Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.32/2007
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1B_32/2007 /fun

Urteil vom 18. Juni 2007

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rolf W. Rempfler,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Anklagekammer des Kantons Thurgau,
Marktgasse 9, Postfach 339, 9220 Bischofszell.

Rechtsverweigerung (Verfahrensverschleppung),

Beschwerde in Strafsachen gegen die Untätigkeit der Anklagekammer des Kantons
Thurgau in der Strafsache gegen Y.________.

Sachverhalt:

A.
Am 16. Mai 2005 reichte X.________ beim Untersuchungsrichteramt des Kantons
Thurgau eine Strafanzeige gegen Y.________ ein: Dieser habe am 13. Mai 2005
versucht, ihm "das Genick zu brechen" und ihn in eine Güllengrube zu werfen.

Mit Verfügung vom 9. Juni 2005 trat das kantonale Untersuchungsrichteramt das
polizeiliche Ermittlungsverfahren an das Bezirksamt Arbon ab, das am 14. Juni
2005 eine Strafuntersuchung gegen Y.________ eröffnete. X.________ erhob
dagegen Beschwerden an die Staatsanwaltschaft und an die Anklagekammer, und
verlangte die Durchführung einer Strafuntersuchung durch das kantonale
Untersuchungsrichteramt. Die Beschwerden wurden am 6. Juli 2005 von der
Staatsanwaltschaft und am 1. November 2005 von der Anklagekammer abgewiesen.

B.
Am 9. März 2006 führte der Vize-Statthalter Kurt Brunner in Anwesenheit von
X.________ eine Einvernahme von Y.________ durch. X.________ war der
Auffassung, diese Einvernahme habe der Schwere der angezeigten Delikte in
keiner Weise Rechnung getragen und habe grundlegende Prozessregeln verletzt.

Er erhob deshalb am 22. März 2006 Beschwerde an die Staatsanwaltschaft und
beantragte, Vize-Statthalter Brunner sei das Verfahren wegen Befangenheit zu
entziehen, gegen Y.________ sei Anklage wegen versuchten Totschlages,
Körperverletzung und Sachbeschädigung zu erheben, sowie gegen Z.________ und
A.________ eine Strafuntersuchung wegen Unterlassung der Nothilfe und
Sachentziehung durchzuführen. Die Staatsanwaltschaft wies die Beschwerde am
25. Juli 2006 ab, soweit sie darauf eintrat.

C.
Gegen den Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft erhob X.________ am 7.
August 2006 Beschwerde an die Anklagekammer des Kantons Thurgau und stellte
gleichzeitig ein Ausstandsbegehren gegen Vize-Statthalter Kurt Brunner,
Bezirksamt Arbon.
Am 9. und am 15. August 2006 liessen sich Vize-Statthalter Brunner und die
Staatsanwaltschaft vernehmen. Am 17. August 2006 äusserte sich der
Beschwerdeführer zur Vernehmlassung des Vize-Statthalters.
Mit Schreiben vom 10. und 24. Januar 2007 ersuchte X.________ die
Anklagekammer um die baldige Entscheidfällung. Am 9. Februar 2007 mahnte er
letztmals die Erledigung der Verfahrens an, unter Androhung einer Beschwerde
ans Bundesgericht.

D.
Am 26. Februar 2007 hat X.________ Beschwerde in Strafsachen gegen die
Anklagekammer wegen Rechtsverweigerung bzw. Verfahrensverschleppung erhoben.
Er beantragt, die Anklagekammer sei anzuweisen, in der Strafsache gegen
Y.________ unverzüglich über die hängige Beschwerde vom 7. August 2006 gegen
den Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft sowie über die
Befangenheitsbeschwerde vom 7. August 2006 gegen Vize-Statthalter Brunner zu
entscheiden.

E.
Am 22. März 2007 beantragte die Anklagekammer, die Beschwerde sei als
gegenstandslos abzuschreiben, weil der Präsident der Anklagekammer
gleichentags das Ausstandsbegehren gegen Vize-Statthalter Kurt Brunner
abgewiesen habe.

F.
Mit Eingabe vom 25. April 2007 erklärte der Beschwerdeführer, die
Abschreibung seiner Beschwerde komme nicht in Frage, weil zwar unterdessen
über sein Ausstandsbegehren entschieden worden sei, nicht aber über die
Beschwerde gegen den Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft; diese sei
nach wie vor hängig.

G.
Mit Stellungnahme vom 7. Mai 2007 hielt die Anklagekammer fest, dass es dem
Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde vom 7. August 2006 einzig darum
gegangen sei, Vize-Statthalter Kurt Brunner die Leitung der Strafuntersuchung
zu entziehen. Die verschiedenen Vorwürfe in der Beschwerde hätten lediglich
dazu gedient, die Befangenheit zu begründen. Deshalb sei die ganze Beschwerde
als Ausstandsbegehren entgegengenommen und behandelt worden.

Die Anklagekammer kündigte an, sie werde über die übrigen Rechtsbegehren, die
alle im Zusammenhang mit dem Ausstandsbegehren stünden, nur dann entscheiden,
wenn der Beschwerdeführer dies mit Beschwerde gegen den Entscheid des
Präsidenten der Anklagekammer vom 22. März 2007 verlange und eine solche
Beschwerde gutgeheissen werde.

H.
Mit Schreiben vom 25. Mai 2007 hielt der Beschwerdeführer an der
Rechtsverweigerungsbeschwerde fest: Die Verfügung des Präsidenten der
Anklagekammer vom 22. März 2007 betreffe nur das Ausstandsbegehren, nicht
aber die Beschwerde gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft, für die nicht
der Präsident, sondern die Anklagekammer als Kollegialbehörde zuständig sei
(§ 5 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 212 Ziff. 2 der Thurgauer Strafprozessordnung vom
30. Juni 1970/ 5. November 1991 [StPO/TG]).

Vorsorglich hat der Beschwerdeführer am 25. Mai 2007 strafrechtliche
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung vom 22. März 2007 erhoben
(1B_96/2007). Er werde diese Beschwerde zurückziehen, wenn das Bundesgericht
das vorliegende Verfahren nicht wegen Gegenstandslosigkeit abschreibe.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Gesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG, SR 173.110), das am
1. Januar 2007 in Kraft getreten ist (AS 2006, 1242), ist auf die nach seinem
Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten des BGG ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG).

Bei Beschwerden, die sich gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern
eines anfechtbaren Entscheids richten (Art. 94 BGG), liegt noch kein
anfechtbarer Entscheid vor, weshalb nur auf den Zeitpunkt der
Beschwerdeerhebung abgestellt werden kann. Auf die am 26. Februar 2007, nach
Inkrafttreten des BGG, erhobene Beschwerde ist daher das neue Recht
anwendbar.

2.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst
sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht
zu Grunde liegt (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313).

Im Falle einer Rechtsverweigerungs- oder -verzögerungsbeschwerde muss darauf
abgestellt werden, zu welchem Rechtsgebiet der Entscheid gehört, der
angeblich verweigert oder ungebührlich verzögert wird. Im vorliegenden Fall
richtet sich die Beschwerde gegen die angebliche Verfahrensverschleppung
durch die Anklagekammer im Strafuntersuchungsverfahren gegen Y.________. Die
Rechtsverweigerungsbeschwerde beschlägt damit das Gebiet des Strafrechts,
weshalb die Beschwerde in Strafsachen gegeben ist.

Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur
Verfügung (vgl. § 5 Abs. 1 und §§ 211 ff. StPO/TG). Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen liegen grundsätzlich vor.

Allerdings hat sich die Rechtsverweigerungsbeschwerde insoweit erledigt, als
der Präsident der Anklagekammer zwischenzeitlich über das Ausstandsbegehren
vom 7. August 2007 gegen Vize-Statthalter Brunner entschieden hat. Insoweit
ist die vorliegende Beschwerde als gegenstandslos abzuschreiben.

3.
Streitig ist dagegen, ob die Beschwerde vom 7. August 2006 gegen den
Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft noch hängig ist, oder ob die
Rechtsverweigerungsbeschwerde des Beschwerdeführers auch insoweit
gegenstandslos geworden ist.

3.1 In seiner Eingabe vom 7. August 2006 an die Anklagekammer hatte der
Beschwerdeführer ausdrücklich "Beschwerde nach § 212 Ziff. 2 StPO[TG] gegen
den Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau vom 25.
Juli 2006" erhoben und gleichzeitig ein "Ausstandsbegehren i.S.v. § 32 Ziff.
6 i.V.m. § 33 Abs. 3 StPO[TG] gegen Herrn Vize-Statthalter Kurt Brunner,
Bezirksamt Arbon" gestellt. Diese, von einem Rechtsanwalt (und nicht von
einem juristischen Laien) gewählte Formulierung spricht gegen die Auffassung
der Anklagekammer, wonach die gesamte Eingabe als Ausstandsgesuch zu
verstehen sei.

3.2 Dagegen sprechen auch die gestellten Beschwerdeanträge: In seiner
Beschwerdeschrift vom 7. August 2006 beantragte der Beschwerdeführer u.a. die
Aufhebung des angefochtenen Beschwerdeentscheids der Staatsanwaltschaft, die
Feststellung, dass die Staatsanwaltschaft das rechtliche Gehör und den
Anspruch auf ein faires Verfahren mehrfach verletzt habe und die
Entschädigung für das vorinstanzliche Verfahren, unabhängig vom Ausgang des
weiteren Verfahrens (Beschwerdeanträge Nrn. 1, 3 und 4). Diese Anträge weisen
einen über das Ausstandsgesuch hinausgehenden, eigenständigen Gehalt auf.

3.3 Über diese Beschwerdeanträge wurde vom Präsidenten der Anklagekammer mit
Verfügung vom 22. März 2007 nicht entschieden, und zwar weder im Dispositiv
noch in der Begründung: In den Erwägungen des Präsidenten wird zwar das
Verhalten des Vize-Statthalters beurteilt; dagegen finden sich keine
Ausführungen zu den gerügten Verfahrensfehlern der Staatsanwaltschaft noch
zur Entschädigungsfrage. Das Dispositiv beschränkt sich auf die Abweisung des
Ausstandsbegehrens; hinsichtlich der übrigen Anträge findet sich weder ein
Nichteintretensentscheid noch eine Abweisung. Die Verfügung kann daher nicht
als Entscheid über die Beschwerde verstanden werden, und zwar unabhängig
davon, ob der Präsident der Anklagekammer überhaupt für den Entscheid über
die Beschwerde zuständig gewesen wäre.

3.4 Nach dem Gesagten ist die bei der Anklagekammer am 7. August 2007
erhobene Beschwerde gegen den Beschwerdeentscheid der Staatsanwaltschaft noch
hängig, weshalb die Rechtsverweigerungsbeschwerde vor Bundesgericht
diesbezüglich nicht gegenstandslos geworden ist.

4.
Die Beschwerde gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft wurde am 7. August
2007 eingereicht, d.h. vor über 10 Monaten. Der Schriftenwechsel war am 1.
September 2006 abgeschlossen, mit Ablauf der Frist zur Stellungnahme zur
Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft. Danach passierte nichts mehr; auf die
Anfragen und Mahnungen des Beschwerdeführers hat die Anklagekammer nicht
reagiert. Im bundesgerichtlichen Verfahren hat sie sich für die lange
Behandlungsdauer entschuldigt, unter Hinweis auf den enormen Arbeitsanfall im
vergangenen Jahr und ein weiteres, den Beschwerdeführer betreffendes
Verfahren. Im Hinblick auf das im Strafuntersuchungsverfahren besonders
wichtige Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK)
lässt sich jedoch eine weitere Verzögerung des Entscheids nicht
rechtfertigen.

5.
Die Beschwerde ist daher gutzuheissen, soweit sie nicht gegenstandslos
geworden ist, und die Anklagekammer ist einzuladen, unverzüglich über die
Beschwerde vom 7. August 2006 gegen den Beschwerdeentscheid der
Staatsanwaltschaft zu entscheiden.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens rechtfertigt es sich, keine Kosten zu
erheben und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art.
66 Abs. 4 und Art. 68 BGG). Diese Kostenregelung rechtfertigt sich auch,
soweit die Beschwerde gegenstandslos geworden ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen wird teilweise gutgeheissen und die
Anklagekammer des Kantons Thurgau wird eingeladen, unverzüglich über die
Beschwerde vom 7. August 2006 gegen den Beschwerdeentscheid der
Staatsanwaltschaft vom 25. Juli 2006 zu entscheiden.

Im Übrigen wird die Beschwerde als gegenstandslos abgeschrieben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Thurgau hat den Beschwerdeführer für die Kosten des
bundesgerichtlichen Verfahrens mit Fr. 1'280.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und der
Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. Juni 2007

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: