Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.72/2007
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{T 0/2}
1B_72/2007 /fun

Urteil vom 16. Mai 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hugo Werren,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15,
Postfach, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 9, 10, 29, 31 BV, Art. 5 EMRK (Haftverlängerung),

Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichterin, vom 12. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Ihm wird
vorgeworfen, am 7. Oktober 2006 Y.________ eine 3 cm tiefe Stichverletzung am
Rücken zugefügt zu haben. Der Beschuldigte befindet sich seit 11. Oktober
2006 in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 12. April 2007 verlängerte die
Haftrichterin des Bezirks Zürich die Haft bis zum 11. Juli 2007.

B.
X.________ ficht die Verfügung vom 12. April 2007 mit subsidiärer
Verfassungsbeschwerde vom 23. April 2007 an. Er beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids und die unverzügliche Freilassung. Ausserdem stellt
er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im
bundesgerichtlichen Verfahren.

Die Haftrichterin hat auf eine Vernehmlassung ausdrücklich verzichtet. Die
Staatsanwaltschaft ersucht sinngemäss um Abweisung der Beschwerde. In der
Replik vom 8. Mai 2007 hält der Beschwerdeführer an seinen Begehren fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Soweit keine Beschwerde nach Art. 72-89 BGG
zulässig ist, fällt die subsidiäre Verfassungsbeschwerde in Betracht (Art.
113 BGG).

Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst sämtliche Entscheidungen,
denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht zu Grunde liegt. Mit
anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung oder
die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf Bundesrecht oder auf
kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen angefochten werden
(Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl
2001 S. 4313).

Das Rechtsmittel der Beschwerde in Strafsachen ist hier somit gegeben. Die
unrichtige Bezeichnung der Eingabe als subsidiäre Verfassungsbeschwerde
schadet dem Beschwerdeführer nicht; diese ist als Beschwerde in Strafsachen
entgegenzunehmen.

1.2 Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht
zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG
zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf
die Beschwerde einzutreten.

2.
In verfahrensmässiger Hinsicht erhebt der Beschwerdeführer sinngemäss den
Vorwurf, sein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) sei verletzt
worden. Diese Rüge erweist sich als unbegründet. Die Haftrichterin hat den
Beschwerdeführer unmittelbar vor dem angefochtenen Haftverlängerungsentscheid
persönlich angehört. Mit Bezug auf den verfassungsmässigen Gehörsanspruch
kann es daher keine Rolle spielen, dass der Beschwerdeführer nicht auch noch
vom zuständigen Staatsanwalt einvernommen worden ist, bevor letzterer den
Haftverlängerungsantrag gestellt hat. Ebenso wenig ist grundsätzlich der
Umstand zu beanstanden, dass im angefochtenen Entscheid verschiedentlich auf
diesen Antrag der Staatsanwaltschaft und auf frühere haftrichterliche
Verfügungen verwiesen wird. Die Haftrichterin musste sich nicht mit jeder
tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand des Rechtsuchenden
ausdrücklich auseinander setzen. Es genügt vielmehr, dass die für den
Haftentscheid wesentlichen Gesichtspunkte genannt werden (vgl. BGE 126 I 97
E. 2b S. 102 f. mit Hinweisen). Ob die Fortdauer der Haft im Ergebnis
rechtens ist, stellt im Übrigen nicht eine Frage des rechtlichen Gehörs,
sondern der materiellen Beurteilung dar. Darauf ist im Folgenden einzugehen.

3.
3.1 Die Untersuchungshaft darf nach Zürcher Strafverfahrensrecht nur
angeordnet bzw. fortgesetzt werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens
oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer
Haftgrund vorliegt (§ 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919
[StPO/ZH; LS 321]). Im angefochtenen Entscheid wird die Verlängerung der
Untersuchungshaft mit Kollusions- und Fluchtgefahr begründet; ob auch eine
qualifizierte Wiederholungsgefahr gegeben sei, wurde offen gelassen. Der
Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht, stellt aber das
Vorliegen besonderer Haftgründe in Abrede. Er rügt eine Verletzung seines
Rechts auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 BV bzw. Art.
5 EMRK. Zunächst ist zu prüfen, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr erfüllt
ist. Bejahendenfalls erübrigt sich eine Überprüfung der haftrichterlichen
Annahme von Kollusionsgefahr.

3.2 Die Feststellung des Sachverhalts kann nach Art. 97 Abs. 1 BGG nur gerügt
werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. Der Beschwerdeführer hält es
für willkürlich, dass bei ihm eine Fluchtgefahr bejaht worden sei. Soweit
sich die Rüge auf die Tatsachenfeststellung bezieht, ist sie im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG zulässig (vgl. Botschaft, BBl 2001 S. 4338). Was die
rechtliche Würdigung des Sachverhalts betrifft, kommt der Willkürrüge neben
dem verfassungsmässigen Schutz der persönlichen Freiheit praxisgemäss keine
eigenständige Bedeutung zu. Bei Beschwerden, die sich gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die Anordnung oder
Fortdauer von Haft richten, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die
Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei (vgl. BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24 mit Hinweisen).

4.
4.1 Gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH ist der besondere Haftgrund der
Fluchtgefahr gegeben, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft
befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde sich der Strafverfolgung
oder der zu erwartenden Strafe durch Flucht entziehen. Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf Fluchtgefahr nicht schon angenommen
werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr
müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als
möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden
Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden
Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweisen). Es
müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die
gesamten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden
(117 Ia 69 E. 4a S. 70 mit Hinweisen). So ist es zulässig, die familiären und
sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden
sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen (Urteil des
Bundesgerichts 1P.464/1996 vom 12. September 1996, E. 2c/aa, in: EuGRZ 1997,
S. 15 ff.).
4.2 Der Beschwerdeführer bestreitet den Vorsatz für eine vorsätzliche
Körperverletzung und weist auf die fehlende Gefährlichkeit der zugefügten
Wunde hin. Die strafrechtliche Würdigung des Tathergangs ist jedoch (im Falle
einer Anklageerhebung) vom erkennenden Sachrichter zu prüfen. Beim
gegenwärtigen Stand der Untersuchung muss der Beschwerdeführer mit einer
Verurteilung zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe rechnen, die einen
gewissen Fluchtanreiz darstellen könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
er am 25. Juli 2006 mit einer Vorstrafe wegen zweier früherer Gewaltdelikte
belegt worden ist. Damals wurde eine bedingte Gefängnisstrafe von 45 Tagen
bei einer Probezeit von 2 Jahren ausgefällt.

4.3 Im kantonalen Verfahren wurde konkret eine Fluchtmöglichkeit nach
Brasilien geprüft. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer sowohl in
der Schweiz als auch in seinem Heimatstaat Brasilien über ein soziales Netz
verfügt. Der Beschwerdeführer hat Jahrgang 1983, ist nach eigenen Aussagen in
Brasilien aufgewachsen und lebt seit 2001 in der Schweiz. Seine Eltern sind
geschieden. Der Beschwerdeführer wohnt in der Schweiz bei seiner Mutter,
während der Vater weiterhin in Brasilien lebt. Einen Beruf hat der
Beschwerdeführer nicht erlernt; vor der Verhaftung verfügte er über keine
feste Arbeitsstelle. Er ist mittellos und hat, eigenen Angaben zufolge, sogar
in geringem Umfang Schulden. Aufgrund dieser Umstände besteht nicht nur die
abstrakte Möglichkeit der Flucht. Vielmehr sind, entgegen der Meinung des
Beschwerdeführers erhebliche Anhaltspunkte gegeben, die für Fluchtgefahr
sprechen. Dem Beschwerdeführer kann nicht gefolgt werden, wenn er einen
Vergleich zu den Verhältnissen beim bundesgerichtlichen Urteil vom 12.
Oktober 2006 zieht; dort wurde eine Fluchtgefahr verneint, weil - im
Unterschied zu hier - keine Hinweise auf Auslandskontakte der damaligen
Beschwerdeführerin bestanden (vgl. Urteil 1P.625/2006, E. 5.3, in: Pra 2007
Nr. 39 S. 241). Beim Beschwerdeführer ist es hingegen verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden, wenn die Haftrichterin diesen Haftgrund bejaht hat.

4.4 Zu Recht hat die Haftrichterin eine Pass- und Schriftensperre als
milderes Mittel gegenüber der Haft mit der Begründung abgelehnt, die
schweizerischen Strafverfolgungsbehörden hätten bei Ausländern keinen
Einfluss darauf, ob die Vertretung des Heimatlandes nicht ein Ersatzdokument
ausstellen könnte (vgl. Urteil 1B_49/2007 vom 11. April 2007, E. 2.6). Im
kantonalen Verfahren hat der Verteidiger ferner die Möglichkeit einer Kaution
angesprochen. Dazu führte er dort einzig aus, eine solche müsste allerdings
durch die Eltern des Beschwerdeführers aufgebracht werden. Bei derart
unbestimmten Angaben war die Haftrichterin nicht gehalten, weitere
Abklärungen zu diesem Punkt zu treffen bzw. sich im angefochtenen Entscheid
ausdrücklich damit auseinander zu setzen (vgl. dazu Urteil 1P.797/1999 vom 7.
Januar 2000, E. 4b). Nicht stichhaltig ist auch das Argument des
Beschwerdeführers, die Fluchtgefahr könne durch eine Meldepflicht oder
weitere Weisungen bzw. Auflagen wirksam herabgesetzt werden. Die Ablehnung
von Ersatzanordnungen hält damit vor der Verfassung stand.

4.5 Schliesslich rügt der Beschwerdeführer eine unverhältnismässige Länge der
Untersuchungshaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts darf die
strafprozessuale Haft nicht in allzu grosse zeitliche Nähe der
Freiheitsstrafe rücken, die dem Angeklagten im Fall einer strafrechtlichen
Verurteilung konkret droht (vgl. BGE 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f. mit Hinweisen).
Dass dies hier der Fall sein könnte, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen ist
der allgemeine Hinweis des Beschwerdeführers auf das revidierte
Sanktionensystem des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs unbehelflich
(vgl. Urteil 1B_6/2007 vom 20. Februar 2007, E. 2.5). Dem Entscheid des
zuständigen Strafgerichtes über diese materiellrechtlichen Fragen ist vom
Haftrichter grundsätzlich nicht vorzugreifen. Im vorliegenden Fall erscheint
angesichts der Vorstrafe jedenfalls ein vollbedingter Strafvollzug bei einer
Verurteilung zumindest nicht sehr wahrscheinlich.

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat
indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gestellt. Dieses ist gutzuheissen, weil seine Bedürftigkeit ausgewiesen
scheint und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war (Art. 64
Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Hugo Werren wird für das bundesgerichtliche Verfahren als
amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich, Gewaltdelikte, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Mai 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: