzeug von Sao Paulo herkommend, knapp
873,5 Gramm Kokain - das sie zum Teil in Fingerlingen verschluckt und zum
Teil auf sich getragen habe - in die Schweiz verbracht und hier eingeführt
bzw. Letzteres versucht zu haben.
Am 3. Juli 2006 wurde sie festgenommen. Zwei Tage später verfügte der
Haftrichter die Untersuchungshaft.

Am 14. August 2006 erhob die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland Anklage
gegen X.________ und beantragte ihre Bestrafung mit 20 Monaten Gefängnis.

Am 23. August 2006 verfügte der Haftrichter des Bezirksgerichtes Bülach ihre
Versetzung in Sicherheitshaft.

Mit Verfügung vom 29. August 2006 bewilligte die Staatsanwaltschaft den
vorzeitigen Strafantritt.

Am 3. November 2006 verurteilte das Bezirksgericht Bülach X.________ wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 22 Monaten
Gefängnis, unter Anrechnung der bis dahin ausgestandenen Haft von 123 Tagen.

Gegen das Urteil des Bezirksgerichtes erhob X.________ Berufung.

B.
Am 15. Januar 2007 ersuchte sie um Entlassung aus dem vorzeitigen
Strafvollzug.

Mit Verfügung vom 24. Januar 2007 wies der Haftrichter des Bezirksgerichts
Bülach das Gesuch ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung des
Haftrichters aufzuheben; sie sei sofort aus dem vorzeitigen Strafvollzug zu
entlassen; eventualiter sei die Verfügung des Haftrichters aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung an diesen zurückzuweisen.

D.
Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die
Beschwerde abzuweisen.

Der Haftrichter hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

E.
X.________ hat zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme
eingereicht. Sie hält sinngemäss an ihren Anträgen fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Der
angefochtene Entscheid erging nach dem 1. Januar 2007. Gemäss Art. 132 Abs. 1
BGG ist hier deshalb das Bundesgerichtsgesetz anwendbar.

1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der
die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf
Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in
Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001, S. 4313). Die Beschwerde in
Strafsachen ist hier somit grundsätzlich gegeben.

Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur
Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG
zulässig.

Die Beschwerdeführerin hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und
ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen
Entscheids. Sie ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.

1.3 Da nach Art. 107 Abs. 2 BGG das Bundesgericht bei Gutheissung der
Beschwerde in der Sache selbst entscheiden kann, ist der Antrag auf
Haftentlassung zulässig.

1.4 Zur Behandlung der vorliegenden Beschwerde ist gemäss Art. 29 Abs. 3 des
Reglements vom 20. November 2006 über das Bundesgericht (SR 173.110.131) die
I. öffentlich-rechtliche Abteilung zuständig.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die angefochtene Verfügung verletze ihr
verfassungsmässiges Recht auf persönliche Freiheit.

2.2 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit
(Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei (BGE 132 I 21 E. 3.2.3, mit Hinweisen).

2.3 Die Beschwerdeführerin befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. Dies
hindert sie nicht daran, ein Gesuch um Haftentlassung zu stellen. Auf Gesuch
um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug hin ist zu prüfen, ob die
Haftvoraussetzungen gegeben sind (BGE 117 Ia 72 E. 1d S. 79 f., 372 E. 3a S.
375).

2.4 Gemäss § 58 Abs. 1 StPO/ZH darf Untersuchungshaft nur angeordnet werden,
wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt
wird und ausserdem auf Grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet
werden muss, er werde sich unter anderem der Strafverfolgung oder der zu
erwartenden Strafe durch Flucht entziehen.

Die Beschwerdeführerin ist geständig. Sie richtet sich im Berufungsverfahren
einzig gegen die Strafzumessung. Der dringende Tatverdacht ist unbestritten.
Ebenso wendet die Beschwerdeführerin nichts ein gegen die Annahme der
Fluchtgefahr.

Sie beruft sich auf § 58 Abs. 3 StPO/ZH. Danach darf die Untersuchungshaft
nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Die
Beschwerdeführerin bringt vor, die Untersuchungshaft sei nicht mehr
verhältnismässig. Das Bezirksgericht habe sie zu einer Gefängnisstrafe von 22
Monaten verurteilt. Am 1. Januar 2007 sei der neue Allgemeine Teil des
Strafgesetzbuches in Kraft getreten. Nach Art. 42 nStGB könnten nunmehr
Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren bedingt ausgesprochen werden. Die
Staatsanwaltschaft habe keine Berufung eingereicht. Das Obergericht sei
deshalb im Berufungsverfahren an das Verbot der reformatio in peius gebunden
und dürfe über die Strafe von 22 Monaten nicht hinausgehen. Die
Beschwerdeführerin sei nicht vorbestraft und geständig. Damit sei mit der
Gewährung des bedingten Vollzugs zu rechnen. Die Auffassung des Haftrichters,
sie könne höchstens mit einer teilbedingten Strafe rechnen, sei abzulehnen.
Auf Fälle wie hier sei der teilbedingte Vollzug nicht zugeschnitten.

2.5 Nach der Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit
der Haft der Umstand, dass die in Aussicht stehende Freiheitsstrafe bedingt
ausgesprochen werden kann, grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (BGE 125 I
60 E. 3d S. 64; 124 I 208 E. 6 S. 215; Urteil 1P.686/1995 vom 22. Dezember
1995, publ. in: EuGRZ 1998 S. 514, E. 3).

Da das Obergericht an das Verbot der reformatio in peius gebunden ist, darf
es - wie die Beschwerdeführerin zutreffend darlegt - über die vom
Bezirksgericht verhängte Strafe von 22 Monaten nicht hinausgehen. Gemäss Art.
42 Abs. 1 nStGB kann der bedingte Vollzug neu für Freiheitsstrafen bis zu
zwei Jahren gewährt werden. Die Gewährung des bedingten Vollzugs ist damit
möglich. Nach der dargelegten Rechtsprechung - welche die Beschwerdeführerin
übergeht - ist die Haft deswegen jedoch nicht unverhältnismässig.

Wenn die Beschwerdeführerin davon ausgeht, das Obergericht werde ihr den
bedingten Vollzug gewähren müssen, kann dem nicht gefolgt werden. Gemäss Art.
43 nStGB besteht hier auch die Möglichkeit einer teilbedingten Strafe. Danach
kann das Gericht den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr
und höchstens drei Jahren nur teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist,
um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen (Abs. 1). Der
unbedingt vollziehbare Teil darf die Hälfte der Strafe nicht übersteigen
(Abs. 2). Bei der teilbedingten Freiheitsstrafe muss sowohl der aufgeschobene
wie auch der zu vollziehende Teil mindestens sechs Monate betragen (Abs. 3).
Sollte das Obergericht - was offen ist - das Strafmass von 22 Monaten
bestätigen, könnte bei einer teilbedingten Strafe der unbedingte Teil demnach
sechs bis elf Monate betragen. Selbst die Ablehnung jeglichen bedingten
Vollzugs durch das Obergericht kann unter den gegebenen Umständen entgegen
der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht von vornherein sicher
ausgeschlossen werden. Zwar setzt die Gewährung des bedingten Vollzugs nach
neuem Recht nicht mehr "positiv" eine günstige Prognose voraus, sondern
genügt das Fehlen einer ungünstigen Prognose (Botschaft vom 21. September
1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, BBl 1999, S. 2049;
Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, 2.
Aufl., Bern 2006, S. 139 N. 38). Eine ungünstige Prognose kann hier deshalb
nicht gänzlich ausgeschlossen werden, weil sich die Beschwerdeführerin nach
ihren eigenen Angaben in der Beschwerde in prekären finanziellen
Verhältnissen befindet. Wie sie (S. 16 Ziff. 56) zur Begründung des Gesuchs
um unentgeltliche Rechtspflege ausführt, reicht das von ihr in Brasilien
verdiente Geld knapp zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Aufgrund
zahlreicher Krankheiten musste sie jedoch mehrmals operiert werden und
benötigt teure Medikamente. Für diese Kosten musste sie grösstenteils selber
aufkommen, was dazu führte, dass sie sich Geld borgen musste und Schulden
hat. Dies stellt ein Indiz dafür dar, dass sie allenfalls erneut versucht
sein könnte, das von ihr benötigte Geld durch illegale Tätigkeiten,
insbesondere im Bereich des Drogenhandels, zu beschaffen.

Dem Entscheid des Obergerichts darf nicht vorgegriffen werden. Auf welche
Sanktionsart (bedingt, teilbedingt, unbedingt) es schliesslich erkennen wird,
kann nicht verlässlich gesagt werden; dies zumal das revidierte
Sanktionensystem des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches erst kürzlich in
Kraft getreten ist und eine gefestigte Gerichtspraxis dazu noch nicht
besteht. Wenn die Beschwerdeführerin annimmt, das Obergericht werde ihr den
bedingten Vollzug nach Art. 42 nStGB gewähren, ist dies reine Spekulation.

Die Beschwerdeführerin befand sich im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung
seit gut 6 1/2 Monaten in Haft. Nach dem Gesagten kommt die Anordnung des
unbedingten Vollzugs einer längeren Strafdauer durch das Obergericht ohne
weiteres in Betracht. Mit Blick darauf ist es verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, wenn der Haftrichter die Haft noch als verhältnismässig
beurteilt hat.

Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt danach unbegründet.

3.
3.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, der Haftrichter habe den angefochtenen
Entscheid unzureichend begründet und damit ihren Anspruch auf rechtliches
Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV verletzt.

3.2 Wesentlicher Bestandteil des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist die
Begründungspflicht. Diese soll verhindern, dass sich die Behörde von
unsachlichen Motiven leiten lässt, und dem Betroffenen ermöglichen, die
Verfügung gegebenenfalls sachgerecht anzufechten. Dies ist nur möglich, wenn
sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des
Entscheides ein Bild machen können. In diesem Sinn müssen wenigstens kurz die
Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und
auf welche sich ihr Entscheid stützt. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie
sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen
Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den
Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 129 I 232 E. 3.2 S.
236; 126 I 97 E. 2b S. 102 f. mit Hinweisen).

3.3 Der Haftrichter legt in seinem Entscheid dar, weshalb er die
Aufrechterhaltung der Haft als rechtmässig erachtet. Er begründet seinen
Entscheid zwar knapp, aber hinreichend. Wie die Beschwerde zeigt, war die
Beschwerdeführerin denn auch ohne weiteres in der Lage, ihn sachgerecht
anzufechten. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist damit zu
verneinen.

4.
Soweit die Beschwerdeführerin Willkür (Art. 9 BV) rügt, ist auf die
Beschwerde nicht einzutreten.

Da das Bundesgericht die Voraussetzungen der Untersuchungshaft unter dem
Gesichtswinkel des Rechts auf persönliche Freiheit frei geprüft hat, kommt
der Rüge insoweit keine selbständige Bedeutung zu.

Soweit die Beschwerdeführerin den behaupteten Mangel der Begründung der
angefochtenen Verfügung als willkürlich rügt, beruft sie sich in der Sache
auf ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV. Dazu wurde
(E. 3) bereits Stellung genommen.

5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Die Mittellosigkeit der Beschwerdeführerin kann angenommen werden. Da die
Haft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte
sie sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG wird deshalb bewilligt. Es
sind keine Kosten zu erheben und dem Vertreter der Beschwerdeführerin ist
eine Entschädigung auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Marc Engler, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft
Winterthur/Unterland, Zweigstelle Flughafen, und dem Bezirksgericht Bülach,
II. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Februar 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Der Gerichtsschreiber: